Stiller Abgang - Palliative Care in der Hausarztpraxis
Palliative Care in der Hausarztpraxis

Stiller Abgang - Palliative Care in der Hausarztpraxis

Lernen
Ausgabe
2017/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01385
Prim Hosp Care (de). 2017;17(10):199-202

Affiliations
Palliativzentrum, Kantonsspital St.Gallen

Publiziert am 24.05.2017

Palliative Care hat sich aus der Hospizbewegung heraus entwickelt. Die Hospizbewegung ihrerseits ist die von der Gesellschaft wahrgenommene Verantwortung gegenüber schwerkranken und sterbenden Menschen mit ihren medizinischen, sozialen, pflegerischen und spirituellen Bedürfnissen.

Einführung

Um den Bedürfnissen Schwerkranker und Sterbender gerecht zu werden, braucht es einen Zugang, der den Menschen in mindestens den vier Dimensionen – physisch, psychisch, sozial und spirituell – sieht. Damit wir diesen Dimensionen des Menschseins gerecht ­werden können, braucht es Medizin und Pflege, aber auch die Unterstützung anderer Professionen. Ursprünglich wurde der Begriff der Palliative Care «kreiert», um das hospizliche Vorgehen im Krankenhaus – der Akutversorgung – zu implementieren. Die meisten Menschen mit palliativen Bedürfnissen befinden sich in der Grundversorgung – der Hausarztmedizin, der Spitex und im Pflegeheimbereich.

Definition Palliative Care WHO 2002

Palliative Care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psycho-social and spiritual.
Anhand von zwei Patientenbeispielen (siehe Fallvignetten) haben wir die Diskussion aufgenommen, wie die Intention (gemäss Definition) von Palliative Care im Hausarztalltag gestaltet werden kann. Es wurde aufgezeigt, dass Palliative Care ein problemorientiertes, patientenzentriertes Vorgehen bei komplexen Fragestellungen ist. Dabei ist eine Priorisierung der Fragestellung meist unabdingbar, und wir müssen uns im Klaren sein, was unter Lebensqualität verstanden und wie dieser Begriff konzeptionalisiert werden kann. In Palliativsituationen ist ein systematisches Vorgehen – zum Beispiel nach dem SENS-Modell – meist hilfreich.

Fallvignette 1

Patientin BM, Jahrgang 1927
– Bis in 90er gesund. Diagnosen zwischenzeitlich: arterielle Hypertonie, Basaliom linke Wange, Glaukom-/Kataraktoperation 2006.
– 2010 Erschöpfung, Schwindel, Angst, morgendliche Müdigkeit, weniger Appetit. Labor/Röntgen Thorax/Ultraschall Abdomen ohne Befund. Mit Citalopram und Maprotilin ohne Veränderung, unter Flupentixol/Melitracen besser. Im Bericht der Gastrenterologin steht «Appetit eher schlechter, was Frau BM in Zusammenhang damit bringt, dass sie halt alleine essen müsse» und «epigstrische Schmerzen jeweils mit Klosterfrau Melissengeist therapiert».
– 2012 Gerontopsychiatrie bei akutem Verwirrtheitszustand: Delir bei Demenz, depressive Episode. CT Leukenzephalopathie. Alles im Rahmen eines Harnweginfekts? Entlassung nach Hause.
– Verwitwet seit 2001, Krebstod Ehemann. Sechs Kinder, davon zwei Töchter psychisch erkrankt (Depression, Psychose), einziger Sohn 55-jährig plötzlicher Herztod. Früher als Näherin gearbeitet. Liest gerne und viel. Ehemaliger Hausarzt: «immer viel geschafft».
– Erneute psychische «Entgleisung» 2013 nach Anbehandlung eines Harnweginfekts, wieder sechs Wochen Gerontopsychiatrie. Keine Diagnoseänderung. Entlassung mit Risperidon, Haloperidol.
– Seither stabil. Reduktionsversuche Risperidon (wegen Schwindel und Antriebsarmut) endeten immer wieder in präpsychotischen Zuständen.
– Aktuelle Situation: geht an Rollator nur auf Aufforderung aus dem Zimmer. Liest fast nichts mehr. Gespräche, die früher zwar auch mit viel Zeitaufwand geführt wurden, enden in beidseitiger Ratlosigkeit und Schweigen.
– Letzter Hausbesuch: was sie denn heute unternehmen werde: «warten».

Lebensqualität

Der Begriff der Lebensqualität wurde genauer betrachtet. Gemäss Calman [1] kann Lebensqualität als Differenz zwischen den Erwartungen und der Realität/Möglichkeiten gesehen werden (Abb. 1). Als Mediziner sind wir uns bewusst, dass wir an beiden Variablen arbeiten, nämlich
1. den Patienten dahinzuführen, seine Erwartungen dem Gesundheitszustand anzupassen und
2. durch medizinische Interventionen seine Realität/Möglichkeiten zu verbessern.
Abbildung 1: Lebensqualität: Calman Gap. Modifiziert aus Calman KC. Quality of life in cancer patients-an hypothesis. 
J Med Ethics. 1984 Sep;10(3):124–7.
Lebensqualität ist damit wandelbar/adaptierbar, ist maximal subjektiv (nur der Patient kann definieren, was für ihn Lebensqualität ist) und definiert sich nicht nur durch die körperlichen Symptome. Die Suche nach den Ressourcen des Patienten und die Evaluation seiner ­Coping-Strategien sind hier wichtige Merkmale, die es in das Vorgehen einzubeziehen gilt.

Das SENS-Modell

Fallvignette 2

Patientin IR, Jahrgang 1920
– Sohn ruft mich im Samstagsdienst an und bittet um Hausbesuch. Ich kenne die Patientin nicht.
– Patientin seit vielen Jahren verwitwet und alleine lebend, grösstenteils selbständig, chronische Lungenerkrankung, nie richtig abgeklärt, vor einigen Monaten deshalb im Spital, verweigerte genauere Untersuchungen. Durch Diabetes mellitus sehbehindert, sei zunehmend zurückgezogen, «verbittert». Guter, aber eher sporadischer Kontakt zu den Kindern.
– Sei bei Exit, habe schon lange davon geredet, nun aber Exit bestellt, um aus dem Leben zu scheiden. Diese habe sofort einen Termin mit ihr festgelegt und es passiere am Nachmittag
– Bittet um Hausbesuch um eventuell Umstimmung zu errreichen; «Es ist doch noch nicht alles an Untersuchungen gemacht worden». Der Sohn hat Mühe, diese schnell entstandene Situation anzunehmen.
– Diagnosen Unterlagen: Unklare interstitiell-alveoläre Pneumopathie, DD medikamentös, kardial; arterielle Hypertonie; Typ-2-Diabetes, intermittierend insulinpflichtig; Niereninsuffizienz III; Status nach Hüft-Totalprothese rechts 2005; Medikamente: Hydrochlorothiazid/Lisinopril, Gliclazid, Zolpidem.
– Hausbesuch: Mutter empfängt mich abweisend («Sie können mich nicht mehr umstimmen»), ich darf jedoch in die Wohnung kommen. Patientin gehfähig, Anstrengungsdyspnoe, verneint Schmerzen. Gespräch stockend, in Kürze knappe Vertrauensbildung, patientenseits wenig Schwingung. Stereotype «es ist entschieden». Der zuständige Exit-Arzt habe unterschrieben, das Medikament sei schon parat. Angesprochen auf eine eventuelle depressive Sicht der Situation, in der möglicherweise schon allein medikamentös etwas erzielt werden könnte, besteht Widerstand.
– Gespräch dreht sich im Kreis, auch körperliche Untersuchung (Lungenauskultation) wird abgelehnt. Als Sohn und Schwiegertochter kommen, beendet Patientin das Gespräch.
– Später erfahre ich vom Sohn, dass die Exit-Beauftragte im Laufe des Samstagnachmittags bei der Patientin war und im Anschluss an die Na-Phenobarbitaleinnahme der Amtsarzt kam.
Das systematische Vorgehen nach dem SENS-Modell (Tab. 1) leitet sich als Konsequenz aus den Bedürfnissen schwerkranker und sterbender Menschen ab. Diese sind die Bedürfnisse nach Selbsthilfe, Selbstbestimmung, Sicherheit und Support.
Tabelle 1: Das SENS-Modell 
(adaptiert nach S. Eychmüller [2])
SSymptomkontrolle
 Selbsteinschätzung
«Eigenes Krankheits- und Prognoseverständnis»
Selbstwert
«Was muss ich wissen, um sie möglichst gut.....?»
Spiritualität
«Sinn des Lebens, Kraftquelle in schwierigen Situationen, höhere Macht, Transzendenz?»
EEntscheidungsfindung
 Ende des Lebens
«Gibt es noch Unerledigtes? Verabschiedungen? Versöhnung? Vermächtnis?»
NNetzwerk
SSupport von Angehörigen, Teams
Bei Frau BM könnte das Vorgehen zu folgenden Fragestellungen führen:
S = Symptomkontrolle/Selbstwert/Selbsteinschätzung: Besteht eine psychiatrische Störung, die zu beheben wäre, um die Selbst-Hilfe wieder zu stärken? Besteht zum Beispiel eine depressive Störung oder ein psychotisches Zustandsbild, die/das medikamentös beeinflusst werden kann? Aktuell kann die Lebensqualität (Selbstwert) und die Selbsteinschätzung schlecht abgeschätzt werden, da sich die Patientin dazu nicht äussert/nicht äussern kann. Die Funktionalität – körperliche und soziale allenfalls auch psychische Aktivität bzw. Interaktion mit der Umwelt – ist ­sicherlich eingeschränkt. Diese eingeschränkte Funktionalität darf aber nicht unmittelbar mit herabgesetzter Lebensqualität gleichgesetzt werden. Erst wenn eine allfällige psychische Störung oder spirituelle Bedürfnisse angegangen wurden, kann evaluiert werden, ob die Funktionalität veränderbar ist und sich die Pa­tientin zu ihrer Lebensqualität äussern kann.
E = Entscheidungsfindung: Diese ist zurzeit ziemlich paternalistisch – die Hausärztin entscheidet gemeinsam mit dem Pflegepersonal des Heims für die Patientin (und im Sinne der Patientin = mutmasslicher Wille), ob etwas verändert oder ob das «Warten» als beste aller aktuellen Lösungen akzeptiert werden soll.
N = Netzwerk: Dieses ist vorhanden; es muss zurzeit nichts unternommen werden.
S=Support: Kann dem Team des Pflegeheims darin gegeben werden, dass es Instrumente, Hilfsmittel oder Beurteilungskriterien zur Beobachtung und Einschätzung möglicher psychischer Symptome und/oder Verhaltensweisen erhält, um sich im Umgang mit der Patientin sicherer zu fühlen. Allenfalls kann auch durch Beizug einer Psychologin, eines Psychiaters oder einer Pflegefachperson der Psychiatrie Unterstützung und Klärung erfolgen.
Bei Frau IR zeigt sich eine ganz andere Situation, die aber ebenfalls durch das Vorgehen nach SENS angegangen werden kann. Die erste Frage ist, wer benötigt hier Hilfe? – Die Hilfe wird vom Sohn angefordert. Im Sinne der Patientenzentriertheit haben wir somit also keinen Auftrag der Patientin. Im Sinne der Palliative Care-Definition möchten wir den systemischen Blick jedoch nicht vernachlässigen und auch die Lebensqualität der Angehörigen verbessern. Damit haben wir in der Patientensituation von Frau IR ein Dilemma, das kaum zu lösen ist – schon gar nicht in der gegeben kurzen Zeitspanne als Stellvertreter. Dieses Zuzugestehen, keine Lösung zu haben, gehört auch zur Palliative Care und soll nicht zu einem Aktionismus verleiten und schon gar nicht zu einem missionarischen Handeln führen. Diskutiert haben wir im Workshop, ob und falls ja, dem Sohn wie und wann Hilfe angeboten werden kann. 
Ob es hilfreich sein könnte in der aktuellen Situation mit Mutter und Sohn das gemeinsame Gespräch zu suchen und mindestens die jeweiligen Standpunkte gegenseitig darzulegen? Die Meinungen waren sehr unterschiedlich. Sie müssen und sollen auch in ihrer Unterschiedlichkeit bestehen bleiben. Als wichtig empfunden wurde aber, dass durch das systematische Vorgehen aufgedeckt werden konnte, dass der Auftrag und der Auftragsgeber zuerst geklärt werden müssen (Patientenzentriertheit) bevor wir nach Problemen und dann nach Problemlösungen suchen.

Fazit

Somit darf zusammenfassend gesagt werden: Der Hausarzt besitzt viele Kompetenzen, die zur optimalen palliativen Betreuung hilfreich sind (Tab. 2). Diese umfassen das patientenorientierte Vorgehen, ohne den systemischen Blick (auf die Familie) zu verlieren, Verantwortung zu übernehmen, aber auch mit Situationen umgehen zu können, in denen es keine Lösungen gibt. Da Sterben und Tod in vielen Hausarztpraxen nicht zum Alltag gehören und jedes Sterben einzigartig ist, müssen wir uns immer bewusst sein, dass wir Lernende in dieser Grenzsituation des menschlichen Lebens sind. Begrifflichkeiten – zum Beispiel Lebensqualität, Leiden – sollten geklärt sein, damit sie konzeptionalisiert und handlungsweisend werden können. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass am Lebensende die Medizin – ohne diese zu verleugnen – eine untergeordnete Rolle spielt; die Sozialsorge, die Seelsorge und die Mitmenschlichkeit sind ebenso wichtige Zugangswege wie die rein medizinischen Kompetenzen. Palliative Care wird durch ein systematisches Vorgehen erleichtert, dadurch verliert man sich weniger im Detail der Komplexität der Situation. Zudem fordern komplexe Situationen komplexe Zugänge, diese können nur durch unterschiedliche Blickwinkel – diese wiederum durch verschiedene Personen aus unterschiedlichen Professionen – angegangen werden, Teamarbeit ist somit unabdingbar. Dies alles mit dem Blick auf die Bedürfnisse von Patient und Angehörigen (Tab. 3).
Tabelle 2: hausärztliche Kompetenzen, die für 
Palliativ­situationen hilfreich sind
Ganzheitlicher Ansatz
– Alle Dimensionen: bio-psycho-sozial
Spezifische Problemlösungsfähigkeiten
– Symptombehandlung (nicht primär Diagnose)
– Leiden lindern
– Sind gewohnt zu entscheiden
– Umgehen mit Unsicherheiten
Primärversorgung
Erstkontakt, offen für alle Problemstellungen
– Begleitung bis zum Sterben
Personenbezogene Betreuung
– Patientenzentriert
– Arzt-Patienten Beziehung
– Patient hat den Arzt ausgesucht!
– Auch Umfeld im Fokus
– Beziehung auch zur Familie
– Beziehung zur Familie, auch nach dem Tod eines Patienten
– Kontinuität der Betreuung (langes Wissen)
Betreuung zuhause und im Pflegeheim
Gesellschaftsausrichtung
– Verantwortung für Gesundheit der Bevölkerung
Wissen um
– Krankheit
– Art der Kommunikation
– Coping (wie werden schwere Schicksalsschläge verarbeitet?)
– frühere Äusserungen bezüglich Lebensphilosophie
– Wissen um Familiengeschichte
Stützen der Autonomie
– Biographischer Hintergrund, Familiensystem, Informationsstand ...
– Autonomiefähigkeit
Hilfe am Lebensende
Gutes Sterben
– Frühere Äusserungen
Tabelle 3: … denn das wollen die Patienten und Angehörigen von uns?
S– Gute Symptomkontrolle, wenn der Tod näher rückt
– Gute psychologische Kompetenzen den Ärzte
E– Offene Kommunikation über alle Aspekte des Sterbens in einfacher, verständlicher Sprache
– Einen Profi und Chef, der bei schwierigen Entscheidungen mithilft
– Einen Hausarzt, der bei schwerwiegenden Entscheidungen einbezogen wird
– Jemanden, der mit den Betroffenen eine Patientenverfügung verfasst
N– Beste Information über palliative Angebote
– Dass der Hausarzt die Schwerkranken in der Praxis noch sieht, nicht erst in der Sterbephase
– Optimales Nahtstellen-Management: Übergabe Spital an Hausarzt/Spitex
– Dass sich Netzwerkpartner gegenseitig kennen (Hausarzt, Spitex, Spital)
– Dass man direkt eine Nummer wählen könnte ­
(24 Stunden)
– Möglichst konstante, verfügbare Ansprechpartner
– Wenig «Krieg» zwischen den verschiedenen Berufsgruppen
S– Jemand, der das ganze Team und die Angehörigen ­unterstützt
Dr. med. Daniel Büche
Leiter Palliativzentrum, Kantonsspital St.Gallen
CH-9007 St. Gallen
Daniel.Bueche[at]kssg.ch
1 Calman KC. Quality of life in cancer patients--an hypothesis. J Med Ethics. 1984 Sep;10(3):124-7.
2 Eychmüller S, SENS macht Sinn – Der Weg zu einer Assessment-Struktur in der Palliative Care. Therapeutische Umschau 2012; 69 (2):87–90.