«Hidden Hunger» – Nahrungsergänzung: sinnvoll oder Unsinn?
Nahrungsergänzung – sinnvoll oder Unsinn?

«Hidden Hunger» – Nahrungsergänzung: sinnvoll oder Unsinn?

Lernen
Ausgabe
2016/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01375
Prim Hosp Care (de). 2016;16(22):413-416

Affiliations
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, Universitätsspital, Zürich

Publiziert am 22.11.2016

Das Hauptthema des KHM-Kongresses 2015 lautete «Ordnung und Chaos». Das Wissen betreffend Nahrungsergänzung und Indikationen von Supplementierungen für diverse Erkrankungen oder auch einfach fürs «Wohlbefinden» ist in der Tat «chaotisch».
Supplemente sind praktisch für alles «hilfreich»: von der Prävention und Therapie des Morbus Alzheimer bis hin zur Phimose [1, 2]. In diesen Themenbereich der Medizin sollte Ordnung gebracht werden, zumal durch Nährstoffergänzung und Supplementierung nicht nur «Well-being», sondern auch Probleme entstehen können.
Die Ordnung in diesem Themenbereich kann relativ einfach erbracht werden, sofern man die aktuelle wissenschaftlich publizierte Evidenz beachtet und dieselben Güte- und Evidenzkriterien anwendet, die auch bei Antihypertensiva und anderen Pharmaka verlangt werden. Dies sollte tatsächlich gemacht werden, da die Dosierungen dieser «harmlosen» Nährstoffe weit über den durch normale Nahrungsmittel zuführbaren ­Mengen liegen. Es handelt sich also eigentlich um eine pharmakologische Therapie mit kristallinen Nährstoffen, die ein ganz anderes biochemisches Verhalten ­zeigen als in die Nahrungsmittel-Matrix integrierte Nährstoffe [3].
Dieses meist nicht evidenzbasierte Chaos zu ordnen, ist aus verschiedenen Gründen schwierig: Erstens ist jeder von uns ein «Ernährungsexperte», bzw. glaubt es zu sein, zumal jeder von uns tagtäglich mehrmals isst. Zweitens strebt der Mensch nach Glück und Gesundheit, die er durch den Konsum verschiedenster «Performance Enhancers», zu denen auch Nährstoffe ­gehören, hofft zu erlangen. Drittens unterliegen Nährstoffsupplemente im niedrigeren Dosierungsbereich dem Lebensmittelgesetz.
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wer Nahrungsergänzung braucht bzw. wer sie nicht braucht. Dabei sollen ausgewählte evidenzbasierte Empfehlungen aus der Praxis für die Praxis kurz zusammengefasst werden. Allfällige Spezialindikationen bei bestimmten Erkrankungen werden hier nicht behandelt.

«It was too complicated for me»

«It was too complicated for me», lautete die Bemerkung von Albert Einstein über die Arbeiten von Linus Pauling bezüglich der Charakteristika der Kohlenstoff-Doppelbindung und wohl auch über seine Arbeiten zum Thema Vitamin C («Vitamin C und Krebs» oder «Vitamin C and the common cold»). In der Tat ist die Ernährungsphysiologie ein sehr komplexes Gebiet, das viel mehr beinhaltet als das einfache «Schlucken» von bestimmten Nahrungsmitteln oder kristallinen Nährstoffen in Form von Supplementen.
Die Geschichte von Nährstoffsupplementen reicht weit zurück, zumal in den Anfängen der Medizin die Diätetik eine zentrale Rolle spielte. So haben schon im alten China ernährungsmedizinische Empfehlungen zusammen mit dem gezielten Einsatz von bestimmten Kräutern eine zentrale Rolle in der Medizin gespielt [4]. Dabei gilt jedoch zu beachten, dass die Ernährung ein Teil eines komplexen Therapiesystems war, das sowohl mentale Komponenten als auch gezielte Körperübungen (körperliche Aktivität, Entspannungsübungen, Yoga etc.) beinhalteten. Heute haben wir diese ergänzenden (nicht pharmakologischen) Massnahmen ­vergessen, nicht zuletzt, weil diese viel anstrengender sind, als ein Supplement zu schlucken.
Ein zentraler Aspekt einer kausalen Therapie ist die zeitliche Limitierung der Therapiedauer. So wurden auch bei den Chinesen bestimmte gezielte diätetische Massnahmen im Sinne einer gezielten Therapie meist nur über eine bestimmte Zeit eingesetzt. Dies zeigt ­einen zentralen Unterschied zur heutigen Praxis, bei der meist lebenslänglich ein bestimmtes Supplement empfohlen wird. Es ist nachvollziehbar, dass ein Nährstoff, der «lebensverlängernd» wirkt, bis zum Nimmerleinstag eingenommen werden muss. Dasselbe gilt ­übrigens auch für die gesundheitlichen ­Effekte der körperlichen Aktivität [5]. In den USA konsumieren gut 50% der Population regelmässig Supplemente (unregelmässiger Konsum findet sich in bis zu 70%) [6]. Die hohe Zahl an Supplementkonsumenten erstaunt im ersten Moment, doch in Kenntnis des mittlerweile ­globalisierten «American Way of Life» kann man die Suche nach einfachen Möglichkeiten zur Reduktion ­eines allfälligen Krankheitsrisikos gut nachvollziehen.

«Mangel» vs. «nicht-evidenzbasierte Pharmakologie»

Der therapeutische Wert einer klar definierten Nährstoffsupplementierung bei gleichzeitigem Vorliegen eines biochemischen Mangels und einer möglichen Ursache (z.B. Darmerkrankung mit Malabsorption und ungenügende Zufuhr) ist unbestritten [7]. Die Indikation für einen Mangel, basierend auf biochemischen Grenzwerten, ist einigermassen evidenzbasiert und durch langjährige Forschung etabliert, auch wenn die biochemischen Normwerte für bestimmte Nährstoffe zum Teil kontrovers (z.B. Vitamin B12 oder auch Vitamin D) und mitunter auch populationsspezifisch sind aufgrund zum Beispiel spezifischer metabolischer Charakteristika im Stoffwechsel einzelner Nährstoffe [8]. Es sei hier lediglich die Entwicklung der Normwerte von Vitamin B12, die vor ein paar Jahren zwischen 500 bis 1500 pmol/l lagen und heute auf einen unteren Normwert von >150 pmol/l reduziert wurden, in Erinnerung gerufen [9]. Aufgrund vielseitiger Evidenz wissen wir aber, dass diese >150 pmol/l wahrscheinlich zu tief sind. So gibt es Hinweise die zeigen, dass zur Vermeidung eines kognitiven Abfalls mit dem Alter ein ­Vitamin-B12-Spiegel von mindestens 300 pmol/l notwendig wäre (bei normwertiger Folsäure) [10]. Die Komplexität des Stoffwechsels zeigt sich darin, dass die Protektion nur im Setting von normalen Folsäurespiegeln gewährleistet ist und nicht bei zu hohen (sic!) Folsäure-Plasmaspiegeln (letzteres ist allerdings bei der weit verbreiteten Fortifizierung von Nahrungsmitteln mit Folsäure eher der Fall). Eine höhere Zufuhr an Vitamin B12 ist sinnvoll, zumal mit dem Alterungsprozess die Absorption von proteingebundenem Vitamin B12 abnimmt. Ist die Indikation für eine Supplementierung gegeben, kann Vitamin B12 auch per os eingenommen werden (z.B. «B12 Ankermann®» 1000-µg-Dragees). Liegt eine Mangelsituation vor, sollte jedoch initial der Vitamin-B12-Spiegel durch parenterale Vitamin-B12-Gaben angehoben werden und die orale Therapie sozusagen nur zur späteren «Status-Maintenance» eingenommen werden.

Bariatrie-Patienten sind Risikopatienten

Verschiedene Pathologien im Magendarmtrakt führen zu Malabsorption bestimmter Nährstoffe. Eine etablierte Indikation für Mikronährstoff-Supplemente haben alle Patienten nach einer bariatrischen Operation [11, 12]. Aufgrund der iatrogen verursachten anatomischen Veränderungen kommt es zu einer Malabsorption bestimmter Nährstoffe wie zum Beispiel Eisen oder Vitamin B12. Entsprechend ist eine frühe Supplementierung unabdingbar. Idealerweise werden die Speicher der beiden letztgenannten Nährstoffe schon präoperativ durch gezielte Supplementierung optimiert. Eine Supplementierung bei diesen Patienten ist ein Muss, obwohl wir für die meisten Nährstoffe gar nicht genau wissen, wie sich die Absorptionscharakteristika durch den bariatrischen Eingriff verändern. Aufgrund möglicher unerwünschter Wirkungen (z.B. Karzinogenese) einzelner Nährstoffe wären diese Daten wichtig [13]. Auch Supplemente – so wie Pharmaka – sind nur wirksam, wenn sie geschluckt werden. Oftmals ist die diesbezügliche Compliance gerade bei bariatrischen Patienten – trotz einer klaren Indikation – nicht optimal [14].

«For Your Eyes Only»

In Analogie zum Titel des 12. James-Bond-Films ist die Evidenzlage für die Einnahme von bestimmen Vitamin-Spurenelement-Supplementen für die alters­bedingte Makuladegeneration (AMD) relativ gut. Die AMD ist eine der wichtigsten Ursachen für Visusverlust und Blindheit [15]. Die Ursachen für die AMD sind vielseitig, doch es wird vermutet, dass neben einer ­genetischen Prädisposition [16] oxidativer Stress in der Entstehung und auch in der Progression der Erkrankung von zentralem pathophysiologischem Stellenwert sind. Es überrascht deshalb nicht, dass in der ­Age-Related Eye Disease Study (AREDS) eine Supplementierung mit Antioxidantien und Zink im Vergleich zu Plazebo das Risiko für die Progression der AMD von ­einem intermediären Stadium zu schwerer AMD um gut 25% senken konnte. Das in der ARED-Studie verwendete Supplement enthielt 500 mg Vitamin C, 400 IU ­Vitamin E, 15 mg Beta-Karoten, 80 mg Zink (als Zinkoxid) und 2 mg Kupfer (als Kupferoxid). Die 2 mg Kupfer sollten einen Kupfermangel bei zu hoher Zinkzufuhr verhindern helfen.
Eine Folgestudie mit einer modifizierten Zusammensetzung des Supplements ist als AREDS-2-Studie bekannt. Das Beta-Karoten wurde aus Gründen eines erhöhten Lungenkrebsrisikos durch Lutein/Zeaxanthin ersetzt. Zusätzlich wurde auch der Effekt von Omega-3-Fettsäuren geprüft. Durch den Ersatz von Beta-Karoten durch Lutein (10 mg) und Zeaxanthin (2 mg) konnte ebenfalls eine protektive Wirkung erzielt werden [17, 18]. Die Zugabe von Omega-3-PUFA (polyunsaturated fatty acids = mehrfach ungesättigte Fettsäuren)zeigte keinen zusätzlichen Benefit. Diese Anpassungen der Formulierung des Supplements zeigen, dass Nährstoffsupplemente schwerwiegende Nebenwirkungen haben können.
Tatsächlich sind 80 mg Zink in der Orginalformulierung eine sehr hohe Dosierung, doch verschiedene Studien zeigten, dass eine AMD-Protektion auch durch geringere Dosen (20 mg) erreicht werden kann [19]. Die Resultate der beiden ARED-Studien deuten darauf hin, dass der verwendete Nährstoffmix des Supplements tatsächlich wirksam ist. Es wäre aber ein Trugschluss anzunehmen, dass zum Beispiel 80 mg Zink oder sogar höhere Dosen von Zink oder Vitamin E wirksamer ­wären. Auch die Zugabe anderer Nährstoffe bringen keinen Zusatznutzen, oder höchstens ungünstige Interaktionen. Für eine andere Zusammensetzung liegt also keine Evidenz vor, entsprechend sollten lediglich Supplemente mit der Orginalzusammensetzung verschrieben werden (z.B. Ocuvite®).
Die ARED-Studie ist eine der wenigen kontrollierten Langzeit-Mikronährstoff-Supplementierungsstudien mit regelmässigen Untersuchungen über mehr als zwei Dekaden. Trotz dieser doch recht eindrücklichen Daten dürfen aber andere Massnahmen nicht vergessen werden (u.a. auch eine gemäss aktuellen Empfehlungen gesundheitsfreundliche Ernährung oder auch körperliche Aktivitiät) [20, 21]. Im Gegensatz zur gängigen Meinung waren Vitamin-D-Supplemente bezüglich AMD wirkungslos [22].

Diuretika-induzierter Vitamin-B1-Mangel

Die Diuretikatherapie ist ein Eckpfeiler der Hypertonie- und Herzinsuffizienzbehandlung. Im Praxisalltag ist die Diuretika-induzierte Hyponatriämie und/oder ­Hypokaliämie eine bekannte Nebenwirkung, die aktiv monitorisiert und bei Bedarf korrigiert werden muss. Es geht jedoch vergessen, dass viele andere Substanzen – unter anderem auch Vitamin B1 (Thiamin) – durch Diuretika «aus dem Körper herausgespült» werden [23]. Das Krankheitsbild des nassen Beri-Beri mit den klassischen Symptomen der Herzinsuffizienz ist uns aus Lehrbüchern bestens bekannt. Die Bedeutung einer adäquaten Versorgung mit Vitamin B1 wird jedoch ­gerade bei Patienten mit Langzeit-Diuretikatherapie ­ignoriert. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann bei Herzinsuffizienz-Patienten durch die gezielte Gabe von Thiamin-Supplementen eine deutliche klinische Verbesserung der Herzfunktion erzielt werden [24] (Dosierungsbereich 20 mg – allenfalls initial 50 bis 100 mg). Patienten mit chronischer Diuretikatherapie stellen also eine weitere klassische Indikation für eine gezielte Nährstoff-Supplementierung dar [25].

Brauchen «gesunde Menschen» ­Supplemente?

Dies ist eine nach wie vor kontrovers diskutierte Schlüsselfrage. Aufgrund der aktuellen Evidenz kann man heute mit Sicherheit sagen, dass die Supplemente Menschen brauchen, die sie konsumieren. Falls jemand tatsächlich Supplemente braucht, dann hat er tatsächlich eine medizinische Ursache und Erklärung, die wenn immer möglich kausal behandelt werden muss. Diverse Studien aus verschiedensten Weltregionen zeigen, dass bei Abdeckung der Energie- und ­Proteinzufuhr und Abwesenheit von Krankheit (besonders auch Infektionserkrankungen) sogar der Eisenstatus aufrechterhalten werden kann [26]. Falls eine Mangelsituation oder Unterversorgung vorliegt, dann findet sich in der Regel eine Ursache. Eine symptomatische Therapie kann zeitlich limitiert indiziert sein, doch diese ersetzt nicht eine ursächliche Behandlung.
Während des Alterungsprozesses finden physiologische Veränderungen im Vitaminstoffwechsel statt [27, 28], was für eine gezielte Supplementierung im höheren Alter spricht. Diese Nährstoffe umfassen Vitamin B12, Vitamin D und Kalzium. Diese drei Nährstoffe sind aufgrund spezifischer Veränderungen im Stoffwechsel während dem Alterungsprozess mit einem höheren Risiko für eine Mangelsituation behaftet, sodass sich eine Supplementierung rechtfertigt. So nimmt die Absorption von Vitamin B12 und die Synthesekapazität von Vitamin D in der Haut mit dem Alter ab.
Verschiedenste Lebensstilfaktoren oder auch Pharmaka können den Vitaminstoffwechsel beeinflussen, was hier aber nicht im Detail diskutiert werden soll. Auf etwas Vergessenes soll aber hingewiesen werden: Finden sich bei einer eigentlich «gesunden» Person zu tiefe Vitamin-D-Spiegel (25(OH)Vitamin-D-Konzentration), dann sollte immer nach einer möglichen Ursache gesucht werden. Die Ernährung ist eine schlechte Vitamin-D-Quelle (ausser fortifizierte Nahrungsmittel, Tiefseefische oder Makrelen). Die wichtigste natürliche Quelle für Vitamin D ist die Sonne. Die Sonnenexposition korreliert mit dem Ausmass der Bewegung im Freien. Ein tiefer Vitamin-D-Spiegel ist bei näherer ­Betrachtung ein Proximarker für ungenügende körperliche Aktivität respektive ungenügende Sonnenlichtexposition, das heisst Bewegung im Freien [29, 30]. Wahrscheinlich wird die Assoziation zwischen Vitamin D und Herzkreislauferkrankungen durch diese ­Beziehung vorgetäuscht. Die Korrektur einer Vitamin-D-Unterversorgung durch vermehrte Bewegung im Freien ist mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht nur sinnvoller, sondern bezüglich Verbesserung des ­Gesundheitsstatus auch effizienter als durch Supplemente [31].
In den letzten Jahren zeigte sich auch, dass der «Mangel an Sonnenlicht» grosses pathophysiologisches Potential für die chronischen Erkrankungen hat und zwar unabhängig vom Vitamin D [31]. Eine Korrektur erniedrigter Vitamin-D-Spiegel durch Supplemente entspricht lediglich einer symptomatischen Therapie und führt über lange Sicht sicherlich nicht zum gewünschten Erfolg (ausser bezüglich Knochengesundheit) im Sinne der Vermeidung chronischer Erkrankungen. Die gesundheitlichen Effekte einer Anhebung des Vitamin-D-Spiegels durch vermehrte körperliche Aktivität im Freien kann man nur erahnen.

Schlussfolgerungen

Die Ernährungsphysiologie wird immer komplexer, und positive wie auch negative Interaktionen werden zunehmend erkannt. Ein Mangel hat immer eine Ursache, und die Therapie eines Nährstoffmangels sollte wenn immer möglich ursächlich sein. Evidenz für eine generelle Verschreibung und Einnahme von Vitamin-Supplementen liegt nicht vor, ausser in klaren Mangelsituationen und ein paar wenigen Erkrankungen ­(einige sind in diesem Artikel angesprochen). Es ist höchste Zeit, dass wir auch für die Einnahme von «banalen» Nährstoffen in pharmakologischen Dosen dieselben Evidenzkriterien einfordern wie bei Pharmaka.
Prof. Dr. med. Paolo M. Suter
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin
Universitätsspital
CH-8044 Zürich
paolo.suter[at]usz.ch