Mythen und Missverständnisse in der Notfallmedizin
Die «Top Ten» aus dem notfallmedizinischen klinischen Alltag

Mythen und Missverständnisse in der Notfallmedizin

Lernen
Ausgabe
2017/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01391
Prim Hosp Care (de). 2017;17(10):195-198

Affiliations
a Chefarzt und Direktor, Universitäres Notfallzentrum, Inselspital Bern
b Senior Consultant, Universitäres Notfallzentrum, Inselspital Bern
c Allg. Innere Med FMH, Notarzt SGNOR, Sportmedizin SGSM, Dokterhuus, Lauterbrunnen

Publiziert am 24.05.2017

Gerade in der Notfallmedizin halten sich Mythen hartnäckig. Standards werden über Jahrzehnte hinweg angewandt ohne sie im Kontext der modernen Notfall­medizin neu zu evaluieren. Und wenn auch Mythen zur Medizin gehören wie die ­Sagen und Märchen zu unserer Kultur, so ist es doch wichtig, sie zu erkennen, zu hinterfragen – und vor allem aufzulösen.
John F. Kennedy sagte einmal, dass der grösste Feind der Wahrheit nicht die Lüge wäre, sondern der Mythos. Wir würden dem noch hinzufügen, dass der zweitgrösste das Unwissen ist. So meinte auch Platon, dass «für die Entwicklung der eigenen Erkenntnis nur die Entlarvung des Scheinwissens und die Einsicht in das bewusste Nichtwissen zur Weisheit führt». Mit einfachen Worten: Ein wenig Demut tut uns allen gut. Denn wir können gar nicht alles wissen. Und weil es so schön ist, hier noch das berühmte Zitat von Goethe: «Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heissem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; heisse Magister, heisse Doktor gar … und seh das wir nichts wissen können! …» Diese Zitatenliste könnte noch um Hunderte von Zitaten ergänzt werden. umtreibt uns Ärzte doch der Wunsch nach mehr Wissen, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis der Unendlichkeit des Wissen-Zeit-Kontinuums.

Kaum ist eine Studie erschienen, 
ist sie schon veraltet

Jeden Monat erscheinen aus unseren Fachgebieten ­zigtausend neue Artikel. In der Theorie bedeutet dies, dass wir 19 Artikel pro Tag lesen müssten, um einigermassen up to date zu bleiben. Das ist illusorisch in ­einer medizinischen Arbeitswelt, in der die eigentliche Tätigkeit am Patienten zugunsten eines Case-managenden Medizindienstleisters immer mehr in den Hintergrund tritt. Und so investieren in der Realität die meisten von uns nur noch rund eine halbe Stunde pro Woche in das Studium der neuesten Literatur, die zudem immer komplizierter wird. So braucht es mittlerweile fast schon eine Zusatzausbildung in Epidemio­logie und Statistik, um Artikel zu verstehen und intellektuell zu validieren. Forscher übertreffen sich mit akrobatischen Rechenkunststücken und vergessen dabei oft, dass die Number to Treat nicht eine Zahl, sondern ein Patient ist. Hinzu kommt: Kaum ist eine Studie erschienen, ist diese schon wieder überholt. Gleichzeitig schaffen wir es nur noch ansatzweise, das entstehende Wissen in die Praxis zu überführen. Bereits 2003 betitelte Professor Lenfant, ein Leader des amerikanischen Gesundheitswesens, seinen Abschiedsvortrag als Direktor des National Heart, Lung, and Blood Institute mit der Frage: «Evident Knowledge, Lost in Translation?» Er wandte sich mit folgender Frage an sein Publikum: «Was nützt es uns, wenn wir versuchen, die DNA zu beherrschen, wenn wir es nicht einmal schaffen, dass alle KHK-Patienten Aspirin® haben?»
2003 waren nur 35% aller Patienten, bei denen ein Thrombozytenaggregationshemmer indiziert war, adäquat therapiert. Warum? Die Gründe sind vielfältig: Einerseits fehlt es an der klinischen Translation. Die Forschung hat jahrzehntelang auf Grundlagen­forschung gesetzt. Dabei wurde die Versorgungsforschung vernachlässigt. Hinzu kommt, dass der Zugang zu neuem Wissen und zu Forschungsgeldern immer mehr akademisiert wurde und teilweise nur einer ­forschenden Elite verständlich und zugänglich ist. Andererseits haben wir uns selbst zu wenig darum gekümmert, theoretisches Wissen in die Praxis zu überführen, Wissen translational von der Laborbank zum Krankenbett und wieder zurück zu verfolgen. Deshalb sind all diese Spannungsfelder die besten Nährböden für Mythen. Sie entstehen, wenn Altwissen und eine gewisse Ohnmacht, neues Wissen sinnvoll in den Alltag einzubringen, aufeinandertreffen.

Unsere «Top 10» Mythen – Beispiele 
aus unserem notfallmedizinischen klinischen Alltag

1. Die «Golden Hour»?

Keiner zweifelt daran, dass eine schnelle Behandlung von verunfallten Patienten anzustreben ist. Aber muss es eine Stunde sein? Können es auch zwei sein? Und: Woher kommt dieses Gesetz überhaupt? 1918 veröffentlichten französische Kriegschirurgen aufsehenerregende Daten, die zeigten, dass die Mortalität von verwundeten Frontsoldaten pro Stunde ohne Therapie um 10% stieg. Adam Cowley machte dieses Konzept etwas später in seinem «Golden Hour Concept» weltweit bekannt. Seitdem wurde es immer wieder publiziert, bis es zum Standard in der Traumabehandlung wurde. Dies obwohl viele Folgestudien gezeigt haben, dass die Zeit nur eine Variable von vielen ist, und Zeit relativ sein kann, wenn diese durch andere Komponenten, wie Ausbildung der Ärzte, Infrastruktur etc. kompensiert wird. Auch Schweizer Publikationen konnten dies belegen [1].

2. Fahren mit Blaulicht rettet Leben?

Fahren mit Sondersignal unter Aufhebung der sonst gültigen Verkehrsregeln hat zum Ziel, möglichst schnell zum Zielort zu gelangen, um Menschenleben zu retten. Aber dies hat einen Preis, der selten diskutiert wird. Denn die Unfallhäufigkeit ist bei Licht- und Sirenen-Transporten fast doppelt so hoch wie bei Fahrten ohne diese. Studien zeigen zudem, dass 90% aller Licht- und Sirenen-Fahrten keine lebensbedrohten Patienten an Bord hatten. Nur 2% waren Fahrten mit vitaler Indikation. Hier braucht es in Zukunft sicher neue Ansätze, um Patienten sicher zu transportieren, den Stress für die Crew zu verringern und Unfälle zu vermeiden [2].

3. Trendelenburg-Position erhöht 
den Blutdruck?

Vor fast 150 Jahren beschrieb der deutsche Chirurg Friedrich Trendelenburg das Absenken des Oberkörpers, um die pelvine Durchblutung während Operationen zu verbessern. Während des ersten Weltkrieges propagierte dann Sir Walter Cannon diese Lagerung zur besseren Durchblutung der Organe und des Gehirns als Schocktherapie. Dass er rund eine Dekade später diese Empfehlung widerrief, blieb ungehört. Im Gegenteil: Eine der hartnäckigsten Mythen in der Notfallmedizin war geboren. Dabei zeigen viele Studien, dass die Trendelenburg-Position potenziell gefährlich ist, weil die Verlagerung der Abdominalorgane zu einer mechanischen Einschränkung der Atem- und Herzfunktion mit Dyspnoe und Panik führen kann. Darum: «Think before you sink … your patient» [3].

4. Freitod nur mit Organisationen 
und gegen Geld möglich?

Der Fall der Schweizer Sterbehilfe-Organisation «Eternal Spirit», zeigt, dass Patienten und Schweizer Ärzte weniger hilflos sind, als man annimmt. Jeder Schweizer Arzt darf Patienten in den Freitod begleiten, wenn die gesetzlichen Auflagen eingehalten werden. Die Freitod-Begleitung durch den Hausarzt ist für Patienten und Angehörige vielfach der einfachere, persönlichere und billigere Weg. Denn wer kennt den Patienten und seine Familie besser als der Hausarzt? Hier ist ein Umdenken bei Medizinern und der Gesellschaft angezeigt. Zudem braucht es bessere und transparentere ­Informationen für Kollegen und Kolleginnen, die sich freiwillig bereiterklären, ihre Patienten auf diesem letzten Weg zu begleiten [4].

5. Triage beim Blitzunfall?

Werden mehrere Menschen gleichzeitig Opfer eines Blitzeinschlages, so gilt, wie auch bei anderen Massenunfällen, eine Triage der Opfer durchzuführen. Bei der klassischen Triage werden aber Verletzte ohne Vital­zeichen und Spontanatmung als nicht rettbar triagiert. Anders aber bei Blitzopfern: Durch den Stromschlag kann es zu einem simultanen Atem- und Kreislaufstillstand kommen, der durch gezielte und ­sofortige CPR reversibel sein kann [5].

6. Fingerwunden, Desinfektion und ­Antibiotikagabe?

Noch gilt es als gängige Praxis, auch bei nicht komplexen Schnittwunden an den Fingern Antibiotika zu verordnen. Dies obwohl fünf Studien in den vergangenen Jahren gezeigt haben, dass eine gute Wundspülung mit klarem Wasser, am besten mit Leitungswasser, aus­reichend ist. Gleichzeitig kann man nicht oft genug ­darauf hinweisen, dass Betadine zytotoxisch ist, zwar Bakterien und Viren abtötet, leider aber auch die gesunden Zellen im Bereich der Verletzung schädigt. Der dadurch entstehende «Gewebefriedhof» schafft einen idealen Nährboden für die nächste Generation von kleinzelligen Eindringlingen [6].

7. Rektale Untersuchungen bei Verdacht auf ­Appendizitis?

Bis vor kurzem galt noch die Aussage «The only reason not to do a rectal examination: no finger, no rectum, no glove». Heute kommt es (ausserhalb der Urologie) langsam zu einem Umdenken in diesem heiklen Bereich. Denn vor allem bei der Diagnostik der Appendizitis ist es wenig hilfreich, den Finger mit einer Mischung aus Unwissenheit und falschen Erwartungen in das Rektum des Patienten zu schieben. Dabei stellen Studien die Aussagekraft dieser Untersuchung klar in Frage. Anders gesagt: Verlässt man sich nur auf die digitale, rektale Untersuchung kann man auch gleich eine Münze werfen, denn die Sensitivität liegt bei sagenhaften 0,13. Das soll selbstverständlich nicht heissen, dass die rektale Untersuchung zu verteufeln sei. Ganz und gar nicht. Es ist aber wichtig, sie korrekt in den Kontext der Untersuchungskette einzufügen [7].

8. Akutes Abdomen und Schmerzmittel?

Es ist ein nun fast 100-jähriger Mythos, dass Anal­getika die Symptome eines akuten Abdomens verschleiern und eine saubere Diagnostik verhindern. Dabei helfen sie Schmerzen zu lindern. Obwohl all dies bei 85% der befragten Notfallmediziner aus einer ­Studie bekannt ist, warten trotzdem 76% mit der Analgetika­gabe bis zur Beurteilung durch einen Chirurgen ab. Eine erstaunliche Vorgehensweise angesichts der Tatsache, dass eine Femurfraktur auch nicht durch einen provozierten Bewegungsschmerz besser diagnostiziert wird. Oder, um es mit folgendem Bild zu illustrieren: Stellen Sie sich vor, Assistenz-, Ober- und Chefarzt bewegen eine Fraktur kräftig durch, nur um sich zu vergewissern, dass das Bein auch wirklich ­gebrochen ist. Die Frage, die sich hier stellt, liegt auf der (palpierenden) Hand: Warum sollte man dann bei 
einer Appendizitis mit Schmerzmitteln sparen [8]? ­Analgesie eine humanitäre Pflicht?

9. Mildes SHT oder leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen? 
Eben nicht!

35% aller Männer erleiden ein mildes Schädelhirntrauma (SHT) mindestens einmal im Leben. Auch milde SHT, vor allem rezidivierende, darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zum Glück haben die meisten keine Langzeitprobleme, jedoch leiden rund 10% dieser Patienten an längerfristigen Störungen. Diese können von chronischen Kopfschmerzen über Geruchs- und Geschmacks- bis hin zu Schlafstörungen und Depressionen reichen. Es sollte deshalb nach der obligatorischen Schonphase, die oft bei Sportlern nicht beachtet wird, beobachtet werden, ob die Beschwerden weg sind oder ob sie persistieren. Wir empfehlen, SHT-Patienten, die länger als vier Wochen an Beschwerden leiden, an einen Neurologen zu überweisen [9].

10. Eine Lumbago geht vorbei?

Bei rund 70% aller Patienten ist der «Hexenschuss» (Lumbago) innerhalb eines Jahres weg. Trotzdem bleibt ein beträchtlicher Anteil von Patienten schmerz­geplagt. Rund 10% der Betroffenen müssen sogar die Arbeit wechseln. Normalerweise braucht die unkomplizierte Lumbago ungefähr 30 Tage, bis der Pa­tient wieder voll funktions- und einsatzfähig ist. Fast doppelt solange dauert es hingegen, bis der Patient schmerzfrei ist. Im Schnitt konnte rund die Hälfte aller Lumbagopatienten nach 14 Tagen wieder an ihren ­Arbeitsplatz zurückkehren. Ähnlich wie beim milden Schädelhirntrauma sollte man den «Hexenschuss» nicht verteufeln – aber auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Patienten, bei denen sich ein protrahierter Verlauf abzeichnet, sollten früh einem Spezialisten vorgestellt werden, um rechtzeitige rehabilitative Massnahmen einzuleiten [10].

Fazit

Den Autoren ist bewusst, dass nicht alle Mythen schlecht und nicht alle Mythenübermittler unwissend sind. Mythen gehören zur Medizin wie die Sagen und Märchen zu unserer Kultur und Gesellschaft. Sie helfen uns, uns mit unserem Beruf und unseren Rollen zu identifizieren und gemeinsame Gesprächsplatt­formen zu schaffen. Aber es ist wichtig, diese als solche zu ­erkennen, sie im Kontext der modernen Entwicklung der Notfallmedizin zu hinterfragen und aufzulösen. Oder um es in den Worten von Aristoteles auszudrücken, der dies sehr treffend formulierte: «Der Beginn aller Wissenschaft ist das Erstaunen, dass die Dinge so sind wie sie sind.».
Prof. Dr. med.
Aristomenis Exadaktylos
Chefarzt und Direktor
Universitäres ­Notfallzentrum
Inselspital Bern
CH-3010. Bern
aristomenis[at]
exadaktylos.ch
 1 Trauma mortallity and the golden hour Link: http://lifeinthefast lane.com/ccc/trauma-mortality-and-the-golden-hour/.
 2 Hunt RC, Prehosp Emerg Care. 2000;4(1):70–4.
 3 Life in the Fastlane, «Trendelenburg Position for the Hypotensive Patient» Link: http://lifeinthefastlane.com/trendelenburg-
position-for-the-hypotensive-patient-friend-or-foe/
.
 4 Basler Zeitung, 12. 8. 2015, «Der Tod hat seinen Preis».
 5 Link: http://bazonline.ch/basel/stadt/Der-Weg-in-den-Tod-hat-seinen-Preis/story/18711344
O’Keefe Gatewood M1, Zane RD. Emerg Med Clin North Am. 2004;22(2):369–403, Lightning injuries.
 6 Fernandez R. Water for wound cleansing. Cochrane Database Syst Rev. 2008;(1).
 7 Dixon JM. BMJ. 1991;302(6787):1274.
 8 Wolfe JM. Am J Emerg Med. 2000;18(3):250–3.
 9 Sadowski C. Brain Inj. 2006;20(11):1131–7.
10 Henschke N, et al. BMJ. 2008;337:a171.