Bewegung trotz Sportdispens: activdispens.ch
activdispens.ch

Bewegung trotz Sportdispens: activdispens.ch

Lernen
Ausgabe
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01369
Prim Hosp Care (de). 2017;17(04):73-77

Affiliations
a Vizepräsidentin Schweizerische Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining (www.sart.ch); Dozentin Studiengang Physiotherapie BSc, BZG Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt; MSc Sportphysiotherapy, BSc Physiotherapie. Mitglied Projektleitung; info[at]activdispens.ch
b Verantwortlicher Weiterbildung im Schweizerischen Verband für Sport in der Schule (www.svss.ch); eidg. Diplomierter Sportlehrer II, Gymnasium Oberwil, BL. Mitglied Projektleitung; info[at]activdispens.ch
c Präsidentin Schweizerische Gesellschaft für Sportmedizin (www.sgsm.ch); Scientific Staff / Project Manager / Privatdozent Institute of Social and ­Preventive Medicine, University of Zürich; susi.kriemlerwiget[at]uzh.ch

Publiziert am 22.02.2017

Mit activdispens können teilzeitdispensierte Schülerinnen und Schüler wieder ­aktiv in den Schulsportunterricht ­integriert werden. Es beinhaltet ein Schulsportdispensationsformular, das mit einem Katalog von 54 Übungen verbunden ist.

Hintergrund

Heutzutage bewegen sich Kinder und Jugendliche weniger häufig als noch vor einigen Jahren. Wenigstens werden sie in den obligatorischen Schulsportstunden zu Aktivität animiert. Doch sobald sie von kleineren Verletzungen oder leichtem Unwohlsein geplagt werden, bewegen sich viele Kinder und Jugendlichen nicht mehr, was ihre Inaktivität weiter fördert.
Das Ziel des Projekts activdispens ist, diesen Teufelskreis zu durchbrechen und die Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten und Sportlehrpersonen betreffend Schulsportdispensationen zu unterstützen. Weiter möchte das Projekt Kinder und Jugendliche ­darauf sensibilisieren, wie wichtig physische Aktivität für die Gesundheit und das Wohlbefinden sind.
activdispens gibt Sportlehrpersonen ein «Instrument», mit dem sie teilzeitdispensierte Schülerinnen und Schüler aktiv in den Schulsportunterricht ­integrieren können. Weiter soll das entwickelte Dispensations­formular wie auch der detaillierte Übungskatalog Ärztinnen und Ärzten die Sicherheit geben, dass die teilzeitdispensierten Schülerinnen und Schüler in ihrem Sinne aktiv in den Schulsportunterricht integriert werden können, ohne dass zusätzliche Verletzungen sowie erneute Verschlechterungen hervorgerufen werden.
activdispens beinhaltet ein standardisiertes Schulsportdispensationsformular, das mit einem Übungskatalog von 54 physiotherapeutischen Übungen verbunden ist. Alle Übungen sind einfach und (fast) selbsterklärend durchzuführen und benötigen kein spezielles Material zur Ausführung. Die Übungen können Online auf der Webseite (activdispens.ch) angeschaut sowie als PDF heruntergeladen werden.
Aktuell kann activdispens in den vier Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch benutzt werden.
Die Akzeptanz und Unterstützung von Sportlehrpersonen gegenüber dem Projekt ist bereits sehr gross. In nächsten Schritten sollen die Kontakte zu Ärztegesellschaften intensiviert werden, um activdispens auch bei Ärztinnen und Ärzten weiter ­bekannt machen zu ­können. Das Sportdispensationswesen an Schweizer ­Schulen ist ein wichtiges und anzugehendes Thema, um die ­zunehmende Inaktivität unserer Kinder und Jugendlichen in eine andere Richtung zu lenken.

Einführung

Der Grundgedanke des Projektes ist die aktive Integration teilzeitdispensierter Schülerinnen und Schüler in den Sportunterricht. «Eine völlige Freistellung vom Sport in der Krankheits-, Verletzungs- oder Behinderungsphase widerspricht in zahlreichen Fällen den heutigen Kenntnissen und Erfahrungen der Sportmedizin» [1]. Schon vor zehn Jahren haben Hebestreit et al. [1] die Wichtigkeit von Schulsport und der Bewegung während Krankheits- oder Verletzungsphasen hervorgehoben. Heutzutage ist die Relevanz von Schulsport und der damit verbundenen Bewegung bei Kindern und Jugendlichen nicht weniger geworden. Unsere Gesellschaft wird immer mehr durch Computer, Internet und andere Medien beeinflusst, und unser Alltag hat sich in den letzten Jahren vermehrt hin zu passiver Haltung verändert. Aber nicht nur im Berufs- und Erwachsenenleben ist dieser Wandel zu spüren, auch Kinder und Jugendliche ­kommen immer mehr in eine Passivität. Hinzu kommt, dass generell immer weniger Spiel- und Bewegungsräume vorhanden sind.
In diesem Zusammenhang nimmt vor allem der obligatorische Schulsport eine zentrale Rolle ein. Dieser kann zu einer Unterbrechung des Teufelskreises führen. Das Ziel des Schulsports könnte nach Kurz [2] wie folgt lauten: «Schüler lernen aus der Reflexion ihrer ­Erfahrungen, welcher Sport ihnen, gesundheitlich betrachtet, gut tut. In diesem Prozess differenzieren sie ihr Gesundheitsverständnis und ihre Vorstellungen von den Wirkungen des Sports. Zugleich erweitern sie ihre Handlungsfähigkeit, indem sie lernen, Sport ­gesundheitsbewusst zu betreiben, gesundheitlich zu beurteilen und gegebenenfalls auch aus gesundheit­lichen Gründen zu verändern.»
Aus diesem Blickwinkel ist Schulsport das perfekte Mittel, um dem Bewegungsmangel und dem verminderten Gesundheitsbewusstsein unserer Kinder und Jugendlichen Einhalt zu gebieten. Doch was geschieht, wenn Kinder und Jugendliche aufgrund von Verletzungen oder Krankheitssymptomen für eine bestimmte Zeit nur bedingt am Schulsportunterricht teilnehmen können?

Problematik

Auch wenn in beiden Berufen, dem der Ärztin/des ­Arztes und dem der Sportlehrperson, die Gesundheit und deren Förderung zugrunde liegen, zeigen sich unterschied­liche Voraussetzungen in Bezug auf Sportdispensationen. Sportlehrpersonen möchten Schülerinnen und Schüler, wenn immer möglich, aktiv in den Unterricht integrieren und benötigen dabei klare Anweisungen von ärztlicher Seite. Ärzte hingegen haben wenig Zeit, um Sportdispensationen auszustellen und möchten dies schnellstmöglich erledigen. Weiter tragen sie die Verantwortung für die Patienten und möchten auf keinen Fall, dass sich die Situation durch in­korrekte Bewegung und Aktivität verschlechtert, oder eine erneute Verletzung auftritt. Diese unterschied­lichen Voraussetzungen erschweren die Entwicklung eines einheitlichen Sportdispensationsformulars und der damit verbundenen Möglichkeit, Teilzeitdispensationen im gewünschten Kontext ausstellen beziehungsweise angehen zu können.
Ein erstes Teilziel von activdispens lag somit darin, herauszufinden, welche Voraussetzungen in Bezug auf die Sportdispensation aus ärztlicher Sicht und aus Sicht von Sportlehrpersonen erfüllt sein müssen, um vermehrt Teilzeitdispensationen auszustellen und teilzeitdispensierte Schülerinnen und Schüler aktiv in den Sportunterricht zu integrieren. Die erfragten Rückmeldungen sollten anschliessend dazu dienen, ein einheitliches Sportdispensationsformular zu entwickeln, das die Teilzeitdispensationen und die aktive Integration teilzeitdispensierter Schülerinnen und Schüler im Schulsport vereinfacht.
Ein weiteres Ziel war die Erstellung eines Übungskataloges, der einfach und mit wenig Aufwand und Vorbereitungszeit die Sportlehrpersonen unterstützen soll, teilzeitdispensierte Schülerinnen und Schüler ­aktiv in den Schulsportunterricht zu integrieren.

Methodik – Dispensationsformular

Mittels Fragebögen, die an 2600 Mitglieder von drei schweizerischen Ärztegesellschaften, an die Ärztinnen und Ärzte des Universitäts-Kinderspitals beider Basel sowie an ca. 4000 Sportlehrpersonen des Schweizerischen Verbands für Sport in der Schule versandt wurden, wurde eine Bedarfsanalyse erstellt. Im Anschluss wurde ein Schulsportdispensationsformular (Abb. 2) entwickelt, das die Bedürfnisse der Ärztinnen und Ärzte sowie Sportlehrpersonen zum grössten Teil abzudecken versuchte.
Abbildung 2: Dispensationsformular.

Methodik – Übungskatalog

Basierend auf dem Dispensationsformular wurde ein Übungskatalog mit insgesamt 54 Übungen erstellt. Die Übungen wurden mithilfe von physiotherapeutischer und schulsportspezifischer Fachliteratur zusammengetragen. Wichtig bei den einzelnen Übungen ist, dass diese einfach und ohne viel Instruktion (fast selbsterklärend) durchgeführt werden können. Weiter dürfen die Übungen keine erneuten Verletzungen hervor­rufen oder die leichten Erkrankungen verstärken. Zusätzlich war wichtig, dass für die Durchführung der Übungen fast ausschliesslich Material benötigt wird, das in allen Schulsporthallen zu finden ist.
Nach Erstellen des Übungskataloges wurden die 54 Übungen gefilmt. Als Probanden stellten sich eine Schülerin und ein Schüler des Gymnasiums Oberwil im Kanton Baselland zur Verfügung. Zusätzlich wurden alle Übungen beschreibend erklärt und als PDF-Dokumente (Abb. 3) festgehalten. Zur besseren Übersicht wurde ein Poster (Abb. 1) erstellt, das alle Übungen auf einen Blick zeigt.
Abbildung 3: Beispielübung Gewicht heben.
Abschliessend konnten alle erstellten Unterlagen sowie Hintergrundwissen und Anwendungsmöglichkeiten auf einer eigenen Webseite implementiert werden [3]. Dies ermöglicht bei Benutzung mit Internetzugang, die gewünschten Übungen direkt online ansehen und mit Hilfe der Videos ausführen zu können. Sollte kein Internetzugang zur Verfügung stehen, können die Übungen ausgedruckt und anhand der beschriebenen Anleitung durchgeführt werden.

Der Aufbau des Übungskatalogs

Der Übungskatalog ist in zwei Hauptkategorien eingeteilt: «Verletzungen» und «Krankheit» (Tab. 1).
Tabelle 1: Aufbau des Übungskatalogs.
HauptkategorieUnterkategorie
VerletzungenUntere Extremität (bei Verletzung 
der oberen Extremität)
Obere Extremität (bei Verletzung 
der unteren Extremität)
Rumpf (je nach Art der Verletzung betroffene Extremität nicht einbeziehen)
KrankheitKopfschmerzen
Menstruationsbeschwerden
Unwohlsein
Unspezifische Rückenschmerzen
Erkältung ohne Fieber
Allergien
Jeder Übung wurden bestimmte Konditionsfaktoren bzw. Faktoren der Koordination oder der Entspannung zugeordnet. Die Kennzeichnung erfolgt mittels Farben:
– Blau: Ausdauer
– Rot: Kraft
– Gelb: Beweglichkeit
– Grün: Koordination
– Pink: Entspannung
Um die Übungen zielführend ausüben zu können, sind bei jeder Übung Belastungsvariablen vermerkt. Die Ausführung erfolgt in gleichbleibend ruhigem Rhythmus und nach Möglichkeit beidseitig. Zur besseren Identifizierung der Übung sind diese betitelt und nummeriert.

Pilotphasen

Als die Webseite bereit zur Veröffentlichung war, wurde von Oktober 2013 bis Januar 2014 in den Kantonen Basel-Stadt (BS) und Baselland (BL) eine erste Pilotphase durchgeführt. 15 Schulen (Sekundarstufe I und II sowie Berufsschulen) haben sich bereit erklärt, in dieser Phase den Übungskatalog im Unterricht auszuprobieren und, wenn möglich, bei teildispensierten Schülerinnen und Schülern anzuwenden. Weiter wurden das Dispensationsformular sowie ein Begleitflyer an einen Teil der Ärzteschaft der Region verschickt, mit der Bitte, das Formular gegebenenfalls zu benutzen.
Im Anschluss an die erste Pilotphase wurde eine zweite Pilotphase angedacht. Diese sollte in einzelnen anderen Kantonen stattfinden und die Einbindung von Schul- oder Allgemeinärztinnen und -ärzten gewährleisten. Die Kantone Zug und Fribourg haben sich sofort bereit erklärt, bei der zweiten Pilotphase, die im Januar 2015 gestartet hat und im Sommer 2016 evaluiert wurde, mitzuwirken und das Projekt in ihren Kantonen flächendeckend unter den Schulärztinnen und -ärzten sowie Sportlehrpersonen zu verbreiten.
Damit das Projekt in näherer Zukunft nicht nur die deutschsprachige Schweiz erreicht, sondern auch ­gesamtschweizerisch verbreitet werden kann, wurden die entwickelten Dokumente und die Webseite ins Französische, Italienische und Englische übersetzt und implementiert. Voraussichtlich 2017 wird activdispens dann auch in Rumantsch Grischun zur Verfügung stehen.

Ausblick – Fazit für die Praxis

Anhand der Auswertung der Evaluation der Kantone Zug und Fribourg werden weitere Schritte für die Verbreitung des Projekts activdispens in die Wege geleitet.
Dank der erneuten Unterstützung des BASPO (Bundesamt für Sport) konnte das Projekt auf Englisch übersetzt werden, da es international bereits präsentiert worden war und einige Beachtung erfahren hatte.
Damit in Zukunft auch ohne Internetzugang mit activdispens gearbeitet werden kann, unterstützt das BAG (Bundesamt für Gesundheit) weiter die Entwicklung einer ­Anwendungssoftware (App). Diese Neuerung wird Anfang 2017 erwartet.
Da sich der zunehmende Bewegungsmangel und die Passivität im Alltag bei Kindern und Jugendlichen vermutlich in den nächsten Jahren nicht verbessern, sondern tendenziell eher noch verschlechtern wird, und sich Menschen auch in Zukunft verletzen oder krank werden, wird das Thema von Dispensationen im Schulsport weiter aktuell bleiben. Man darf gespannt sein, inwieweit das Projekt «activdispens – Bewegung trotz Sportdispens» diese Thematik beeinflussen wird oder vielleicht sogar als Meilenstein zu einer positiven Entwicklung beitragen kann.
Initianten der Projektidee «activdispens – Bewegung trotz Sport­dispens» sind die Schweizerische Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining (www.sart.ch) und der Schweizerische Verband für Sport in der Schule (www.svss.ch). Unterstützt wird das Projekt durch das ­Universitäts-Kinderspital beider Basel (www.ukbb.ch), das Bundesamt für Sport (www.baspo.ch) und das Bundesamt für Gesundheit 
(www.bag.admin.ch).
Claudia Diriwächter
Vizepräsidentin Schweizerische Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining ();
Dozentin Studiengang Physiotherapie BSc, BZG Bildungszentrum ­Gesundheit Basel-Stadt;
MSc Sportphysiotherapy, BSc Physiotherapie.
Mitglied Projektleitung
info[at]activdispens.ch
1 Hebestreit H, Ferrari R, Meyer-Holz J, Lawrenz W, Jüngst B-K. Kinder- und Jugendsportmedizin, Grundlagen, Praxis, ­Trainingstherapie, In: Thieme, Stuttgart, New York; 2002.
2 Kurz D. Von der Vielfalt sportlichen Sinns zu den pädagogischen Perspektiven im Schulsport. In: D. Kuhlmann & E. Balz (Hrsg.), Sportpädagogik. Ein Arbeitstextbuch, Hamburg: Czwalina, 2008, p. 162–72.
3 Bewegung trotz Sportdispens. activdispens.ch.
http://activdispens.ch/. (Zugriff am 12.7.2016).