«Leichte Arbeit» – was kann das ­bedeuten?
Je nach gesundheitlicher Problematik können Einschränkungen bestehen

«Leichte Arbeit» – was kann das ­bedeuten?

Lernen
Ausgabe
2017/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01414
Prim Hosp Care (de). 2017;17(15):296-298

Affiliations
Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH, Zürich

Publiziert am 16.08.2017

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Thema der «leichten Arbeit». Wie ist dieser Begriff in der Arbeitswissenschaft definiert und was müssen wir bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bei Patienten mit Problemen am Bewegungsapparat berücksichtigen?

Einführung

Leider ist die steigende Papierflut eine Tatsache, mit der wir Ärzte uns auseinandersetzen müssen. Zunehmend werden die Taggeldversicherer und Pensionskassen im Fallmanagement aktiv, was sich bei den behandelnden Ärzten in Form von Versicherungsberichten bemerkbar macht. Neben der Frage nach der Arbeits­fähigkeit in der bisherigen Tätigkeit wird auch nach der Arbeitsfähigkeit in anderen Tätigkeiten, teilweise auch speziell nach der Arbeitsfähigkeit in einer leichten ­Arbeit gefragt. Nach einem langen Arbeitstag stellen die Versicherungsberichte und Arztzeugnisse für die Ärztinnen und Ärzte eine wenig geschätzte Aufgabe dar. Schnell sind die Kreuzchen gemacht, die möglichen Konsequenzen, die sich für den Patienten daraus ergeben, sind wenig bekannt.
Körperliche Arbeit braucht Energie. Je höher die zu hantierenden Lasten sind, desto höher der Energieverbrauch, sowohl im Herzkreislaufsystem als auch im Muskel. Die gängige Klassifikation (Abb. 1) stützt sich auf die Einteilung des Dictonnary of Occupational Titles (DOT) des US Departements of Labour. Der Schweregrad der Arbeit wird nach der Schwere der zu hantieren Lasten definiert. Bei leichter Arbeit werden Gewichte bis maximal 10 kg hantiert. Dies ist jedoch nur ein Faktor. Die körperliche Belastung wird durch die Bewegungsfrequenz bestimmt, was sich durch die Häufigkeit der Manipulationen abschätzen lässt (Abb. 2). Weitere ­relevante Faktoren wie die erforderlichen Haltungen, Erholungszeiten und Zusatzfaktoren wie Umgebungstemperatur, Vibrationen, erforderliche Präzision, Eigenschaften des Werkstücks wie Handhabbarkeit usw., sind in dieser Einteilung nicht berücksichtigt. Eine Übersicht des gängigen arbeitswissenschaftlichen Modells der Risikobewertung findet sich in Abbildung 3. Führt man sich dieses vor Augen, wird schnell klar, dass «leichte Arbeit» nicht grundsätzlich bei jedem gesundheitlichen Problem für jeden Patienten leicht ist.
Abbildung1: Einteilung der Arbeit nach Schweregrad.
Abbildung 2: Einteilung der Arbeit nach Häufigkeit.
Abbildung 3: Modell der arbeitsbezogenen muskuloskelet­talen Risikofaktoren.

Fallstricke

Die folgenden Abschnitte erläutern häufige Fallstricke in der Beurteilung.

Fallstrick 1: Zu tiefe Einschätzung der ­Gesamtbelastung

Am Beispiel eines Akkordmaurers (Abb. 4) lässt sich 
illustrieren, dass die Einzellast wenig über die Gesamtbelastung aussagt. Ein Backstein wiegt im Durchschnitt 7 kg. Da immer nur ein Stein pro Mal gesetzt wird, wäre man versucht, die Arbeit als leicht zu klassifizieren. Selbstverständlich ist dies nicht der Fall. Ein Akkordmaurer in der Schweiz bewegt pro Arbeitstag im Durchschnitt 10 Tonnen Gewicht. Es handelt sich um eine körperlich schwere Arbeit.
Abbildung 4: Ein Akkordmaurer bewegt bis zu 10 Tonnen ­Gewicht am Tag.

Fallstrick 2: Unterschätzung der ­regionalen Belastung

Tätigkeiten am Fliessband in der Industrie, ob in der Montage oder der Konfektionierung, werden je nach Gewicht des Produkts häufig als leichte Arbeit betrachtet. Aufgrund der hohen Bewegungsfrequenzen, der Monotonie der Arbeitsaufgaben und dem durch den Maschinentakt vorgegebenen Arbeitsrhythmus ohne Möglichkeit, kurze Pausen einzulegen, kann die regionale Belastung trotzdem hoch sein. Betroffen sind hierbei meist die myofaszialen Strukturen an den ­Armen, vor allem am Unterarm. Bei Menschen, die unter Pathologien in diesem Bereich leiden, sind solche industriellen Arbeiten teilweise nicht geeignet. Eine Grobabschätzung der Bewegungsfrequenzen ist über die Anzahl der an einem Tag bearbeiteten Werkstücke möglich, diese ist Industriearbeitern meist bekannt, besonders, wenn sie im Akkord arbeiten. Eine andere Methode bei kurzzyklischen Tätigkeiten ist, sich den Arbeitsablauf kurz demonstrieren zu lassen. Die Arbeit wird bei Zyklen unter 30 Sekunden, das heisst ab zwei Zyklen pro Minute als hochrepetitiv bezeichnet.
Wichtig ist, dies im Arztbericht auch so zu vermerken, zum Beispiel, dass hochrepetitive Arbeiten ungünstig sind, oder dass der Patient auf selbsteingeteilte Kurzpausen angewiesen ist. Empfehlen Sie eine Abklärung vor Ort, falls Sie sich unsicher sind.

Fallstrick 3: Haltungen zu wenig berücksichtigt

Dass eine knieende Arbeit für einen Patienten mit ­einer schweren Gonarthrose ungeeignet ist, ist den meisten Ärzten klar, ebenso, dass vorgeneigte Haltungen bei Wirbelsäulenpathologien Schwierigkeiten ­bereiten können. Unterschätzt werden oft die Arm­haltungen. Als Beispiel dient hierfür die Arbeit einer Coiffeuse, die, was das Hantieren von Lasten betrifft, unbestritten körperlich leicht ist. Trotzdem ist die ­regionale Belastung der Schultern hoch, da der Arm beim Waschen, Schneiden, Färben und Bürsten häufig auf Schulterhöhe gehalten wird (Abb. 5). Beim Schneiden sind, bedingt durch die gängigen Scherenformen, achsenabweichende Handgelenksstellungen zu beobachten (Abb. 6). Dies ist nur ein Beispiel. Sie können sich die Arbeitshaltungen vom Patienten auch kurz demonstrieren lassen. Ich empfehle, Einschränkungen in relevanten Regionen genau zu spezifizieren.
Abbildung 5: Schulterbelastung durch Armhaltung.
Abbildung 6: Handgelenksbelastung durch achsenabweichende Handgelenksstellung.

Fallstrick 4: Arbeitsanforderungen zu wenig bekannt

Als Akademiker sind wir mit dem Berufsalltag unserer Patienten häufig wenig vertraut. Noch dazu ist die ­Berufswelt aktuell durch den technischen Fortschritt (in der Produktion beispielsweise die Robotisierung) einem raschen Wandlungsprozess unterworfen. Erschwerend kommen neu kreierte Berufsbezeichnungen hinzu, unter denen man sich manchmal kaum etwas vorstellen kann. Dass sich der «Facility Manager» als Hausmeister entpuppt, ist uns vielleicht schon einmal begegnet, aber wie steht es um die Arbeit eines «Supply Chain Officers»? Die Liste liesse sich endlos fortsetzen. Wie vorgehen? Eine detaillierte Erfassung der Arbeitsanforderungen ist in der Hausarztpraxis aus Zeitgründen meist nicht möglich. Manchmal stellen Arbeitgeber sogenannte Jobprofile zur Verfügung, die die Arbeitsanforderungen stichwortartig oder in Tabellen beschreiben. Sollte kein Jobprofil vorliegen, kann man dies auch vom Arbeitgeber oder der Versicherung anfordern. Bei unklaren Fällen kann eine Versicherung zusätzlich eine Arbeitsplatzbegehung oder eine externe versicherungsmedizinische Beurteilung veranlassen. Machen Sie von diesen Möglichkeiten ­Gebrauch und weisen Sie in Ihrem Attest darauf hin, dass eine genauere Abklärung notwendig ist. Niemand erwartet von Ihnen eine Beurteilung, wenn die Beurteilungsgrundlagen fehlen. Das gleiche Vorgehen ­bewährt sich in Fällen, bei denen die Angaben des Pa­tienten und Arbeitgebers bezüglich Arbeitsbelastungen stark differieren.

Fazit für die Praxis

Unter leichter Arbeit wird eine Arbeit verstanden, bei der maximal 10 kg Gewicht hantiert werden. Die ­körperliche Gesamtbelastung wird zusätzlich durch die erforderlichen Bewegungsfrequenzen, die Haltungen, die Erholungszeiten, Zusatzfaktoren wie ­Umgebungstemperatur, Vibrationen usw. bestimmt, verbunden mit der Dauer der Arbeitsaufgabe. Daraus ergibt sich, dass auch bei einer «leichten Arbeit» je nach gesundheitlicher Problematik Einschränkungen bestehen können. Für die Patienten ist es wichtig, dass solche Einschränkungen von medizinischer Seite festgehalten werden. Weisen Sie den Arbeit­geber oder die Versicherung darauf hin, wenn Ihnen die für die Beurteilung notwendigen Angaben fehlen. Diese können bei Bedarf Zusatzabklärungen veranlassen.
Dr. med. B. Bienlein
Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH
Zwischenbächen 137
CH-8048 Zürich
barbara.bienlein[at]
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