Shared Decision Making, ein Auslaufmodell?
Empathie, Imagination, Begleitung

Shared Decision Making, ein Auslaufmodell?

Lernen
Ausgabe
2016/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01352
Prim Hosp Care (de). 2016;16(16):303-304

Affiliations
Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich

Publiziert am 31.08.2016

Shared Decision Making (SDM), zu deutsch etwas holprig «Gemeinsame Entscheidungsfindung», hat sich als Konzept und Anleitung für Gespräche mit Patienten etabliert. SDM versucht, dem modernen Patienten* im klinischen Alltag zu seinen Rechten zu verhelfen, möglichst gut informiert zu sein und so autonom wie erwünscht zu entscheiden. Daran ist nichts auszusetzen, aber funktioniert es wirklich in seiner Komplexität?
Komplexe medizinische Situationen erfordern komplexe und differenzierte Antworten. Der moderne Pa­tient möchte wissen (und hat ein gesetzlich verbrieftes Anrecht darauf), wohin Option A, B oder C führen. Wenn er auch nicht unbedingt das Steuerrad übernehmen möchte, will er doch erfahren, welche Chancen und Risiken er bei jeder Option zu erwarten hat. Gut informierte Patienten, die sich im Einklang mit ihren Präferenzen und Wünschen entscheiden, sind therapietreuer und zufriedener. Ärzte, die sorg­fältig informieren und auf die Patientenwünsche ­eingehen, ­sonnen sich im höheren Vertrauen ihrer ­Patienten. Als Grundhaltung würde ich das jederzeit unterschreiben, und versuche auch, dies im Praxisalltag zu leben. Nur: Sobald die Optionen der Abklärung oder Behandlung komplexer werden, sind wir – Patienten und Ärzte – überfordert mit diesem Anspruch.

Die Zeit läuft

Als Arzt läuft mir die Zeit davon: Folgenschwere Entscheidung, das Abwägen von Pro und Contra dazu – das ist nicht in zehn Minuten erledigt. Bevor ich sauber über Chancen und Risiken informieren kann, muss ich die Fakten kennen und oft zuerst recherchieren. Der Aufwand kann enorm sein, bis ich die genau auf meinen Patienten passenden Referenzstudien und -zahlen habe, auch wenn ich auf Experten zurückgreife. Familie und Partner möchten einbezogen werden. Das sind oft gute Gespräche, wo Zögern, Überlegen und Schweigen Platz haben. Wenn sich jedoch schon die Patienten im Wartezimmer stauen, entsteht Stress. Länger arbeiten, weniger Patienten einschreiben und dafür ­einen Patienten-Aufnahmestopp verhängen? Alles wenig praktikable oder sogar «ungesunde» Massnahmen.

Too much

Regelmässig erlebe ich, wie Patienten mit der Menge an Informationen und dem Mass an Details über­fordert sind. Folgenschwere Entscheidungen zu treffen überfordert ihre Entscheidungsfähigkeit. Schon zu wissen, was man selbst wünscht und bevorzugt, ist nicht immer so klar. Zuviel Information und der Druck, entscheiden zu müssen, erzeugt bei vielen Patienten Unsicherheit und generiert Ängste. Ein reales Beispiel dazu:
Die gut 80-jährige rüstige Frau mit Osteoporose erleidet zwei Monate nach einer Osteosynthese am oberen Sprunggelenk und einen Monat nach einer Knie-Totalprothese eine septische Arthritis des Schultergelenks auf der dominanten Seite. Schmerzen und Funktionsverlust (verstärkt durch degenerativ-entzündliche Sehnenrupturen am Schultergelenk) führen sie ins Spital, wo die Diagnose aufgrund positiver Blut- und Punktatkulturen gesichert und eine parenterale antibiotische Behandlung eingeleitet wird. Nun geht es (nebst der Suche nach der Infektquelle) um die Gelenke und um die langfristige Infektsanierung: Schultergelenksspülungen und Teilersatz, eventuell voller Ersatz des Kunstgelenks am Knie sind ­vorgeschlagen, zudem die Kiefer-/Zahnsanierung. Ein Echokardiogramm zum Ausschluss oder Nachweis ­einer Endokarditis muss her, ein Zentralvenenkatheter wird gelegt, eine mehrwöchige Hospitalisation ist prognostiziert – und danach? Geht das noch im eigenen (älteren) Haus mit dem havarierten Arm, oder wird sie danach in eine Alterswohnung oder ins Heim müssen? Die Patientin weiss weder ein noch aus und fragt sich: lohnt sich ein solches Leben noch, oder wäre es besser, diese üble Abwärtsspirale abzukürzen ...?
Natürlich wurde ihr die Wahl – und die Bedenkfristen – vor den jeweiligen Eingriffen zugestanden. Über die Option, nichts zu tun, wurde mit ihr nicht wirklich gesprochen. Für sie war aber die zentrale Frage: Vergebe ich mir durch einen Verzicht Chancen, welche die moderne Medizin anbieten kann, oder erspare ich mir ­unnötiges Leiden? Schwierige, folgenschwere Fragen.

Komplexe medizinische Situationen erfordern einfache Antworten!

So lautet die Gegenthese zum Eröffnungssatz dieses Artikels: Nicht möglichst umfassend zu informieren und jedes letzte Argument herauszukitzeln sollte ­unser Challenge sein, sondern das Reduzieren auf das Wesentliche. Doch was ist das genau?
Die schwierigen Fragen, wie in unserem Beispiel, sind diejenigen Situationen, in denen der Benefit für den Patienten nahe beim nutzlosen Aufwand oder sogar beim Schaden liegt (dies kann auch ein Überleben mit geringer Lebensqualität sein). Klare oder einfache Antworten darauf gibt es nicht. Eine hilfreiche Vereinfachung kann aber sein, auf den elaborierten SDM-Prozess bis zur Entscheidung [1] zu verzichten, und als Arzt «nur» dessen Grundhaltung zu vertreten, dafür aber konsequent! Dazu drei Vorschläge:
1. Empathie: Ich versetze mich, auch emotional, in die Situation des Patienten. Wie würde ich mich verhalten? Was wäre mir wichtig? Ich exploriere, was der Pa­tient dazu denkt (höre ihm einfach zu, gebe ihm Raum, seine Gedanken zu formulieren), und äussere auch meine Meinung dazu, wenn erwünscht. Ich sage ihm aber nicht, was er tun oder lassen soll.
Auf unser Beispiel bezogen: Solange Chancen auf eine Heilung (vielleicht auch nur Defektheilung) bestehen, würde ich die Eingriffe akzeptieren, denn mit 80 möchte ich gerne miterleben, wie sich mein Kinder (und allfällige Enkel) entwickeln. Und die möchten vielleicht auch noch gerne eine Mutter/Grossmutter um sich haben.
2. Imagination: Gute Gespräche, die einen weiterbringen, leben von der Vorstellungskraft: Was passiert, wenn Option A oder B eintritt? Wie verkrafte ich das Resultat? Habe ich ähnliche Situationen schon erlebt, oder von anderen gehört? Passt das Ergebnis zu meiner Vorstellung, wie ich leben will? Wie will ich den überhaupt leben, was ist mir wichtig? Gedankenexperimente und Projektionen anregen hilft oft zur Klärung von ­Unsicherheiten beim Entscheiden.
3. Begleitung: Patientenzentrierte Medizin (patient centered care [2, 3])bedeutet auch, dass ich die Entscheidung des Patienten mittrage, ob sie mir persönlich nun passt oder nicht. Ich stehe ihm nicht widerwillig, ­sondern mit Engagement zur Seite.
Werfen Sie mir jetzt bitte nicht vor, das sei ja wieder kompliziert. Mitfühlen, sich mögliche Szenarien vorstellen, begleiten – eine einfache Strategie für Ihre nächste schwierige Sprechstunde. Als guter Arzt machen Sie das vermutlich sowie schon, intuitiv.
Dr. med. Stefan Neuner-Jehle
MPH, Institut für
Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
sneuner[at]bluewin.ch
1 Elwyn G, Frosch D, Thomson R, et al. Shared Decision Making: A Model for Clinical Practice. J Gen Intern Med. 2012;27(10):1361–7.
2 Elwyn G, Dehlendorf C, Epstein R, et al. Shared Decision Making and Motivational Interviewing: Achieving Patient-Centered Care Across the Spectrum of Health Care Problems. Annals Fam Med 2014;12(3):270–5.
3 Neuner-Jehle S. Schlaglicht Allgemeinmedizin: Patient im Zentrum: leicht gesagt, schwer getan. Swiss Med Forum. 2015;15(1–2):6–8.