Kurze Geschichten aus 1001 Nacht
Das Leben schreibt mit

Kurze Geschichten aus 1001 Nacht

Reflektieren
Ausgabe
2016/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2016.01459
Prim Hosp Care (de). 2016;16(23):435-436

Affiliations
Mitglied der Redaktion

Publiziert am 07.12.2016

Es ist schwierig, zum Thema dieses Heftes etwas Leichtfüssiges zu schreiben, und doch kommen mir auf einmal die unzähligen Geschichten in den Sinn, die wir – vor allem dank meiner Frau – in unserem Dorf mit Migranten und Asylbewerbern erlebt haben. Nur nebenbei bemerkt waren die Geschichten aus 1001 Nacht, wie übrigens auch unsere europäischen Märchen, immer schon voller Grausamkeiten.
Ich war nie der Kampagnentyp, während es meiner Frau passieren konnte, dass sie an irgendeiner Demonstration plötzlich eine Stange eines Transparents mitten im schwarzen Block trug. Sie hätte sachlich gesehen übrigens auch wegen anderen schrägen (aber nie unmoralischen) Unternehmungen hinter schwedischen Gardinen landen können; meine Kleinmütigkeit und Warnungen haben sie nur noch mehr angespornt, die Dinge so durchzuziehen, wie sie es im Kopf hatte. Es begann ja bereits damit, dass sie kurz nach unserer Rückkehr aus Peru – ich gerade im ersten Praxis­jahr – politische Bananen verkaufte, solche, die immer nach links gebogen waren (Nicabananen). Nicht unbedingt förderlich für die Aquisition von gutbürgerlichen Pa­tienten. Später, als im Rahmen der Balkankriege eine Gruppe geflüchteter junger Männer in einem Wohnwagen hinter dem Gemeindehaus Unterschlupf fand, sassen diese bald an unserer Weihnachtstafel. Nicht unbedingt zur Freude unserer Kinder, die erst rückblickend stolz darauf sind. Jeder dieser Jungs hatte seine eigene Geschichte, ob wahr oder erfunden. Viele stahlen sich bei Nacht und Nebel davon, einige wenige blieben. Einer machte Karriere und arbeitet heute in leitender Funktion in einem Betrieb der Baubranche. Er wurde vor wenigen Jahren mit seiner Frau und den Kindern eingebürgert. Ein anderer junger Mann, ein hübscher dunkler Kerl, wohnte bei einem älteren Ehepaar und durfte während der Skiferien unsere Wohnung benutzen. Er rückte mit ­einer 7 dl-Flasche Parfüm an. Unglaublich! Wahrscheinlich ist sie umgefallen, denn das Bad roch nachher wie der Innenhof eines Harems, so dass wir mitten im Winter stundenlang lüften mussten. Dann wurde an der Gemeindeversammlung beschlossen, dass die armen Kerle in der Zivilschutzanlage vegetieren müssten. Eine Gruppe von Leuten – Sie dürfen dreimal raten, wer dabei war – sammelte in unserem Dorf mit damals 1200 Einwohnern innert eines Monats Fr. 90 000 (!) und konnte das wegen seiner rosa Farbe so genannte Sugushüsli kaufen. Im letzten Moment machte die ­Gemeinde dann doch einen Schwenker und hat die jungen Leute in einem frei gewordenen Haus unter­gebracht, so dass das Sugushüsli-Geld wieder zurück gegeben werden konnte. Wenig später tauchte eine kleine rundliche Bolivianerin Sra. B. aus dem Nichts und ohne Papiere auf. Solche Menschen kannten wir aus unseren Jahren im Altiplano. Sra. B. arbeitete während Jahren als Putzfrau bei diversen Familien. Meine Frau schaute, dass sie ­einen gerechten Lohn bekam, eine Krankenkasse etc. Später folgte ihre Schwester, der wir, zusammen mit ­einer Gruppe von Menschen, die Vervollständigung der Ausbildung als Lehrerin und eine Operation für ­ihren Sohn bezahlten. Dann war plötzlich eine ganze Sippe von Romas im Dorf, die sich selbst und uns allen immer wieder Kummer bereiteten. Sie drehten die tollsten Dinge, echt böse waren sie nicht. Und sie sind unterdessen immer noch hier und sogar ein bisschen «eingeschweizert». Verstanden haben wir sie nie ganz. Während des Bürgerkrieges im ­Libanon wurde Mohammed mit Frau und Kindern ­unserem Dorf zugewiesen. Er musste sein Haus, seine Automobilwerkstatt – einfach alles – hinter sich lassen, und er hinkte wegen eines angeschossenen Knies. Wir mochten ihn alle sehr. Seine Frau war etwas schwieriger, eine echte Dame, stolz, sogar etwas hochnäsig. Es war ihr schnell einmal zu wenig. Weil sie nicht einmal ein Pijama hatte, kaufte meine Frau ein warmes Ding mit einem pseudorientalischen Blumenmuster. Die Frau des Mohammed weigerte sich glatt, diesen Greuel anzunehmen. So musste der Schreibende immer wieder neben dem textilen Scheusal nächtigen (denn so etwas wird von meiner Frau nicht einfach weggeworfen!) Mohammed selbst verrichtete Gelegenheitsarbeiten und frischte unter anderem das Tor meiner Werkstatt auf, so dass wir viele Jahre feierlich durchs das Portal des Mohammed schreiten konnten. Eines Tages waren auch unsere Libanesen wieder weg; hoffentlich zurück in ihrer Heimat? Ach ja, da war noch diese junge Tschechin, Frau Ba. die in der Not einen knorrigen Bauern mitsamt seinem Heimetli am steilen Schattenhang heiratete. Meine Frau kannte sie von der Praxis, und obwohl wir damals noch ziemlich spitz rechnen mussten, steckte sie ihr immer wieder einmal einen Hunderter, damit sie nach Hause telefonieren konnte (was damals noch teuer war!) oder auch einmal mehrere Scheine, damit die Mutter von Frau Ba. für die Geburt des ersten Kindes aus der fernen Heimat anreisen konnte.
Sie merken, in dieser Geschichte kommen, anders als bei 1001 Nacht, keine echten Helden und Märtyrer vor, und vielleicht sind sie ­gerade deswegen so banal und gewöhnlich. Wenn man nur genug lange sucht, findet man jedoch die gleichen Menschentypen und -geschichten bei uns. Les choses de la vie, nicht wahr!
Ich möchte die grosse Problematik der Migration und noch viel mehr diejenige von Unterdrückung, Erniedrigung, Krieg und Elend nicht verharmlosen. Was ich mit diesen Geschichten sagen will: Es gibt eine allgemeine Erfahrung, dass die Fremden, die aus der Anonymität treten und ein Gesicht und eine Geschichte bekommen, ihre Bedrohlichkeit verlieren. Einige von ihnen werden gute Nachbarn oder sogar Freunde. Es gibt dazu die alte Geschichte des Arbeiters, der meinte, er habe manchmal seine liebe Mühe mit den Türken, aber über seinen Kollegen Ali lasse er nichts kommen. Er müsse unter den Schweizern lange suchen, bis er ­einen solch guten Kerl wie ihn finde.
In unserem Lande betreuen Tausende von Ärzten Asylbewerber und Migranten in der Sprechstunde, einige Dutzend verrichten ihre Arbeit in Auffangzentren oder Betreuungseinrichtungen. Und dann gibt es die besonders Engagierten, die im Traumazentrum arbeiten oder ein Beratungsbüro für Sans Papiers aufgebaut haben. Ich zähle darauf, dass jeder von uns Fremde gut behandelt und das tut, was im Bereich seiner Möglichkeiten liegt. Wenn auch nicht alle Ärzte an Demonstrationen und Standaktionen teilnehmen, leisten sie eine wichtige Arbeit im Kleinen. Denken Sie daran, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn es um Menschenrechte und den Einsatz für Vertriebene geht, um die Behandlung von Traumatisierten, oder die Fürsprache für politische Gefangene, haben wir als Ärzte ein grosses Gewicht und eine hohe Glaubwürdigkeit. Alles, was wir für die Schwachen und Verfolgten tun (auch wenn es wenig zu sein scheint) ist gut getan. Geben wir es nie auf, besonders jetzt, wo die Zeichen in manchen Ländern auf Sturm stehen, für das einzustehen, was die ureigenste Plicht unseres Berufes ist: die Würde des Menschen zu bewahren.
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für
Allgemeinmedizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch