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Die Behandlung setzt sich aus vielen Faktoren zusammen
Schmerzen zum Schreien
a MediZentrum, Messen, b Universitäres Zentrum für Palliative Care, Inselspital, Universitätsspital Bern
Schmerzen und Angst vor Schmerzen sind zentrale Themen in der Betreuung und Behandlung von Palliativpatienten und eine grosse Herausforderung in der hausärztlichen Praxis. Die Behandlung dieser Schmerzen lässt sich nicht auf die Verabreichung von Opioiden reduzieren.
Fallvignette
Bereits vor Jahren hatte der heute 67-jährige Herr M. ein Prostatakrebsleiden überstanden. Die aktuelle Abklärung von neu aufgetretenen Stuhlunregelmässigkeiten und Bauchschmerzen ergab die Diagnose eines inoperablen Pankreaskarzinoms. Herr M. hat nach reiflicher Überlegung eine Chemotherapie abgelehnt, weshalb ihn der Onkologe in die hausärztliche Sprechstunde überwies. Die Angst stand dem Patienten ins Gesicht geschrieben. Unter Tränen drehte sich das Gespräch um seine Bauchschmerzen und Atemnot und um die Frage nach der unsicheren Zukunft. Trotz hochdosierter Opioidtherapie waren die Schmerzen kaum noch tragbar.
Nach mehreren Gesprächen in Anwesenheit der Ehefrau fand ein Gespräch mit dem palliativen Team der lokalen Spitex statt. Anlässlich dieser Sitzung wurden realistische Ziele des Patienten erfragt, Strategien gegen Angst und Atemnot diskutiert und ein Betreuungsnetzwerk aufgebaut.
Durch diese Haltung von Verständnis, Zuwendung und Hilfestellung kam es zu einer eindrücklichen Beruhigung der Situation. Die Anfälle von Angst, Atemnot und Bauchschmerzen sind nur noch selten nachts aufgetreten. Auf einen intrathekalen Katheter zur Schmerztherapie hat der Patient verzichtet.
Bei Schmerzen immer auch die Angst erfassen
Angst und Schmerz lassen sich nicht trennen. Angst ist ein unangenehmes Gefühl, das den ganzen Körper erfasst. Herzrasen, Pulsschlag in den Ohren, feuchte Hände, der Gang auf die Toilette und Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht stellen sich ein. Schmerzen am Lebensende erzeugen existentielle Angst. Angst bedeutet Stress und Stress mindert massiv die Lebensqualität. Die Bewältigung der Angst und Unsicherheit – das Gefühl, dass ich es alleine nicht mehr schaffe – ist in der Schmerztherapie unabdingbar. Es braucht Menschen, die helfen, die da sind, die zuhören, die trösten, die zur Seite stehen und die Zeit haben.
Bei vielen Stressfaktoren ist an «total pain» zu denken
Cicely Saunders, die Vorreiterin der Hospiz- und Palliativbewegung, hat den Begriff des «totalen Schmerzes» («total pain») geprägt. Schmerzen und viele andere körperliche Empfindungen stellen einen Komplex von biologischen, seelischen, sozialen und existentiellen (spirituellen) Elementen dar. Das Schmerzempfinden des Patienten wird vor allem bei chronischen Schmerzzuständen nachhaltig durch diese Kofaktoren beeinflusst. Finanzielle Sorgen, soziale Vereinsamung, familiäre Zwistigkeiten und die Sinnfrage beeinflussen das individuelle Schmerzempfinden. Ein medikamentöser Schnellschuss mit einem Analgetikum führt kaum zum Ziel! Chronische Schmerzen verursachen eine Regulationsstörung eines komplexen Systems und führen zu strukturellen hirnorganischen Veränderungen. Sozialer Rückzug und Kompetenzverlust, dysphorische Verstimmung, Angst, Depression und Schlafstörungen sind die Folge.
Therapie: nicht nur Medikamente, sondern alles was Stress reduziert
Eine moderne Schmerztherapie stützt sich auf verschiedene Säulen ab: Medikamentöse Therapie, Psychotherapie, Physiotherapie, soziale Unterstützung und nicht zuletzt invasive Verfahren. Gemäss dem Konzept der Salutogenese geht es um drei wesentliche Eckpfeiler: Um die Verstehbarkeit (eine Erklärung für die Schmerzen haben), um die Handhabbarkeit (Selbsteffizienz, d.h. aktiv werden zu können), und letztendlich um die Sinnhaftigkeit (der Gesamtsituation einen Sinn geben zu können, sie zu akzeptieren). Viele, ganz verschiedene Möglichkeiten der Stressreduktion und Hilfe zur Selbsthilfe stehen heute zur Verfügung. Diese Quellen der Kraft sollten sorgfältig evaluiert werden. Sie reichen von der Musiktherapie über Entspannungsübungen, Massagen, Wickel, Yoga bis zu MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) als Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Häufig braucht es ein Paket: Einnahme eines Analgetikums (z.B. Reservedosis), angenehme Sitz- oder Liegeposition einnehmen, gezielte Entspannung soweit möglich und/oder Ablenkung (z.B. Konzentration auf Musik).
Nicht kleckern, klotzen: Opiode früh, aber gut informieren – auch die Angehörigen
Die Opioide sind als Teil eines multidimensionalen Behandlungsplanes unverzichtbar. Ein intensives Monitoring der Wirkungen und Nebenwirkungen ist bei häufig multiplen Organinsuffizienzen (Leber, Hirn, Niere) dringend notwendig, da die sedierende Nebenwirkung die Möglichkeit der aktiven Schmerzbewältigung mindern können. Ob und wie ein Opioid wirkt, muss individuell getestet werden. Dabei ist vor allem bei Therapiebeginn auf Übelkeit (verschwindet meist nach 3–4 Tagen) und Verstopfung, aber auch Harnverhalt zu achten. Wird das therapeutische Fenster überschritten, treten kognitive Störungen, Schläfrigkeit, Halluzinationen, Verwirrung, Muskelkrämpfe und Atemdepression auf. Häufige Vorläufer der Atemdepression sind Muskelfaszikulationen der Oberarmmuskulatur.
Schmerzpflaster mit Fentanyl oder Buprenorphin sind bei den Patienten sehr beliebt. Schmerzpflaster sind für instabile Situationen aber eher ungeeignet. Eine Dosissteigerung ist nur alle drei Tage vorzunehmen, und es braucht sechs Tage bis ein neuer steady state erreicht wird. Zur Tagesdosis sollte dem Patienten für Schmerzdurchbrüche eine Reservedosis (10% der Tagesdosis) verschrieben werden, die bis stündlich (!) verabreicht werden kann. Soll das Schmerzpflaster abgesetzt und ein neues Opioid angesetzt werden, wird in den ersten zwölf Stunden lediglich die Reservedosis des neuen Opioids verabreicht und dann mit 50% der errechneten Äquivalenzdosis des neuen Opioids gestartet.
Fieber kann zu einer rascheren Resorption bzw. rascherem Wirkungseintritt führen, und bei Kachexie besteht Gefahr sowohl einer Unter- wie einer Überdosierung. Bei Kachexie sind entweder orale oder subkutan (kontinuierlich via Spritzenpumpe) verabreichte Opioide zu bevorzugen. Bei einer allenfalls notwendigen peroralen Opioidrotation wegen schlechter Verträglichkeit oder Unwirksamkeit sollte wegen möglicher Kreuztoleranz mit der für das neue Opioid errechneten Äquivalenzdosis eine Dosisreduktion um 20–30% vorgenommen werden.
SENS: Versuch eines palliativen Erfassungs- und Beurteilungssystems
Palliative care orientiert sich am bio-psycho-sozialspirituellen Medizinmodell und behandelt häufig Menschen mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen und komplexen Symptomen. Das SENS-Modell lehnt sich an das sogenannte Gold Standards Framework (GSF) (4) an, orientiert sich aber noch strikter an die Patientenbedürfnisse. Folgende Bereiche/Aufgaben in der Patientenbetreuung werden erfasst: Symptom-Management, Entscheidungsfindung, Netzwerk-Organisation und Support. Der Betreuungsplan dient der vorausschauenden Planung/Umsetzung der 4 «S» in Palliative care:
– Selbsthilfe
– Selbstbestimmung
– Sicherheit
– Support.
Diese Ziele richten sich nach den Grundbedürfnissen des Menschen nach Autonomie und Geborgenheit. Dieser mit dem Patienten und den Angehörigen erarbeitete Betreuungsplan kann die Basis einer erfolgreichen interprofessionellen Zusammenarbeit darstellen.
Erreichbare Ziele setzen
Auch in der Palliative care kommen demnach häufig multimodale Therapiepläne zum Einsatz. Folgende Punkte sind hierbei hilfreich:
1. Eine schrittweise und gemeinsame Planung mit Patient und seinen Angehörigen als Partner;
2. Die Klärung der Erwartungen des Patienten bezüglich jeder Massnahme inklusive Medikamente (z.B. «was kann das Oxynorm bewirken») gemäss dem Konzept des «Calman gap». Wieviel gelitten wird und ob eine gute, bzw. akzeptable Lebensqualität vorliegt, hängt nach Calman davon ab, wie gut die Erwartungen und die realistischen Erlebnisse zur Deckung kommen. Hierbei ist häufig eine «liebevolle Reduktion» des Soll-Zustands nötig, da der aktuelle Zustand nur schwer verbesserbar ist;
3. Zur Bewältigung der Angst ist eine Stärkung der Selbstkompetenz und -effizienz des Patienten hilfreich: Der Patient soll sich nicht als Opfer sehen, sondern soweit wie möglich trotz schwerer Erkrankung als «Kapitän» oder zumindest Co-Steuermann und den Therapeuten als «Coach»;
4. Ein mentales Training und «refraiming» hilft: Wie gehe ich als Patient mit dem Schmerz um? «Den Schmerz kann ich nicht ändern, aber was ich dazu denke und fühle»;
5. Den Schmerz in machbare Teile zerlegen: Schrittweise Ziele formulieren, kleine Erfolge anstreben und diese Erfolge feiern.
Fazit: Die Angstbekämpfung steht im Zentrum
– Den Menschen die Mittel geben, sich nicht hilflos zu fühlen – und Erwartungen besprechen;
– Die Zukunft wieder selbst in die Hand nehmen;
– Die komplexe und angstmachende Situation in «machbare» Teile zerlegen;
– Die Kräfte des Betroffenen angehen: Nicht nur Probleme und Defizite, auch Heilsames und seine Stärken;
– Die pharmakologischen Optionen gut kennen, Hilfe holen, gut besprechen, auch mit den Angehörigen, damit die Angst so gut wie möglich kontrolliert bleibt.
Dieser Artikel basiert auf einem Referat, das im Rahmen des KHM-Kongresses 2016 stattfand.
Hinweis
Lesen Sie zu diesem Thema auch: Büche D, Hettich A. Stiller Abgang, Prim Hosp Care (de). 2017;17(10):199–202.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Christoph Cina
Hauptstrasse 16
CH-3254 Messen
christoph.cina[at]hin.ch
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