Überlegungen einer jungen Hausärztin

Klinische Forschung in der Hausarztpraxis

Lehren und Forschen
Ausgabe
2016/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01328
Prim Hosp Care (de). 2016;16(17):319-322

Affiliations
a Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, Hausärztin in einer Gruppenpraxis in Liestal, Baselland, ­Vizepräsidentin Junge Hausärztinnen und -ärzte Schweiz, JHaS; b Leiter Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern, Hausarzt in einer ­Doppelpraxis in Luzern; c Leiter Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, Hausarzt in einer Gruppenpraxis in Basel

Publiziert am 14.09.2016

Was sind die Herausforderungen, was die Chancen der Forschung in der Hausarztmedizin? Dieser Artikel liefert eine allgemeine und eine persönliche Antwort auf diese Frage.
Als junge Hausärztin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitären Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel (uniham-bb) liegt der Autorin eine attraktive und qualitativ hochstehende Hausarztmedizin am Herzen. Anhand eines konkreten Forschungsprojekts soll im Folgenden ein allgemeiner und persönlicher ­Einblick in die Herausforderungen und Chancen der Forschung in der Hausarztmedizin gegeben werden.
90% aller medizinischen Behandlungen finden in der hausärztlichen Praxis statt. Klinische Forschung ist ­jedoch noch immer zum grössten Teil an die grossen –meist universitären – Zentrumsspitäler gebunden. Die so generierte klinische Evidenz bildet jedoch oft nicht die Realität in der Hausarztpraxis ab. Zu sehr unterscheiden sich Fragestellungen, Problemfelder, Populationen, mögliche Mittel, Umsetzbarkeit und Methoden im ambulanten und stationären Setting.
Klinische Forschung in der Praxis und für die Praxis ist ­jedoch Voraussetzung für eine zeitgemässe, qualitativ hochstehende, den Standards der Evidence-based-medicine verpflichtete Hausarztmedizin, die dem Anspruch der Grundversorgung auf höchstem Niveau gerecht werden will [1]. Doch wie gelingt klinische Forschung in der Hausarztpraxis? Wie unterscheidet sich klinische Forschung in der Praxis von derjenigen im Spital-Setting, was verbindet sie?

Forschung in der Hausarztmedizin: 
eine dringende Notwendigkeit

Wieso werden klinische Guidelines in der Hausarztpraxis nicht immer umgesetzt? Die Antwort auf diese Frage ist vielfältig: Vorerst ist die Übertragung von Resultaten aus Studien mit hochselektionierten Spitalpatienten auf die oft multimorbiden Patienten in der Hausarztpraxis nicht nur nicht praktikabel, sondern kann unter Umständen gar die Mortalität steigern [2, 3]. Weiter fällt in der Hausarztmedizin der sogenannte Evidence-Performance-Gap stärker ins Gewicht als in anderen Fachgebieten [4]. Dies nicht infolge fehlendem (haus-)ärzt­lichem Wissen, sondern als Folge der Kluft zwischen klinischer Evidenz und deren täglichen Umsetzbarkeit in der individuellen Arbeit mit dem Patienten, was die Kunst des hausärztlichen Handelns darstellt (Haltung, Risiko/Nutzen-Abwägung, Einschätzung der Compliance). Dank hausarztspezifischer Forschung mit reellem Bezug zum Praxisalltag, das heisst mit Einschluss von multimorbiden, polypharmazierten Pa­tienten, und mit spannenden, praxisrelevanten Fragestellungen muss versucht werden, diesen Gap zu verringern.
Auch wenn die Forschung in der Hausarztmedizin in der Schweiz im internationalen Vergleich (z.B. in den Niederlanden oder in Grossbritannien) noch aufholen muss, konnte sich hierzulande in den letzten Jahren eine reiche, zukunftsorientierte, und an Qualität zunehmende Forschungsbewegung etablieren.
Im Zuge dieser Entwicklung wird aktuell in Zusammenarbeit mit den beiden Hausarztinstituten beider Basel (uniham-bb) und Luzern (IHAM&CC) sowie der medizinischen Universitätsklinik in Liestal eine grosse klinische Interventionsstudie mit über hundert involvierten Hausärzten durchgeführt. Der Titel dieser Studie lautet «Reduction of corticosteroid use in outpatient treatment of exacerbated COPD – a randomized, double-blind, non-inferiority study» (RECUT).

RECUT-Studie – eine klinische Studie 
«aus der Praxis, für die Praxis»

Am Anfang der Überlegungen stand die REDUCE-Studie [5], die bei hospitalisierten Patienten mit COPD-Exazerbationen zeigen konnte, dass die Steroidtherapie von 14 auf 5 Tage reduziert werden kann ohne Änderung des klinischen Outcomes. Doch wie gestaltet sich die Übertragbarkeit dieser Resultate auf ein ambulantes Patientenkollektiv in der Hausarztpraxis? Lassen sich diese ­Ergebnisse eins zu eins auch auf Hausarztpatienten ­anwenden? Kann die Steroiddosis bei nicht hospitalisationsbedürftigen Patienten in der Hausarztpraxis mit COPD-Exazerbation eventuell sogar noch weiter gesenkt werden?
Die RECUT-Studie untersucht nun die Nicht-Unterlegenheit von 3 Tagen Prednison 40 mg versus 5 Tagen bei ambulanten Patienten in der Hausarztpraxis. Kantonsübergreifend arbeiten über hundert Hausärzte, zwei Hausarztinstitute sowie eine medizinische Universitätsklinik zusammen. Die Studie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds als relevant eingestuft und entsprechend unterstützt. Nicht nur die Bestätigung der Hypothese mit potenziellen Anpassungen der praktischen Guidelines zur ambulanten Behandlung der COPD (analog REDUCE-Studie für den stationären Bereich), sondern auch die erfolgreiche Durchführung ­einer solchen Studie wäre für die (Schweizer) Hausarztmedizin von grosser Bedeutung.

Forschende Hausärzte

Trotz des dicht bepackten hausärztlichen Alltags konnten viele forschungsinteressierte Hausärzte für die Mitarbeit gewonnen werden. Nahezu 100 Hausärzte in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Luzern und ­Obwalden beteiligen sich aktiv an der RECUT-Studie. Sie rekrutieren, behandeln und dokumentieren in ihrer Praxis eigene, in die Studie eingeschlossene COPD-
Patienten und übermitteln die Daten an das Studienzentrum in Liestal. Follow-up-Telefonate werden zentral von einem kleinen Studienteam im Kantonsspital Basel­land bewältigt.
Zur Generierung statistisch signifikanter Resultate sind in dieser randomisierten doppel-blind kontrollierten Studie insgesamt 470 Patienten Voraussetzung. Die ­Rekrutierung letzterer stellt trotz den zahlreich mit­wirkenden Hausärzten eine grosse Herausforderung dar: Aufgrund des sehr milden Wetters kam es im Winter 2015/2016 zu weniger COPD-Exazerbationen als angenommen, so dass seit Jahresbeginn 2016 zusätzlich Hausärzte der Kantone Aargau und Solothurn mitein­bezogen wurden. Auch der Einschluss eines Patienten im Rahmen einer Notfall-Konsultation ist eine Hürde.
Die Motivation der Hausärzte, sich als Prüfärzte an der Studie zu beteiligen, war hauptsächlich die Steigerung der Behandlungsqualität ihrer Patienten. Mit ihrem ­Engagement können sie sich gleichsam an der Generierung von hausarztspezifischer Evidenz beteiligen und praxisrelevante Guidelines beeinflussen. Zudem wird die Zusammenarbeit mit den Instituten für Hausarztmedizin als äusserst positiv hervorgehoben. Das ist umso wichtiger, da die Forschung in der Hausarztmedizin im Vergleich zu spitalbasierten klinischen Studien sehr dezentral stattfindet.

Besonderheiten bei der Durchführung einer klinischen Studie in der Hausarzt­praxis am Beispiel der RECUT-Studie

Zeitliche Belastung

Ziel war es, die Hausärzte zeitlich möglichst wenig zu belasten; dementsprechend kurze, prägnante Frage­bögen zu entwickeln war alles andere als trivial. Auch die Vorgaben des Ethikommitees und der Clinical Trial Unit haben nicht zu einer Vereinfachung des Ablaufes der Rekrutierung bzw. Datengenerierung beigetragen. Man muss sich aber bewusst sein, dass eine Vorgehensweise nach den Regeln der Wissenschaft verlässlichere Resultate ergibt.

Vertrauliche Arzt-Patientenbeziehung

Das zwingend notwendige Patienteneinverständnis ­(informed consent) in der RECUT-Studie ist für den akut kranken Patient wie auch für den behandelnden Hausarzt in der oft zwischen zwei Termine geschobenen ­Notfallkonsultation eine grosse Herausforderung. Dank dem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Hausarzt ist dies mit einer kurzen, patientenverständlichen Aufklärung aber praktikabel.

Entschädigung der Hausärzte für ihre Mitarbeit

Hausärzte sind – im Gegensatz zu den meisten Spitalärzten – als Unternehmer selbstständig erwerbend und können in der Regel nur Leistungen via TARMED verrechnen. Für ihre Zusatzbelastung als Prüfarzt erhalten sie je nach Finanzierungs-Hintergrund eine unterschiedliche Entschädigung. In der RECUT-Studie bemisst sich diese auf 150 CHF/Patient. Es konnte zudem erreicht werden, dass die durch die Studienbeteiligung gewonnene Erfahrung und Fortbildung mit Credit Points der Fachgesellschaft SGAIM anerkannt werden.

Grosse Heterogenität der Hausarztpraxen

Hausärzte und ihre Praxen sind äusserst unterschiedlich, was auch der Heterogenität der Patienten und der Gesellschaft entspricht. Eine Studie mit vielen unterschiedlichen Partnern sowie unterschiedlichen Praxis­strukturen durchzuführen, wird eine grosse Heraus­forderung bleiben. Das breite Spektrum ist aber auch bereichernd und stimuliert weitere Forschungsfragen.

Grosses zukünftiges Potenzial

Eine gute Zusammenarbeit zwischen den Hausarzt­instituten auf nationaler Ebene erschliesst neue Forschungsressourcen und liefert die erforderlichen hohen Fallzahlen, um auch über die Landesgrenzen hinaus aussagekräftige Resultate zu erzielen. Die Forschung in der Hausarztmedizin liefert uns die notwendige Evidenz für den Alltag, bereichert unsere klinische Praxis­tätigkeit am Patienten und gibt der jungen Hausärztegeneration die Möglichkeit einer akademischen Karriere.

Ihre aktive Mitarbeit

Haben wir Ihr Forschungs-Interesse geweckt? Es gibt diverse Projekte der Institute für Hausarztmedizin, bei denen Ihre Mitarbeit ein wichtiger Beitrag sein kann. Haben Sie Themen, Fragen oder Anregungen für zukünftige Forschungsprojekte? Melden Sie sich bei Ihrem Hausarztinstitut der Region.

Fazit für die Praxis

– Klinische Forschung in der Hausarztpraxis ist die Grundlage einer qualitativ hochstehenden Hausarztmedizin, verringert den Evidence-Performance-Gap und erhöht die Attraktivität für den Hausärztenachwuchs.
– Eine aktive Beteiligung der Hausärzte an der klinischen Forschung ist für unser Fach zukunftsweisend und unabdingbar, und beinhaltet eine neue wertvolle Art der Vernetzung.
– Diese wissenschaftliche Vernetzung ist als Bereicherung und Ergänzung der guten täglichen Zusammenarbeit von Hausärzten untereinander und mit den Spezialisten und Spitalmedizinern (gemein­samer Behandlungspfad) zu verstehen; dies zum Wohle unserer Patienten.
Literatur
Prof. Dr. med.
Andreas Zeller, MSc
Universitäres Zentrum
für Hausarztmedizin
beider Basel
Rheinstrasse 26
CH-4410 Liestal
andreas.zeller[at]unibas.ch