«Anamnese und Status» bei Schweizer Hausärzten
Work-Force-Studie 2015

«Anamnese und Status» bei Schweizer Hausärzten

Lehren und Forschen
Ausgabe
2016/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01327
Prim Hosp Care (de). 2016;16(15):277-280

Affiliations
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel

Publiziert am 17.08.2016

Etwa ein Jahr nach dem klaren Volks-Ja zur medizinischen Grundversorgung im Jahre 2014 initiierte das Universitäre Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel eine schweizweite Erhebung mit dem Ziel, direkt von den praktizierenden Hausärz­tinnen und Hausärzten aktuelle Daten zu den Arbeitszeiten, Arbeitsgewohnheiten, Motivation, aktuellen und zukünftigen Arbeitspensen sowie Pläne hinsichtlich Pensionierung respektive Praxisaufgabe zu generieren.

Was waren die Fragen?

Bei der Erhebung, die im Mai 2015 begonnen hat, interessierten im Speziellen Fragen wie: Hat sich bei Ihnen in den letzten zehn Jahren die Arbeitszufriedenheit als Hausarzt/Hausärztin* geändert? Gibt es regionale Unterschiede in der Schweiz, zum Beispiel zwischen den verschiedenen Sprachregionen? Welche Praxisstruktur ist das Modell der Zukunft? Was sind die Vorstel­lungen und Wünsche der kommenden Generation an Hausärzten? Wie entwickelt sich die hausärztliche Versor­gung («Work Force») in den kommenden 10 bis 20 Jahren?
Die Studie – unterstützt von Haus- und Kinderärzte Schweiz (mfe) – hatte den Titel «Work Force Hausarztmedizin 2015» und war die logische Fortsetzung der ersten beiden Work-Force-Erhebungen aus dem Jahre 2005 und 2010 des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Basel (uniham-bb). Die aktuelle Erhebung und die Studien von 2005 respektive 2010 wurden mit einem sehr ähnlichen Fragebogen durchgeführt, was die Möglichkeit eröffnete, Entwicklungen und Veränderungen im zeitlichen Verlauf zu untersuchen.
Die für Schweizer Hausärzte repräsentative Erhebung erfolgte bei insgesamt 1300 Hausärzten (Kinderärzte wurden nicht befragt) aus allen Sprachregionen und Landesteilen und lieferte aufschlussreiche und entscheidende Daten zur Entwicklung der hausärztlichen Versorgung in den nächsten Jahren. Im Folgenden werden die wichtigsten Erkenntnisse dieser «Anamnese- und Statuserhebung» bei Schweizer Hausärzten zusammengefasst.

Wie entwickelte sich die Arbeitszufriedenheit der Hausärzteschaft seit 2005?

Die aufgrund des Masterplans nach der Volksabstimmung «Ja zur Hausarztmedizin» getroffenen Massnahmen scheinen Wirkung zu zeigen. Im Jahre 2005 gab noch etwa die Hälfte (55%) der Befragten auf die Frage «Wie zufrieden sind Sie, wenn Sie Ihre Arbeitssituation insgesamt betrachten?» an, ziemlich, sehr oder ausserordentlich zufrieden mit ihrer hausärztlichen Tätigkeit zu sein. In der aktuellen Befragung ist dieser ­Anteil auf 75% gestiegen (Abb. 1). Der Prozentsatz der Hausärzte, der zufrieden bzw. unzufrieden ist mit der Arbeitssituation, unterscheidet sich weder durch das Geschlecht, den Praxistyp noch bezüglich Sprache (p >0,05). Zudem wurde kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der Arbeitssituation und dem Alter gefunden. Die Arbeitszufriedenheit der Schweizer Hausärzteschaft hat sich somit in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert. Dieses Resul­tat ist sehr erfreulich und scheint der Lohn für die breitgefächerten Aktivitäten der letzten Jahre von Hausärzten auf dem standespolitischen Parkett zu sein.
Abbildung 1: Proportionale Verteilung der Antworten auf die Frage:
«Wie zufrieden sind Sie, wenn Sie Ihre Arbeitssituation insgesamt betrachten?»
Der Durchschnittswert aus dem Jahre 2005 auf die gleiche Frage war 4,4.

Welcher Praxistyp wird sich in Zukunft durchsetzen?

Die Zahl der Einzelpraxen ist zwischen 2005 und 2015 um einen Drittel zurückgegangen, während sich die Zahl der Gruppenpraxen fast verdreifacht hat (Tab. 1). Eine zeitgleiche Befragung unter den angehenden und jungen (Praxistätigkeit <5 Jahren) Hausärzten (Junge Hausärzte Schweiz, JHaS) durch das Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern bestätigt diese Entwicklung [1]. Die junge Generation will in Gruppen­praxen arbeiten und wünscht sich mehrheitlich, auf dem Land oder in der Agglomeration tätig zu sein. Nur 17% zieht es in die Stadt.
Tabelle 1: Proportionale Verteilung der verschiedenen Praxistypen bei n = 1299 Schweizer Hausärztinnen und Hausärzten aus allen Sprachregionen, verglichen mit den historischen Daten aus der Work-Force-Studie 2005.
 20052015
Einzelpraxis59,8%40,8%
Doppelpraxis27,8%27,0%
Gruppenpraxis12,4%32,2%
Ein in persönlichen Gesprächen mit jungen Hausärzten häufig erwähntes Argument für die Arbeit in einer Gruppenpraxis ist die Möglichkeit des fachlichen und persönlichen Austausches. Beim Schritt in die Selbständigkeit spielt auch die finanzielle Last der angebotenen Dienstleistungen wie beispielsweise des Praxislabors und Röntgens eine wichtige Rolle. Die Fixkosten in der Gruppenpraxis können auf mehrere Schultern verteilt werden. Auch Überlegungen im Zusammenhang mit der Organisation von Notfalldiensten oder Ferienvertretungen sind den jungen Hausärzten wichtig. Die Gruppenpraxis ist hier hinsichtlich Arbeits­planung entscheidend flexibler und somit vorteilhaft hinsichtlich der Work-Life-Balance, die für die kommende Generation von Hausärzten zentral ist. Das ­optimale Arbeitspensum ist gemäss den befragten Nachwuchs-Hausärzten im Schnitt rund 70% (Frauen 60–70%, Männer 75–80%). Die Gruppenpraxis bietet auch die Möglichkeit, dass Patienten, die eine dring­liche Konsultation benötigen, vom in der Praxis anwesenden Kollegen betreut werden können, der Zugang zu den (elektronischen) medizinischen Akten hat. Der Patient kann in Gruppenpraxen die benötigte medizinische Hilfe somit mehrheitlich in seiner Praxis er­halten; der (teurere) Umweg zum Beispiel über eine ­Notfallstation kann so häufig verhindert werden. Als Klammerbemerkung sei erwähnt, dass in der Work- Force-Studie die elektronische Krankengeschichte mit 39,3% die am häufigsten verwendete Art der Patientendokumentation war. Etwa ein Viertel (26,6%) der befragten Hausärzte verwendeten Krankengeschichten sowohl in Papier- als auch in elektronischer Form, und ein Drittel (34,1%) benutzte Krankengeschichten nur in Papierform.

Wie gestaltet sich die Altersentwicklung der Schweizer ­Hausärzteschaft?

Der Anteil von Hausärzten rund um die Pensionierung ist in den letzten zehn Jahren weiter angestiegen. Im Jahre 2005 waren die meisten Hausärzte zwischen 
45 und rund 60 Jahren alt, das Durchschnittsalter ­betrug 51 Jahre (Männer 52, Frauen 48 Jahre). Heute liegt der Altersdurchschnitt bei knapp über 55 Jahren ­(Männer 57, Frauen 50,5 Jahre). Eine weitere wichtige Erkenntnis aus den erfassten Daten ist die Tatsache, dass 15% der aktuellen hausärztlichen Arbeit (Work Force) von Ärzten im Alter von über 65 Jahren erbracht wird. Knapp die Hälfte der befragten Hausärzte gab an, die Praxistätigkeit über das Alter 65 hinaus fortsetzen und mit einem durchschnittlichen Alter von knapp 70 Jahren die Praxis aufgeben zu wollen. Diese Zahlen haben sich seit 2005 fast verdoppelt.

Wie ist die Prognose für die Entwicklung der hausärztlichen Versorgung?

In England konnte nachgewiesen werden, dass mehr Hausärzte pro 10 000 Einwohner eine tiefere Hospitalisationsrate zur Folge haben [2]. Für eine optimale medizinische Grundversorgung, das heisst optimale Kos­teneffizienz und niedrigste Krankheitsentwicklung und Sterblichkeit, braucht es gemäss internationalem Standard der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) einen Hausarzt oder eine Hausärztin auf 1000 Einwohner [3, 4]. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird gemäss den Angaben der ­befragten Hausärzte ein Verlust an Arbeitszeit (Work Force) der heute tätigen Hausärzte von 60% anfallen. Bis 2020 werden deswegen weitere 2000 neue Vollzeit-Hausärzte benötigt, nur um den zu erwartenden Verlust an Arbeitszeit der heute tätigen Hausärzte zu kom­­pensieren. Bis 2025 sind es sogar über 4000. Wird neben den Pensionierungen der jetzt tätigen Hausärz­te auch die Bevölkerungsentwicklung mitberücksichtigt und angenommen, dass 20% (was einer optimistischen Annahme entspricht) der Medizinstudierenden (bei 1250 Studienabgängern pro Jahr ab 2021) sich für die Hausarztmedizin entscheiden, ist in zehn Jahren eine Versorgungslücke von 60% respektive von über 5000 Vollzeit-Hausärzten zu schliessen (Abb. 2).
Abbildung 2: Bedarf an neuen Vollzeit-Hausärzten. Y-Achse: prozentualer Anteil 
einer optimalen Versorgung (Work Force) gemäss dem OECD-Standard 
(1 Hausarzt auf 1000 Einwohner) [3, 4].
*Heute fehlende Vollzeit-Hausärzte. Rote Kurve: inklusive Studienabgänger 
(2017: n = 1040; 2018: n = 1100; 2019: n = 1160; 2020: n = 1220; ab 2021: n = 1250 pro Jahr), inklusive Bevölkerungsentwicklung [7] und Berücksichtigung der Arbeitsvorstellungen der jungen Hausärzte [1].

Und nun?

Die «Work-Force-Studie 2015» zeigt, dass es schnelle ­Lösungen braucht, um die aktuelle und vor allem die künftige Sicherstellung der medizinischen Grundversorgung / Hausarztmedizin zu gewährleisten. Kurzfristig sind deshalb pragmatische Lösungen (mehr Studienplätze, mehr hausärztlicher Unterricht während des Studiums, finanziertes Mentoring für Weiterbildung zum Hausarzt, Ausbau des Angebots an Praxisassistenzstellen, attraktive[re] Abgeltung) gefragt, die auch längerfristig neue Perspektiven schaffen können.
Der eigene Nachwuchs muss weiter gefördert werden, zum Beispiel durch eine weitere Erhöhung der Studie­­rendenzahlen (Verdoppelung). Finanziell muss un­­be­dingt sichergestellt werden, dass die Praktika in ­Lehr-­Hausarztpraxen während des Studiums auch bei Erhöhung der Zulassungen zum Medizinstudium wei­tergeführt werden können. In diesen Hausarztprakti­ka (zum Beispiel dem Einzeltutoriat an der Universität Base­l) erfahren die Studierenden eine entscheidende Erweiterung und Festigung, sowohl ihres medizinischen Fachwissens als auch ihrer praktischen, diagnostischen und therapeutischen sowie kommunikativen Fertigkeiten. Diese Skills kommen in der weiteren ärztlichen Karriere entscheidend zum Tragen, ­unabhängig davon, ob später eine haus- oder spitalärztliche Richtung eingeschlagen wird. Das theoretische Wissen wird am Patienten angewandt und bleibt dadurch bedeu­tend besser präsent, da es mit einer konkreten Patientensituation verknüpft werden kann.
Ein weiterer Eckpfeiler zur Förderung des hausärztlichen Nachwuchses ist ein schweizweites Angebot von Weiterbildungscurricula für angehende Hausärzte. Das übergeordnete Ziel ist, interessierten Assistenz­ärzten ein massgeschneidertes Weiterbildungscurriculum zum Hausarzt zu ermöglichen. Diese Curricula sollen ein effizientes Durchlaufen der Weiterbildungszeit ermöglichen, ohne grossen Zeitverlust zwischen zwei Weiterbildungsstellen und ohne dass grosse Wechsel des Arbeitsortes (inklusive Wohnungswechsel) nötig sind.
Eine zentrale Rolle in der Weiterbildung zum Facharzt Allgemeine Innere Medizin nehmen die sogenannten Praxisassistenzen ein, die ein Teil der Weiterbildung zum Hausarzt sein müssen. Während einer Praxis­assistenz arbeiten junge Assistenzärzte in einer Hausarztpraxis und erlangen die für die hausärztliche ­Tätigkeit entscheidenden klinischen und auch organisatorischen Fähigkeiten, die nur in diesem Umfeld ­gelehrt und vermittelt werden können. Die Praxis­assistenz ist zudem ein zentral wichtiger Teil der Weiterbildung zum Facharzt Allgemeine Innere Medizin hinsichtlich der klinischen Entscheidungsfindung und -sicherheit. Die kantonale Mitfinanzierung der Praxis­assistenz ist unabdingbar, da Kosten und Aufwand für eine durchschnittliche Grundversorgerpraxis nicht tragbar sind, da die Patientenzahlen bei diskontinuierlicher Stellenbesetzung nicht beliebig gesteigert und wieder reduziert werden können.
Es gibt viel zu tun, packen wir’s an! Nur so kann die Hausarztmedizin auch in Zukunft ihre eminent ­wichtige Rolle in unserer Gesundheitsversorgung auf einem Topniveau wahrnehmen.
Prof. Dr. med. Andreas Zeller MSc
Universitäres Zentrum
für Hausarztmedizin
beider Basel
Rheinstrasse 26
CH-4410 Liestal
andreas.zeller[at]unibas.ch
1 Personal communication Dr. med. Sven Streit, Institut für Hausarztmedizin Bern.
2 Gulliford MC, J Public Health Med. 2002;24:252–4.
3 OECD, WHO. OECD Reviews of Health Systems: Switzerland 2011. 2011.
4 Hodel M. OECD-Review 2011: Die wichtigsten Empfehlungen der OECD für den Bereich Gesundheitsberufe. Schweizerische Ärztezeitung. 2012;93(17):619–21.
5 Halter U, Tschudi P, Bally K, Isler R. Berufsziel von Medizinstudierenden. PrimaryCare. 2005;5(20):468–72.
6 Marty F, König U, Sutter J, Betschart M. Motivation junger Ärzte, Grundversorger zu werden. PrimaryCare. 2007;7(3):50–3.
7 Kohli R. Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2015–2045. Bundesamt für Statistik Schweiz (BfS). 2015.