Wann sich ein Screening lohnt, wann nicht

Hat die Check-up-Untersuchung irgendeinen Sinn?

Lernen
Ausgabe
2016/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01309
Prim Hosp Care (de). 2016;16(14):265-266

Affiliations
Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich

Publiziert am 27.07.2016

In einem Workshop am Kongress der Jungen Hausärzte (JHaS) 2016 in Thun fragten wir uns: Braucht es Check-up-Untersuchungen überhaupt, und wenn ja, woraus bestehen sie sinnvollerweise? Gibt es nützliche Instrumente, die uns die Umsetzung erleichtern? Besteht das Potential, dass sich solche Aktivitäten schädlich auf Patien­ten auswirken können? Checken Sie Ihre eigenen Gewohnheiten dazu, und bringen Sie sich «up to date».

Unsinn

Generieren systematische Untersuchungen zum Zweck der Vorsorge und der Standortbestimmung überhaupt einen Nutzen? Ein Blick in die Literatur zur Evidenz von Check-up-Untersuchungen zeigt uns, dass die Frage sehr wohl berechtigt ist. Eine Cochrane-Review von 2012 [1] mit über 180 000 gepoolten Probanden ergab dazu, dass bei Probanden mit regelmässigen Check-ups Morbidität und Mortalität nicht vermindert waren – weder für kardiovaskuläre noch für maligne Erkrankungen. Dafür stieg die Anzahl neu gestellter Diagnosen an, mitsamt ihrem Potential für (invasive) Folgeuntersuchungen oder psychologische Belastung. Zu einem ähnlichen Resultat kam ein dänisches Forschungsteam zwei Jahre später [2]: Bei 30–60-Jährigen wurden innerhalb von fünf Jahren 2- bis 5-mal ein Check-up und, je nach kardiovaskulärem Risikoprofil, sogar noch zusätzlich eine Lebensstilberatung durchgeführt. Ergebnis bei einer Nachbeobachtungszeit von zehn Jahren: keine Unterschiede für das Auftreten von koronarer Herzkrankheit, Hirnschlag, beides kombiniert oder Tod.
Analog dazu empfehlen die Präventionsspezialisten der US Preventive Services Task Force (USPSTF) [3], dass bei asymptomatischen Probanden mangels Evidenz keine Ruhe- oder Belastungs-EKGs durchgeführt werden sollen, und selbst bei kardiovaskulären Risikoträgern ist der Nutzen umstritten. Dies sollte dem Patienten vor der Untersuchung kommuniziert werden. Ganz anders sieht es wohlgemerkt bei symptomatischen Patienten aus (dann reden wir aber von Abklärungen und nicht mehr von Screening!).

Schaden

Patienten wünschen oft einen Check-up, um sich eine gewisse Sicherheit zu verschaffen. Für ängstlich-hypochondrisch Veranlagte kann das tatsächlich einen Mehrwert bringen, wenn sie sich angesichts normaler Befunde beruhigen lassen. Übersteigertes Sicherheitsbedürfnis führt aber zum Wunsch nach zusätzlichen Abklärungen mit immer feineren Methoden. Damit erhöh­t sich zwangsläufig die Zahl an falsch positiven Befunden mit Folgen wie unnötigen Abklärungen und Therapien: Es resultieren Überdiagnose und Über­behandlung, Verschwendung von Ressourcen und unglückliche Kaskaden mit schädlichen Auswirkungen für den Patienten. Der Glaube an die Macht technischer Untersuchungen (technology trap) heizt solche Forderungen noch zusätzlich an. Leider können wir das mechanistische Bild von Gesundheit nicht wirklich bedienen, wenn Patienten ihren «50 000-Kilometer-Service» wünschen. Ad absurdum geführt ist die Check-up-«Unkultur» schliesslich, wenn sich prevention centers mit doppelt ausgeführten Untersuchungen an finanzkräftigen Kunden gesundstossen.

Sinn

Trotz all dieser Vorbehalte kann der Arzt einen Nutzen aus der Gelegenheit ziehen, mit dem Patienten einmal in Ruhe dessen gesundheitliche Sorgen anzusprechen: Der Patient kommt oft mit einer bisher versteckten Agenda zum Check-up und kann sein Thema nun in diesem offenen Rahmen vorbringen. Wichtig ist also, dass dieser offene Rahmen geschaffen und keine Punkt-für-Punkt-Checkliste abgearbeitet wird. Es lohnt sich zum Beispiel, dem Patienten am Anfang der Konsultation die Frage nach dem Auslöser des Check-up-Wunsches zu stellen und ihn danach ohne Unterbrechung eine bis zwei Minuten reden zu lassen. Die für ihn relevanten Themen, die eine vertiefte Diskussion erfordern, dürften innerhalb dieser kurzen Frist deklariert sein.
Bei der gesundheitlichen Standortbestimmung interessiert ausserdem, ob der Patient bisher unerkannte Risi­ken trägt. Es gehört also auch die Familien­ana­mne­se wieder aufgefrischt und vor allem der Lebensstil beach­tet. Ein Screening nach malignen Krankheiten kann so plötzlich sehr sinnvoll werden, nämlich dann, wenn ein bisher unterschätztes Risiko dafür vorliegt. Logischerweise ist die Bewertung von Risiken stark altersabhängig und damit auch die sinnvollen Untersuchungen dazu.
Ebenso aufzufrischen ist die Übersicht über die Medikation bei älteren Patienten: Stimmen die Indika­tionen noch, sind unangebrachte Medikamente im Einsatz? Traten allergische Reaktionen auf? Sind Impfungen fällig?

Tools

Welche Art von Instrumenten können uns helfen, einen Check-up zu strukturieren? Nützlich sein kann erstens ein Überblick, welche Art von Vorsorge oder Screening in welchem Alter (mit welcher Evidenz) ange­bracht ist, und zweitens eine Anleitung, wie wir Patien­ten zur Änderung ihres Lebensstils motivieren und sie darin unterstützen können. Folgende Tools sind dazu geeignet.
– Die Tabelle des Programms Eviprev, die vom Präventionsteam der Lausanner Poliklinik betrieben wird [4], bietet eine solche Übersicht; deutsche Über­setzungen und eine Verlinkung der Tabelleninhalte sind geplant. Neben verschiedenen Screenings kommen auch kardiovaskuläre Vorsorge, Impfungen und weitere Themen zur Sprache.
– Der Schweizerische Impfplan der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) [5] wird jährlich auf den neuesten Stand der wissenschaftlichen Evidenz gebracht und listet ebenfalls, nach Lebensalter geordnet, die Impfempfehlungen auf.
– Das Harding-Zentrum für Risikokompetenz in Berlin bietet für die Besprechung mit den Patienten sogenannte Faktenboxen [6] an, die verbal, numerisch und grafisch die Eckwerte zu einigen Interventionen oder Screening-Untersuchungen aufzeigen.
– Schliesslich finden Sie auf der Website des KHM-Programms «Gesundheitscoaching» [7] eine Fülle von Instrumenten und Informationen, wie wir Pa­tienten zu gesünderem Lebensstil motivieren und führen können.
Holen Sie mit diesen Tools das Beste aus Ihren Check-ups heraus! Denn mit einer professionellen Gestaltung dieser Gelegenheit stärken Sie zumindest das Vertrauen Ihrer Patienten in Sie als Arzt und eventuell sogar deren Gesundheit.
Dr. med. Stefan Neuner-Jehle, MPH
Institut für Hausarzt-­medizin
Universität Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]
usz.ch
1
2 Torben Jørgensen, et al. BMJ. 2014;348:bmj.g3617
3
4 → professionels de la santé → recommandations de prévention
5 → Empfehlungen → Schweizerischer Impfplan
6 → Gesundheitsinformationen → ­Faktenboxen
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