Tischlein deck dich!
Wir brauchen jeden «Knüppel aus dem Sack», um unsere Ziele zu erreichen

Tischlein deck dich!

Editorial
Ausgabe
2016/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01380
Prim Hosp Care (de). 2016;16(18):335-336

Affiliations
Präsident mfe

Publiziert am 28.09.2016

Ein Schneider lebt mit seinen drei Söhnen zusammen und einer Ziege, die sie mit ihrer Milch ernährt, wozu sie täglich auf die Weide muss und dort die allerbesten Kräuter fressen darf. Als der Älteste sie schön geweidet hat und fragt, ob sie satt sei, antwortet diese: «Ich bin so satt, ich mag kein Blatt: mäh! mäh!» Als aber der Vater zu Hause die Ziege fragt, antwortet sie mit einer Lüge: «Wovon sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein, und fand kein einzig Blättelein: mäh! mäh!» Der Vater ­erkennt die Täuschung der Ziege nicht und jagt im ­Affekt den Ältesten mit der Elle aus dem Haus. Den beiden anderen Söhnen ergeht es die folgenden Tage ­genauso.
Die Söhne gehen bei einem Schreiner, einem Müller und einem Drechsler in die Lehre. Am Ende bekommt der Älteste einen unscheinbaren kleinen Tisch mit; wenn man zu dem sagt «Tischlein, deck dich!», dann ist er sauber gedeckt und mit den herrlichsten Speisen versehen. Der Mittlere bekommt einen Esel; wenn man zu dem sagt «Bricklebrit!», dann fallen vorne und hinten Goldstücke heraus. Alle drei Söhne verzeihen dem Vater schliesslich während ihrer Wanderjahre und sehen die Möglichkeit, dass auch ihr Vater seinen Groll vergisst, sobald sie ihn mit ihrem eigenen Wunderding gewonnen haben. Die beiden älteren Söhne werden aber vor ihrer Heimkunft in ihrer Freigiebigkeit nacheinander vom selben Wirt betrogen, als der dem einen ein falsches Tischchen und dem anderen einen anderen Esel unterschiebt.
Der Jüngste bekommt von seinem Meister einen Knüppel im Sack, der jeden Gegner verdrischt, wenn man sagt «Knüppel, aus dem Sack!» und erst aufhört, wenn man sagt «Knüppel, in den Sack!». Damit nimmt er dem Wirt das Tischchen und den Esel wieder ab, als der ihm den Sack – verwendet als Kopfkissen – stehlen will, dessen Wert er ihm vorher gepriesen hatte. [1]
Die diesjährige Swiss Family Docs Conference in Montreux ist Vergangenheit. Der Tisch war unter dem Motto «Zusammen» reich gedeckt. Das Kongress-Organisationskomitee, unter der wie immer brillanten Anleitung durch Heidi Fuchs und ihre medworld, hat ein anspruchsvolles und vielseitiges Programm zusammengestellt. Neben Keynote-Lectures und Workshops aus allen Gebieten der Hausarztmedizin haben wir versucht, die Basis für eine verbesserte und vertiefte Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der medizinischen Grundversorgung zu schaffen. Das Thema der Interprofessionalität, eines der strategischen Hauptthemen unseres Berufsverbandes, beschäftigt uns seit Jahren, wir versuchen auch von Erfahrungen aus dem Ausland zu lernen. Der Vortrag von Prof. Ivy Oandasan, Hausärztin und Director of Education am College of Family Physicians of Canada, hat uns kompetent den Weg gezeigt, in Zukunft «gemeinsam im Sandkasten der medizinischen Grundversorgung zu spielen». Das herrliche Wetter und die wunderschöne Umgebung des Kongresszentrums in Montreux lockten zum Verweilen und zur Pflege der freundschaftlichen Kontakte untereinander.
Und trotzdem war die Teilnehmerzahl am diesjährigen Kongress relativ bescheiden. Ist Montreux für die Deutschschweizer zu abgelegen? So wie Bern vor einem Jahr kaum Romands angelockt hatte? Sind wir übersättigt? Wie das Geisslein im obengenannten Märchen meint: «Ich bin so satt, ich mag kein Blatt»…
Wir Haus- und Kinderärzte haben in den letzten sieben Jahren viel erreicht. Ein schlagkräftiger Berufsverband und eine starke gemeinsame Fachgesellschaft SGAIM wurden gegründet. Ein gemeinsamer Facharzttitel wurde geschaffen. Eine Volksabstimmung wurde gewonnen. Im Masterplan wurde unsere Arbeit auch finanziell aufgewertet.
Und trotzdem scheint unsere Generalversammlung (GV) auf unsere Mitglieder nicht besonders grosse Anziehungskraft auszuüben – auch wenn ein anwesendes Mitglied betonte, die Qualität der Anwesenden sei wichtiger als die Quantität. Schade, denn an der GV wurde zum ersten Mal unser erarbeitetes Grundversorgerkonzept vorgestellt. Gelegenheit für unsere Mitglieder, ihre Meinung dazu zu äussern, bevor es von der Delegiertenversammlung im November verabschiedet wird. Dieses Grundversorgerkonzept soll den Haus- und Kinderarzt, dessen Berufsbild von der SGAIM ausgearbeitet und in der letzten Ausgabe von PHC vorgestellt wurde, in seinem zukünftigen Berufsumfeld positionieren.
Ist der Erfolg selbstverständlich geworden? Geht die Entwicklung zu schnell? Oder im Gegenteil, in eine falsche Richtung? Springen wir – wieder frei nach den Gebrüdern Grimm – nur über Gräbelein und finden keine Blättelein?
Als Verband sind wir aber darauf angewiesen, in möglichst umfassendem Kontakt mit unseren Mitgliedern zu stehen, den Puls zu fühlen, Eure Meinung zu kennen. Unsere Kongresse wären dazu hervorragend geeignet, der Rahmen und das Ambiente für einen intensiven Austausch vorbereitet. Nur gemeinsam können wir unsere Ziele erreichen und unsere Erfolge konsolidieren. Wenn das «Tischlein deck dich» oder der «Goldesel» uns streitig gemacht werden, brauchen wir jeden «Knüppel aus dem Sack», um unsere Interessen zu wahren und unsere Ziele zu erreichen!
Deshalb fordere ich Euch auf: Kommt an unsere Kongresse, nehmt an unseren Generalversammlungen teil, lest unsere Mitgliedermails und diese Zeitschrift, nehmt Stellung zu unseren Umfragen!
Erneute Tarifverhandlungen stehen bevor, nachdem die letzten gescheitert sind. Keine Zeit, uns auf den erreichten Lorbeeren auszuruhen! Gemeinsam sind wir stark!
Dr. med. Marc Müller
Präsident mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz
Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
marc.mueller[at]hin.ch
1 «Tischlein deck dich, Esel streck’ Dich und Knüppel aus dem Sack», Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, KHM 36. Aus Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Tischchen_deck_dich,_Goldesel_und_Knüppel_aus_dem_Sack