Muss Alter schmerzhaft sein?
Ein vielschichtiges Problem, packen wir es an!

Muss Alter schmerzhaft sein?

Lernen
Ausgabe
2016/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01344
Prim Hosp Care (de). 2016;16(18):344-350

Affiliations
Felix Platter-Spital, Basel

Publiziert am 28.09.2016

Die Schmerzgenese ist im Alter meist multifaktoriell, ohne «ausreichendes» Korrelat. Schmerzfreiheit ist beim chronischen Schmerz nicht primäres Ziel, vielmehr müssen wir versuchen, dem Patienten wieder die Kontrolle über sein Leben zurückzugeben. Dabei ist die pharmakologische Analgesie die häufigste Grundlage ­einer Schmerztherapie.
«Ein Indianer kennt keinen Schmerz!» Dieser Ausspruch an sich tut schon weh, denn Schmerzerfahrung gehört zum menschlichen Dasein. Der akute Schmerz, als «bellender Wachhund» unseres Körpers macht Sinn. Was aber, wenn die Schmerzen nicht mehr weggehen, sich verselbständigen und Körper und Geist an die Grenze der Kompensationsfähigkeit führen? Chronische Schmerzen sind durch eine pragmatische Mindestdauer von drei (bis sechs) Monaten definiert. Gemäss ­einer grossangelegten Schmerzerhebungsstudie
[1] in 16 europäischen Ländern, unter anderem auch in der Schweiz, leiden 16%, also mehr als jeder sechste Schweizer, unter chronischen Schmerzen. Imposante 40% sind unter 40 Jahre alt. Häufigste Schmerzlokalisation und gleichzeitig auch Spitzenposition im Arbeitsunfähigkeits-Ranking bis zum Alter von 55 ist der Rücken, danach übernehmen diverse Arthrosebeschwerden die Führung. In der Altersgruppe 75+ ist die Schmerzprävalenz bei >60% und steigt erwartungsgemäss mit zunehmendem Alter auf Werte >80% an.

Schmerzfreiheit – nicht garantiert!

Schmerzwahrnehmung ist immer subjektiv, das Wort des Patienten ist der Goldstandard. Hier ist der Einsatz der NRS zur standardisierten Erfassung der Schmerzintensität von 0 bis 10 hilfreich. Gelegentlich kann aber die geschilderte Schmerzintensität für den Untersucher nur schwer nachvollziehbar sein, insbesondere dann, wenn mit einer «belle indifférence» stärkste Schmerzen deklariert werden, die im Widerspruch zur Körpersprache stehen.
Das individuelle Schmerzerleben ist das Endergebnis eines komplexen Verarbeitungsmechanismus, der letztlich nicht nur von körperlichen, sondern auch von psychischen und sozialen Faktoren geprägt wird. Allen Unkenrufen zum Trotz kann beispielsweise mittels ­einer simplen Wäscheklammer eine Schmerzquantifizierung vorgenommen werden, die Hinweise auf das Schmerzerleben gibt. Wird die Klammer am Mittelfingerspitz angebracht, kann normalerweise lediglich ein Schmerz von maximal NRS <3 provoziert werden; wird diese Klammer aber am Ohrläppchen positioniert, liegt die Schmerzwahrnehmung bei den meisten Probanden im NRS-Bereich 4–5, was eine erstaunlich hohe Übereinstimmung mit elektronischen Druckalgometern aus der Schmerzforschung zeigt [2].
Aufgrund der multifaktoriellen Genese und der psychosozialen Dimension des chronischen Schmerzes, ist dieser als eigenständige Krankheit anzuerkennen; der Schmerz selbst als das primäre Problem! Entsprechend wird es nie reichen, nur Schmerzmedikamente zu geben, vielmehr braucht es eine offene Kommunikation zwischen Arzt und ­Patient, die anstelle von übertriebenen Erwartungen an das neue «Wundermittel», realisierbare Etappenziele beinhaltet und kombinierte Therapieansätze bietet (Tab. 1). Um dem Patienten die Zusammenhänge zwischen seinem Schmerz und den geplanten Therapieansätzen verständlich zu machen, kann eine angemessene Visualisierung der Beschwerden in Bildern sehr hilfreich sein. Wenn es besser werden soll, ist die proaktive Mitarbeit des Betroffenen gefordert, weg vom passiven «Therapieempfänger» hin zum mitbestimmenden Partner. Hier muss der Patient angehalten werden, seine körperliche Aktivität trotz Schmerzen zu steigern, denn Schmerz lähmt! In Aktivitätstagebüchern soll die Leistung festgehalten werden, was auch für das Selbstbewusstsein förderlich ist. Das Führen von Schmerztagebüchern hingegen begünstigt lediglich die zentral verankerte Fixierung auf den Schmerz.
Grossartig ist, wenn Schmerzfreiheit erreicht wird, aber dies kann nicht das primäre Ziel sein; der Massstab für Erfolg ist die gesteigerte Funktion, und dass der Schmerz nicht mehr den Alltag dominiert oder ­bestimmt.
Tabelle 1: Nichtmedikamentöse Schmerzbehandlung.
Muskelstabilisation durch körperliche Aktivität!
Umlagerung / Durchbewegen (Physio- und Ergotherapie)
Wärme / Kälte / Wickel / Baden
Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)
Aktivierungstherapie (Gespräch, Spiel, Musik)
Autogenes Training
Verhaltensanalyse / Psychologische Betreuung

Schmerzwahrnehmung bei Demenz erschwert

Bei Demenzkranken kann die Schmerzerfassung zur echten Herausforderung werden, insbesondere, wenn die Kommunikation erschwert oder nicht mehr möglich ist (meist ab MMSE <15/30). Mit fortschreitender Neurodegeneration und konsekutiv abnehmender Neuronendichte sind im elektrischen Leitsystem sowohl die Schmerztoleranz, als auch die vegetative Schmerzschwelle erhöht. Es wird zwar eine höhere Reiz­intensität benötigt, um Schmerzen auszulösen und Blutdruck und Puslfrequenz ansteigen zu lassen [3, 4], aber Studiendaten zeigen, Demenzkranke sind im allgemeinen analgetisch unterversorgt [5]. Durch den kognitiven Abbau kann das gelernte Wissen über Körper und Schmerzursache verloren gehen, so dass zum Beispiel trotz schmerzhaft drückendem Schuh das Gehen fortgesetzt wird. Umso mehr müssen bei beeinträchtigter Kognition Schmerzen aktiv gesucht und standardisiert erfasst werden, ist doch der Schmerz bei Demenz nicht selten ein Delir-Promotor, das Delir als einziges Schmerzsymptom! Hierzu ­eignen sich Beobachtungs-basierte Instrumente, die während oder ausserhalb der Pflege Äusserungen, Mimik, Körperhaltung und Mobilisation als auch vegetative Reaktionen (Blutdruck, Puls, Atemfrequenz) erfassen.

Grundsätze der pharmakologischen Analgesie

Die pharmakologische Analgesie ist die häufigste Grundlage einer Schmerztherapie.
Will eine Behandlung chronischer Schmerzen erfolgreich sein, muss sie multimodal erfolgen – psychologische und soziale Aspekte mitberücksichtigend. Dass Polypharmazie im Alter eher die Regel als die Ausnahme ist, wirkt sich bei der Medikamentenwahl ­zusätzlich erschwerend aus. In Kombination mit verminderter Nieren- und Leberfunktion sind Arznei­mittelinteraktionen und Nebenwirkungen, Über­dosierungen und gelegentlich auch die «rettende» Malcompliance die Folge. Konsekutiv empfiehlt sich deshalb als Faustregel, mit halber Erwachsenendosis zu starten. Das von der WHO in den 80er Jahren entwickelte Stufenschema zur Behandlung von chronischen Schmerzen, war primär auf Tumorpatienten ausgerichtet (Abb. 1). Auch heute noch vermittelt es ein strukturiertes Vorgehen, wenn eine Therapieeskalation ansteht, wobei bei Betagten modifiziert vorgegangen werden soll; die niedrig potenten Opioide der Stufe 2 (Codein, Tramadol u.a.) sind Prodrugs, die, nur schon um analgetisch aktiv zu werden, Leberleistung fordern. Bei Dosissteigerung zeigen sich die pharmakologischen Nachteile gegenüber hoch potenten Opioiden, indem früh UAW und Interaktionen auftreten können. Reichen also Stufe 1-Medikamente wie Paracetamol, NSAR, oder Metamizol nicht aus, sollen bei Betagten direkt stark wirksame Stufe 3-Opioide zum Einsatz kommen.
Abbildung 1: WHO-Stufenplan zur Behandlung chronischer Schmerzen, gültig auch für Nicht-Tumorschmerz. ­Koanalgetika und Stufe-1-Medikation können mit allen Stufen kombiniert werden.
Keiner Stufenleiter unterliegen Koanalgetika wie Antidepressiva, Antikonvulsiva, Kortikosteroide, Bisphosphonate u.a. Sie können mit den Medikamenten aller 3 WHO-Stufen kombiniert werden. Wenn auch primär für eine andere Indikation vorgesehen, beeinflussen sie die Entstehung und Weiterleitung der Schmerzen und sind besonders hilfreich bei neuropathischen und onkologischen Schmerzen (Tab. 2). So ist beispielsweise die analgetische Wirkung gewisser Trizyklika und SNRI bei Radikulopathien nicht primär durch den antidepressiven Effekt vermittelt, da dieser mit und ohne Depression nachweisbar ist [6, 7]. Bei Patienten mit Schlafstörungen sollen primär sedierende Antidepressiva (Trizyklika, Mirtazapin, Trazodon), oder auch sedierende Antikonvulsiva, zur Anwendung kommen. Leidet der Patient hingegen unter Apathie und Müdigkeit, setzen wir besser aufhellende Substanzen, wie Duloxetin oder Venlafaxin ein. Die Wahl der Koanalgetika wird also primär von den störenden Begleitsymptomen bestimmt und erfolgt individuell; so kann beispielsweise bei Schmerzen, begleitet von hartnäckiger Übelkeit, ein Neuroleptikum wie Haloperidol zu einer laufenden Opioidtherapie (Neuroleptanalgesie) gleich in mehrfacher Hinsicht sinnvoll sein. Neben der antiemetischen Wirkung von Haloperidol (Haldol®) führt das Neuroleptikum zu einer Dosiseinsparung bei der Opioidmedikation. In einer Dosierung von 2–3 × 0,5 mg Haldol® pro Tag dient es zudem als Delirprophylaxe; sollte sein Risiko-Nutzen-Verhältnis als negativ beurteilt werden (anticholinerg, Orthostase, Torsade de pointes etc.), können neben den bekannten Antiemetika auch Steroide eingesetzt werden. Je nach Guide­lines werden Opioide beim neuropathischen Schmerz sogar als Therapieoption erster Wahl empfohlen, ­reduzieren sie doch neurogene Schmerzen mindestens gleich gut wie Trizyklika oder Antikonvulsiva. Der kombinierte Einsatz mit entsprechend synergistischer Wirkung macht aber am meisten Sinn und hilft zudem den «analgetischen Gap» in der Titrationsphase der Antidepressiva und Antikonvulsiva zu überbrücken [8, 9].
Tabelle 2: Medikamentöse Therapieoption bei neuropathischen Schmerzen.
MedikamentDosisNebenwirkungen
Trizyklische Antidepressiva (TZA) NNT 3,6 – NNH 13,4
Amitriptylin (Saroten®, 
Tryptizol®)50–75 mg (100 mg) abendsanticholinerg
Orthostase, kg↑
Clomipramin (Anafranil®)25–75 mg morgens
Serotonin-Noradrenalin-Reuptakehemmer (SNRI) NNT 6,4 – NNH 11,8
Duloxetin (Cymbalta®)30–60 mg morgensÜbelkeit
Nervosität, BD↑
Venlafaxin (Efexor®)37,5–225 mg morgens
Antikonvulsiva NNT 7 – NNH 13,9
Pregabalin (Lyrica®)2 x 25/50/75/150 mg (600 mg/d)Schwindel, 
sedativ
Hyponatriämie
Exanthem
Gabapentin (Neurontin®)3 x 100 / 2 x 300 / 3 x 300 mg 
(1,2–2,4 g/d)
Carbamazepin (Tegretol®, 
Timonil®)2 x 200 / 300 / 400 mg (1,2 g/d)
Opioide
1. Nachgewiesen wirksam bei neuropathischem Schmerz, je nach Guideline sogar 
erste Wahl!
2. Keine Evidenz für unterschiedliche Wirksamkeit verschiedener Opioide in dieser 
Indikation
3. Rasche Wirksamkeit auch in Titrationsphase von Antidepressiva/Antikonvulsiva
NNT (Number Needed to Treat) um eine 50%-ige Schmerzreduktion zu erreichen
NNH (Number Needed to Harm) – Anzahl der Patienten, die behandelt werden, bis einer die Therapie wegen Nebenwirkungen abbricht.
Bestehen keine Hindernisse, sollen die Analgetika primär per «via naturalis» gegeben werden, was grösstmögliche Unabhängigkeit garantiert. Transdermale Systeme (TTS) eignen sich nicht zum Therapiestart, da diese erstens 6–12 Stunden für den Aufbau des Hautdepots benötigen und so erst deutlich verzögert Wirkung zeigen, zweitens als lipophile Substanzen (im Alter zunehmender Anteil an Fettgewebe) akkumulieren und somit schlecht steuerbar sind. Wird von oraler Applikation auf TTS gewechselt, soll das orale Analgetikum noch 12(–24) Stunden überlappend zum Patch weitergeführt werden; vice versa darf die orale Analgesie nach TTS-Stopp aufgrund des noch wirksamem Hautdepots erst nach 12 Stunden gestartet werden. Der Patch ist bei Betagten eine prinzipiell anspruchsvolle Applikationsform und muss bei kognitiv eingeschränkten Patienten überwacht werden. Eine Analgetikagabe «on demand» führt zu keinen stabilen Plasmaspiegeln und vermittelt folglich auch keine konstante Analgesie. Vielmehr fördert sie ein ständig wiederkehrendes ­Tablettenverlangen bei «Sucht» nach Schmerzfreiheit, weshalb als Basistherapie eine Dauermedikation, möglichst in retardierter Form und in fixen Intervallen, empfohlen wird.

WHO-Stufenplan

Stufe 1

Paracetamol

Paracetamol ist das Analgetikum und Antipyretikum der ersten Wahl im Alter, da ein NSAR-Einsatz oft nicht in Frage kommt; es ist einfach und ohne ­Rezept erhältlich. Es zeigt allerdings keine antiphlogistische Wirkung. Paracetamol weist sowohl gastral, kardial, als auch renal ein gutes Sicherheitsprofil auf und ist bis zu 4 g/d zugelassen. Bei Patienten >75 Jahren steigt jedoch ab einer Tagesdosis >3 g das Risiko für gastrointestinale Blutungen an. Die Dosis-Wirkungskurve ist flach, weshalb eine Dosissteigerung von 4 × 500 mg auf 4 × 1 g lediglich einen minimen analgetischen Zuwachs bringt. Hingegen erhöht die Kombination mit einem Opioid die Wirksamkeit gegenüber Paracetamol oder Opioid alleine klar [10]. Der Vorteil von Paracetamol ist, dass keine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz notwendig ist. Wichtigste UAW von Paracetamol ist die Lebertoxizität, weshalb ab einer Erhöhung der Transaminasen über die dreifache Norm eine Dosishalbierung und weitere Kontrollen erfolgen müssen.

Cyclooxygenasehemmer: NSAR und Coxibe

NSAR sind potente Analgetika, wie ihre Number Needed to Treat (NNT) zeigt: Lediglich knapp 2,5 Patienten 
müssen mit NSAR behandelt werden, um eine 50%ige Schmerzreduktion zu erzielen, was für ihre effektive analgetische, antipyretische und antiphlogistische Wirkung spricht [11]. ­Speziell bei osteodegenerativen und rheumatischen Schmerzursachen, Gicht oder postoperativen Schmerz- und Entzündungszuständen wie auch bei Zahnschmerzen, wäre diese Substanzklasse sehr nutzbringend. Leider haben die nichtselektiven NSAR, mehr noch als die selektiven Cyclooxygenase-2-Hemmer (Celecoxib, Etoricoxib), zahlreiche unerwünschte Wirkungen. So ist ihr Einsatz wegen 
Niereninsuffizienz, gastrointestinalen Blutungen, hypertensiver Wirkung (+5 mm Hg), wie auch durch die intensivierte Wasser- und Salzretention bedingte, erhöhte Herzinsuffizienzrate, problematisch und bei >75-Jährigen generell nicht empfohlen [12]. Bei bekannter Herzinsuffizienz sind NSAR folglich gar kontraindiziert [13]. Wenngleich bisher zu wenig beachtet, gehen Coxibe und alle NSAR mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einher [14]. Eine grosse Ausnahme ist Naproxen (Apranax®, Proxen®). Wegen seiner Aspirin®-ähnlichen Wirkung wird somit Naproxen als das zu bevorzugende nichtselektive NSAR bei kardiovaskulären Risikopatienten empfohlen; erstaunlicherweise aber nur selten umgesetzt. Die allgemein bekannte gastrointestinale Toxizität nicht selektiver NSAR lässt sich in Kombination mit ­einem Protonenpumpeninhibitor (PPI) auf das Niveau der deutlich besser verträglichen Coxibe halbieren. Insbesondere Etoricoxib (Arcoxia®) hat in einer kürzlich im Lancet veröffentlichen Studie bei osteodegenerativen Schmerzen wegen Hüft- und Kniearthrose auch bezüglich Verträglichkeit sehr gut abgeschnitten [15]. Im Gegensatz zu gewissen nicht selektiven NSAR haben die Coxibe keine Wirkung auf die Plättchenaggregation. Dennoch wird wegen gehäuft auftretenden Blutungskomplikationen von einer Kombination mit oralen Antikoagulantien abgeraten.
Generell ist somit im Alter bei toxischem Nebenwirkungsprofil der NSAR nur ein kurzzeitiger Einsatz akzeptabel, wenn überhaupt.

Metamizol

Die analgetische Wirkstärke von Metamizol ist vergleichbar mit NSAR oder schwachen Opioiden [16]. Zusätzlich wirkt es gut antipyretisch und spasmolytisch, weshalb seine Hauptindikation die febrile Kolik ist. Zwischen 2000 und 2010 ist der Verbrauch von Novalgin® um das Achtfache gestiegen! Metamizol weist ­weder relevante renale, kardiale, noch gastrointestinale Nebenwirkungen auf. Gefürchtet werden primär die Agranulozytose und bei parenteralen Applikation gelegentlich auftretende, anaphylaktische Reaktionen. Die Letalität aufgrund einer Agranulozytose lag in ­einer schwedischen Studie zwischen 1966 und 1972 bei knapp 30% noch sehr hoch [17]. Heute liegt die Mortalität tiefer als 0,01:1000 Anwendungen/Jahr. So wurden in den letzten 21 Jahren noch 7 Todesfälle wegen ­Metamizol-assoziierter Agranulozytose registriert [18]. Kurzum: Das Risiko an einer durch Metamizol verursachten Agranulozytose zu sterben ist geringer als das Risiko, ein tödliches kardiales Ereignis unter NSAR zu erleiden. Trotz Marktverbots in England, Schweden und den USA hat es dort den Weg in zahlreiche Hausapotheken gefunden [19].

Stufe 2

Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den schwachen Opioiden der Stufe 2 (Codein, Tramadol, ­Tilidin) um Prodrugs mit hohem Interaktionspotential und Akkumulationsgefahr bei Niereninsuffizienz. Zwar hat Codein einen guten antitussiven Effekt, wird aber in der Leber zu aktivem Morphin demethyliert. Auch Tilidin und Tramadol sind, wollen sie wirksam werden, von einer intakten Lebefunktion abhängig. Tramadol ist zudem ein SNRI und kann daher Myoklonien und Krampfanfälle im Rahmen eines Serotonin-Syndroms auslösen. Der zentral serotonerge Effekt von Tramadol ist auch für die im Vergleich zu anderen Opioiden ausgeprägte Nausea verantwortlich [20]. Im Wissen, dass im Alter die Nebenwirkungen der sogenannt «schwachen» Opioide meist stärker sind als deren therapeutischer Nutzen, sollten möglichst früh starke Opioide der Stufe 3 eingesetzt werden, allenfalls unter Umgehung der Stufe 2-Medikamente.

Stufe 3

Weltweit hat der Opioidverbrauch zugenommen, in der Schweiz hat er sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht. In Deutschland erfolgten >70% der Opioidverordnungen an chronisch nicht tumorbedingte Schmerzpatienten [21]. Die irrige Annahme, Opiate kommen lediglich bei «Totgeweihten» zum Einsatz, ­gehört der Vergangenheit an, vielmehr geht der Trend heute in Richtung «Opiophilie», auch bei nicht Tumor-bedingten Schmerzen. Opioide sind jedoch nicht für alle Schmerzsyndrome geeignet, insbesondere bei funktionellem Ursprung, Reizdarm, Fibromyalgie, Kopfschmerzen oder Schleudertrauma sollten sie gemieden werden. Ist die Indikation hingegen gegeben, soll mit einem potenten ­Opioid ein individueller Therapieversuch über 4–12 Wochen gestartet werden, kombiniert mit nichtmedikamentösen Massnahmen und messbarer, funktioneller Zielvorgabe. Die Basis bildet ein Opioid in retardierter Form zweimal täglich. Zusätzlich werden 10% der Basisdosis als schnell wirksame Reservedosis verschrieben, die nach Bedarf bis stündlich (!) gegeben werden darf (Tab. 3). Eine klare Überlegenheit bestimmter Präparate existiert nicht, Grundsatz aber muss sein: Tiefe Startdosis (halbe Dosis!), retardierte Basismedikation, und beim neuropathischen Schmerz ein früher symptom-orientierter Einsatz von Koanalgetika, zwecks Dosiseinsparung bei den Opiaten.
Tabelle 3: Opioidtherapie: Start und Dosistitration.
Therapie beispielsweise mit:
– Hydromorphon Ret Kps 4 mg 1–0–0–1
– Tapentadol Ret Tbl 50 mg 1–0–0–1
– Oxycodon Ret Tbl 5 mg 1–0–0–1
10–(15%) der Fix-Tagesdosis wird als Reservedosis in Form von schnellwirksamem Opioid verschrieben. Gabe bei Bedarf bis stündlich.
nach 48–72 h neue Tagesdosis berechnen (Basisdosis plus Reservedosis) und Reservedosis neu anpassen!
Obgenannte Substanzbeispiele liegen sowohl in schnellwirksamer, als auch in retardierter Form vor, was eine lineare Dosistitration erlaubt.

Starke Opioide im Alter – was gilt es zu beachten?

Trotz, im Vergleich zu anderen Analgetika, kaum ­vorliegender Organtoxizität, zeigen Opioide häufig ­unerwünschte Wirkungen, wie Sedation, selten Atemdepression, Delir und Stürze. Nausea, ein erbarmungsloser Compliance-Killer, tritt bei gut einem Drittel der Patienten bei Therapiestart auf. Glücklicherweise ist die Nausea oft selbstlimitiert nach drei bis fünf Tagen und soll antiemetisch angegangen werden, wobei die beste Nausea-Prophylaxe in einer langsamen Dosis­titration besteht [22]. Die spastische Obstipation hingegen zeigt keine Toleranz und muss obligat mit Laxantien, am sinnvollsten mit einem osmotisch wirksamen Makrogolpräparat, behandelt werden. Weniger geeignet ist Paraffin (Paragar®, Paragol®), das die Resorption der Vitamine A, D, E, und K behindert. Im Kombinationspräparat Targin® blockiert der Opioidantagonist Naloxon die Opiatrezeptoren im Darm, vermindert so ein Andocken von Oxycodon im Darm und senkt dadurch die Obstipationsrate. Normalerweise wird Naloxon nach oraler Gabe durch den First-Pass-Metabolismus eliminiert; bei Leberinsuffizienz (Stauungsleber, Polypharmazie, Infekt etc.) ist dies nicht der Fall, das heisst Naloxon gelangt in den Kreislauf und antagonisiert Oxycodon am Rezeptor. Somit sollte bei Leberinsuffizienz besser auf Hydromorphon gewechselt werden, das Zytochrom-P-450-unabhängig metabolisiert wird, keine aktiven Metabolite bildet und selbst bei Niereninsuffizienz als «sicher» gilt [23, 24]. Bei schwerer Niereninsuffizienz allerdings kann es in glukuronidierter Form akkumulieren, weshalb dann eine Dosis­anpassung erfolgen muss. Hydromorphon ist in der Akutgeriatrie das bevorzugte Opioid! Da der betagte Patient meist eine gemischte Schmerzqualität (nozizeptiv und neurogen) aufweist, bietet sich beinahe schon massgeschneidert Tapentadol (Palexia®) als gut verträgliches, atypisches Opioid an, das im selben ­Molekül ein potentes Opioid mit einem Noradrenalin-Reuptake-Hemmer kombiniert. Tapentadol liegt sowohl in retardierter als auch in Immediate-­Release-Form vor.
Ausser Buprenorphin werden nahezu alle Opioide unter Dialyse entfernt; will man Schmerzexazerbationen während der Dialyse verhindern, sollte als Mittel der Wahl Buprenorphin bei Dialysepatienten eingesetzt werden, das auch wegen seiner stabilen Rezeptorbindung, ähnlich dem Methadon, eine konstante Analgesie vermittelt. Da Buprenorphin lediglich ein partieller Agonist ist, sollten beim Einsatz von Transtec® optimalerweise als schnell wirksame Reserve nicht volle ­Agonisten wie Morphin oder Oxycodon, zum Einsatz kommen, sondern Temgesic®.
Unter den starken Opioiden bilden neben Buprenorphin und Hydromorphon auch Tapentadol, Fentanyl und Methadon keine aktiven Metabolite, was gegenüber Oxycodon und Morphin ein klarer Vorteil ist. Morphin-6-Glukuronid, wie auch der Metabolit von Oxycodon, akkumulieren bei Niereninsuffizienz und führen zu Emesis, Sedation und Atemdepression.

Opioidrotation

Bei anhaltender Nausea, Sedation, oder wenn bei kontrollierter Schmerzsituation die Schmerzen plötzlich wieder kommen, kann eine Opioidrotation hilfreich sein (Tab. 4). Nicht selten kommt es auch mit zunehmender Therapiedauer zu einem graduellen Wirkverlust, der eine Dosissteigerung nötig macht, um eine suffiziente Analgesie aufrechtzuerhalten [25]. Dieser «Toleranz» (Tachyphylaxie) kann mithilfe eines Wechsels (Switch) zwischen zwei geeigneten Opioiden, alle vier bis sechs Monate «hin und her», erfolgreich begegnet werden. Weil die Empfindlichkeit der Opiatrezeptorengegenüber dem neuen Opioid, bei unterschiedlichem Bindungsmuster, erhöht wird, muss beim neuen Opioid eine 30–50%ige Dosisreduktion vorgenommen werden (Tab. 4).
Tabelle 4: Opioidrotation (WHO-Stufen-gerecht).
Indikationen
Ungenügende Schmerzkontrolle (nach Dosistitration)
Intolerable (dosislimitierende) Nebenwirkungen:
– anhaltende Übelkeit (>7 Tage nach letzter Dosis↑)
– Myoklonien
– Juckreiz
– Delir (!)
– Sedation, Atemdepression
Neu aufgetretene Leber- und Niereninsuffizienz
Toleranz (kontrollierte Schmerzen exazerbieren wieder)
 
Beispiel für Opioidrotation
1.Berechnung der letzten Tagesdosis
(Basisdosis, in retardierter Form und Reservedosis)
2.Ermitteln der Opioid-Äquivalenzdosis des neuen Opioids
3.Dosisreduktion beim neuen Opioid um 30% (–50%)
– 10 (–15%) der Tagesdosis wird als Reservedosis verschrieben
– kann «nach Bedarf» bis stündlich verabreicht werden
 
bisher:Basisdosis MST Continus® 30 mg 1-0-0-1
Reserve: Morphin Tropfenlösung (2%) 6 Trpf (= 6 mg) n. B. bis stündlich
Basis 60 mg + Reserve: 5 Dosen à 6 mg = 90 mg Morphin (TD)
neu:Hydromorphon 18 mg (= Morphin 90 mg) minus 30–50% (6–9 mg)
Hydromorphon 9 mg als Basis: Palladon Ret Kps® 4 mg 1-0-0-1
Reserve: Palladon Kps® 1,3 mg →nach Bedarf: bis stündlich

Mit jeder Dosis mehr Schmerzen!

Ähnlich wie bei der Toleranzentwicklung sinkt die Schmerzschwelle auch bei der opiatinduzierten Hyperalgesie (OIH) ab. Während aber bei der Toleranzentwicklung eine Dosissteigerung die Wirkung verbessert, verursacht sie bei der OIH eine Verschlechterung der Analgesie, weshalb durch immer häufiger verabreichte Reservedosen der Circulus vitiosus noch angeheizt wird. Hier hilft nur die Dosisreduktion, resp. der Opiatentzug, und wegen vermehrter Freisetzung von Glutamat, allenfalls der Einsatz von Ketamin, einem stabilen Anelgetikum und Glutamatrezeptorantagonisten. Leider wird die OIH oft erst «in extremis» diagnostiziert [26, 27].
Zu guter Letzt seien auch die topischen Massnahmen, speziell bei neuropathischem Schmerz, erwähnt. Bewährt haben sich das 5% Lidocainpflaster oder mehrfach tägliches Auftragen von Capsaicin-Crème, einem Vanilloid-Schmerzrezeptor-Agonisten aus gemahlenem Chili, der einen reversiblen Funktionsverlust ­nozizeptiver Afferenzen bewirkt. Im floriden Stadium ­eines Herpes Zoster helfen Gerbstoffe wie Tannosynt®, oder die ehemals rosa, jetzt weisse Schüttelmixtur aus Zink, Talk und Glycerin. Ihre entzündungshemmende, austrocknende und antipruriginöse Wirkung beschleunigt den Heilungsprozess und wirkt lokal erfreulich schmerzstillend.

«Reissen Sie sich doch ein bisschen zusammen!»

Solche, oder ähnliche Aufforderungen sind bei chronischen Schmerzen wenig zielführend. Die Gleichung «kein Reiz – kein Schmerz» geht so nicht auf, was nur schon am Beispiel Phantomschmerz belegt wird. Zentral ist die Kommunikation zwischen Arzt und Patient, dem es oft unmöglich erscheint, die Dimension seines Schmerzerlebens überhaupt in Worte zu fassen. Schmerz bleibt ein vielschichtiges Problem, packen wir es an!
Abkürzungen
NRS:Numerische Ratingskala (Schmerzintensität 0–10)
MMSE:Mini Mental Status Examination (nach Folstein MF)
WHO:Weltgesundheitsorganisation
UAW:Unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen
NSAR:Nicht steroidale Antirheumatika
SNRI:Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
Zur Schmerzmedikation ist in dieser Zeitschrift auch erschienen:
Neuner-Jehle S. Zehn Tipps für eine erfolgreiche Schmerztherapie in der Praxis. PrimaryCare. 2014;14(15):243–4.
Dr. med. Dieter Breil
Universitäre Altersmedizin Felix Platter-Spital
CH-4012 Basel
dieter.breil[at]fps-basel.ch