Bedeutung der Vortestwahrscheinlichkeit im Praxislabor

Allgemeine und labormedizinische Stolpersteine im klinischen Alltag

Lernen
Ausgabe
2016/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01330
Prim Hosp Care (de). 2016;16(15):285-288

Affiliations
a Labormedizinisches Zentrum Dr. Risch, Liebefeld; b Innere Medizin FMH, St. Gallen

Publiziert am 17.08.2016

Im vorliegenden Artikel werden Fälle eines Workshops, der im Rahmen der Swiss Fam­ily Docs Conference stattgefunden hatte, vorgestellt. Diese haben das Ziel, häufi­ge und labormedizinische Stolpersteine in der Praxis im Allgemeinen und das Zusam­menspiel zwischen Vortestwahrscheinlichkeit und prädiktiven Werten im Speziellen aufzuzeigen.

Vortestwahrscheinlichkeit und Diagnose

Laborparameter des Praxislabors erlauben unter anderem eine effiziente Versorgung von Patienten, die sich mit medizinischen Problemen in der Grundversorgerpraxis melden. Mittels einer qualitätsgesicherten ­Analytik ist es möglich, zusammen mit klinischen ­Informationen Wahrscheinlichkeiten für das Vorhandensein einer Erkrankung zu erhalten. Man muss dabei sowohl die Charakteristika des eingesetzten Tests als auch die Vortestwahrscheinlichkeit der Krankheit bei einem Patienten kennen, um eine ­Erkrankung ein- oder ausschliessen zu können.
Die Wahrscheinlichkeit, mit der das Vorhandensein eine­r Krankheit ausgeschlossen oder nachgewiesen wird, kann in der Form von negativ (im Falle des Ausschlusses) und positiv (im Falle des Nachweises) prädiktiven Werten (NPV resp. PPV) angegeben werden. Der Zusammenhang zwischen Vortestwahrscheinlichkeit und prädiktiven Werten lässt sich mittels Formeln, die auf dem Bayes-Theorem beruhen, angeben (Tab. 1) [1].
Tabelle 1: Formeln für die Berechnung von negativ und positiv prädiktiven Werten.
Positiv prädiktiver Wert (PPV):
Vortestwahrscheinlichkeit × Sensitivität × 100
PPV =
Vortestwahrscheinlichkeit × Sensitivität + (100 – Vortestwahrscheinlichkeit ) × (100 – Spezifität)
Negativ prädiktiver Wert (NPV):
(100 – Vortestwahrscheinlichkeit ) × Spezifität × 100
NPV =
(100 – Vortestwahrscheinlichkeit) × Spezifität + Vortestwahrscheinlichkeit × (100 – Sensitivität)
Dabei wird klar ersichtlich, dass die prädiktiven Werte sowohl von den Testcharakteristika Spezifität und Sensi­tivität (Angabe jeweils in Prozent) als auch von ­Patientencharakteristika, die als Vortestwahrscheinlichkeit erfasst werden, abhängen. Die Vortest­wahr­scheinlichkeit kann empirisch mittels klinischer Erfah­rung oder standardisierter Scores in Prozent geschätzt werden.
Aus den Formeln wird klar, dass je höher die Vortestwahrscheinlichkeit, umso höher der prädiktive Wert des positiven Resultats (PPV). Ein hoher PPV ist für ein sogenanntes «rule in» einer Diagnose geeignet. Umgekehrt gilt, je niedriger die Vortestwahrscheinlichkeit, umso höher der prädiktive Wert des negativen Test­resultats (NPV). Ein hoher NPV eignet sich für ein so­genanntes «rule out», das heisst den Ausschluss einer Diagno­se. Je spezifischer ein Test, umso höher der prädiktive Wert des positiven Resultats. Letztlich steigt der prädiktive Wert eines negativen Resultats mit zunehmender Sensitivität eines Labortests.
Die Zusammenhänge zwischen allen möglichen Vortestwahrscheinlichkeiten (von 0–100%) auf der x-Achse und alle damit verbundenen Nachtestwahrscheinlichkeiten, ausgedrückt als NPV und PPV, auf der y-Achse, sind für einen Test mit einer Sensitivität von 95% und einer Spezifität von 40% in Abbildung 1 aufgezeigt. Dabei handelt es sich um Testcharakteristika, die zum Beispiel ein guter D-Dimer-Test aufweist. Die Abbildung zeigt, dass sich der PPV bei einem positiven Testresultat nur unwesentlich von der Vortestwahrscheinlichkeit unterscheidet. Deshalb kann ein posi­tives D-Dimer-Testresultat für einen Nachweis eines thromboembolischen Geschehens als nutzlos gelten. Ganz anders präsentieren sich die Zusammenhänge bei einem negativen Resultat: Die NPV bleiben bis zu einer Vortestwahrscheinlichkeit von 30% über einem Wert von 95%. Das heisst, dass ein thromboembolisches Geschehen bei Patienten mit einer Vortestwahrscheinlichkeit bis 30% (entsprechend einer niedrigen und mittleren Vortestwahrscheinlichkeit) und einem negativen ­D-Dimer-Resultat mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 95% ausgeschlossen werden kann [2]. Diese Zusammenhänge gelten auch für alle anderen Labortests. Es ist deshalb wichtig festzuhalten, dass eine valide Interpretation von Laborresultaten lediglich in Kenntnis von sowohl Patienten- als auch Testcharakteristika geschehen kann.

Fallbeispiel 1

Eine 35-jährige Frau präsentiert sich nach einer sechsstündigen Flugreise mit akut aufgetretenen Schmerzen in der Wade links. Sie hat keine Massnahmen zur Prophylaxe venöser Thromboembolien (VTE) unternommen. Anamnese und klinische Untersuchung liefern einen Wells-Score von 4 Punkten, was einer hohe­n Vortestwahrscheinlichkeit (75–85%) entspricht. Der Assistenzarzt im Notfalldienst des Bezirksspitals hat aufgrund eines negativen D-Dimer-Resultats ein thromboembolisches Ereignis ausgeschlossen und die Patientin mit nichtsteroidalen Antirheumatika nach Hause entlassen. Vier Tage später präsentiert sich die Patientin ­erneut auf dem Notfall mit Dyspnoe und Thoraxschmerzen, die in der Folge als Lungenembolie diagnostiziert und behandelt werden.
Bei diesem Fall wird deutlich (vgl. auch Abb. 1), dass bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit für eine tiefe Beinvenenthrombose selbst ein guter D-Dimer-Test keine ausreichenden NPV (50–80%) für einen sicheren ­Ausschluss der Diagnose ermöglicht.
Bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit kann deshalb generell auf ­einen D-Dimer-Test verzichtet und umgehend bildgebende Diagnostik zur weiteren Abklärung veranlasst werden.
Abbildung 1: Positiv und negativ prädiktive Werte für einen Test mit einer Sensitivität von 95% und Spezifität von 40% 
in Funktion aller möglichen Vortestwahrscheinlichkeiten im Bereich von 0–100%.

Fallbeispiel 2

Ein 80-jähriger Pensionist präsentiert sich mit seit drei Tagen bestehenden rechtsseitigen atemabhängigen Thoraxschmerzen und leichter Anstrengungsdyspnoe beim Hausarzt. Die Vorgeschichte zeigt eine tiefe Beinvenenthrombose vor zehn Jahren. Zum Ausschluss einer Lungenembolie (LE) erhebt der Hausarzt den Wells-Score, der mit 1,5 Punkten eine niedrige Vortestwahrscheinlichkeit (entsprechend 5–13%) anzeigt. Zudem wird im Praxislabor umgehend ein D-Dimer-Test durchgeführt, der ein Resultat von 700 µg/l (Hersteller-cut-off für Ausschluss VTE <500 µg/l) ergibt. Der Patient wird einer bildgebenden Diagnostik zugewiesen, die eine LE ausschliessen konnte.
D-Dimere sind unter verschiedensten Umständen in erhöhten Mengen nachweisbar, so zum Beispiel bei Entzündungen oder Verletzungen nach Chirurgie. Aber – und das ist sehr wichtig, da die Inzidenz der VTE im Alter am höchsten ist – auch im Alter. So haben bei gesunden 80-Jährigen nur rund 10% D-Dimer-Werte <500 µg/l, bei 90% liegen höhere Werte vor. Dies bedeutet, dass die Spezifität eines D-Dimer-Tests bei einem herkömmlichen Cut-off von <500 µg/l bei älteren Leuten wesentlich tiefer ist als bei jüngeren Personen. Studien konnten zeigen, dass bei über 50-jährigen ­Personen mit Verdacht auf VTE die Spezifität eines ­D-Dimer-Tests bei erhaltener Sensitivität erhöht werden kann, wenn altersspezifische Cut-offs nach folgender Formel berechnet werden:
Entscheidungsgrenze (Cut-off) D-Dimer = Alter × 10 (in μg/l)
Dies ermöglicht, dass bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit das Ereignis einer VTE mit altersadaptierten Cut-offs sicher ausgeschlossen werden kann [3, 4]. Beim vorliegenden Patienten mit niedriger ­Vortestwahrscheinlichkeit wäre der altersadaptierte D-Dimer-Cut-off bei <800 µg/l gelegen. Wäre nicht der vom Hersteller angegebene, sondern der altersadaptierte Cut-off verwendet worden, hätte ein VTE sicher ausgeschlossen werden können.
Bei älteren Personen sollte eine D-Dimer-Testung nur bei einer niedrigen Vortestwahrscheinlichkeit und mit altersadaptierten Cut-offs vorgenommen werden [5].

Frequenz von Kontrollen

Fallbeispiel 3

Bei einem 57-jährigen Patienten mit Malaise und ­Gewichtsverlust wird bei einer Nüchternglukose von 14,8 mmol/l sowie einem HbA1c von 9,7% ein Typ-2-Diabetes mellitus diagnostiziert [6, 7]. Vier Wochen nach einer Diätberatung wird das HbA1c kontrolliert und beträgt 9,4%. Daraufhin wird mit Metformin begonnen. Nach weiteren sechs Wochen wird ein HbA1c von 8,7% gemessen. Es wird eine mangelnde Kontrolle angenommen und zusätzlich Sulfonylharnstoff verordnet. Zwei Wochen nach der Einführung des Sulfonylharnstoffs kollabiert der Patient bei der Arbeit, wobei eine Hypoglykämie von 2,3 mmol/l festgestellt wird. Der Sulfonylharnstoff wurde daraufhin abgesetzt. Eine Kontrolle nach zwei Monaten zeigte eine gute Einstellung mit einem HbA1c von 7%. Hypoglykämien wurden keine mehr festgestellt.
Veränderungen im Therapieplan wurden in diesem Fall basierend auf der HbA1c-Einstellung vorgenommen. Allerdings wurde bei diesem Patienten nicht beachtet, dass das HbA1c lediglich das gewichtete Blut­glukosemittel der vergangenen drei Monaten valide reflektieren kann. Wird vorher gemessen, sind die HbA1c-Werte bei Veränderung der glykämischen Kon­trolle immer noch in Bewegung. Wäre für die Bestimmung drei Monate anstatt vier oder sechs Wochen gewar­tet worden, hätten sich tiefere HbA1c-Werte gezeigt; die Einführung des Sulfonylharnstoffs wäre nicht nötig gewesen, der Kollaps hätte verhindert werden können.
Es wird empfohlen, bei HbA1c-Kontrollen ausreichend lange (drei Monate) Intervalle einzuplanen [8].
Prof. Dr. Lorenz Risch, MPH
Facharzt für Innere Medizin FMH
Facharzt für medizinische und chemische Labor­diagnostik
Waldeggstrasse 37
CH-3097 Liebefeld
lorenz.risch[at]risch.ch