Berufliche Wiedereingliederung nach Querschnittläsion
Was kann man für andere Patientengruppen lernen?

Berufliche Wiedereingliederung nach Querschnittläsion

Lernen
Ausgabe
2017/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01415
Prim Hosp Care (de). 2017;17(18):350-353

Affiliations
Schweizer Paraplegiker-Zentrum, ParaWork, Nottwil

Publiziert am 27.09.2017

Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil rehabilitiert Menschen, die nach Unfall oder Krankheit eine komplette oder inkomplette Querschnittlähmung erlitten haben. Mit dem Anspruch einer zeitgemässen, umfassenden Rehabilitation werden in verschiedenen Lebensbereichen konkrete Zielsetzungen identifiziert und in enger Absprache mit dem Patienten und dem interdisziplinären Behandlungsteam abgestimmt.

Team ParaWork

Das Team ParaWork kümmert sich umfassend um die Aspekte der beruflichen Wiedereingliederung und besteht aus Berufs- und Laufbahnberatern, Fachlehrpersonen und Coaches.
Explizites Ziel von ParaWork ist, wenn immer möglich, die Reintegration der Versicherten im ersten Arbeitsmarkt (auch Umschulungen im ersten Arbeitsmarkt). Die Rückkehr zum bisherigen Arbeitgeber ist unser oberstes Ziel.

Berufliche Eingliederung beginnt ­während der Erstrehabilitation

Das Konzept von ParaWork, berufliche Wiedereingliederung und medizinisch-therapeutische Erstrehabilitation gleichzeitig anzugehen, verhilft uns zu einer ­hohen Eingliederungsquote. Zum einen sichern wir auf diese Weise Arbeitsplätze, weil unsere Versicherten zu diesem Ereigniszeitpunkt im Regelfall in ungekündigtem Arbeitsverhältnis sind. Zum anderen können wir bereits wenige Wochen nach einem Unfallereignis in der Regel relativ verlässliche Prognosen betreffend Outcome stellen. Die emotionale Betroffenheit im ­beruflichen Umfeld nutzen wir, um Arbeitsplätze zu ­sichern, weil viele Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt eine hohe Motivation für ein Unterstützungsangebot bekunden. Ohne unsere frühe Kontaktaufnahme mit den Arbeitgebern gehen Arbeitsplätze verloren, oder die Stellen werden durch neue Mitarbeitende besetzt. Weiter schützt die frühzeitige Fokussierung der beruflichen Teilhabe die Patienten auch vor psychosozialer Fehlentwicklung. Treten unerwartete gesundheitliche Rückschläge auf, gilt es, das Ziel allenfalls zu revidieren und in enger Absprache mit allen Beteiligten neue, realistische Ziele festzulegen und zu verfolgen.
Die verschiedenen Trainings- und Abklärungsangebote von ParaWork sind die Basis einer umfassenden Leistungsvereinbarung mit der Schweizer Invalidenversicherung.
Die Möglichkeit, entsprechend dem Leistungsver­mögen unserer Patienten zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt mit einer spezifischen, berufsbezogenen Förderung zu beginnen, verbessert die Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung nachhaltig. Experten sind sich seit vielen Jahren einig, dass eine frühe berufliche Eingliederung insgesamt von Vorteil ist. Viele Studien belegen diese Praxiserfahrung.
Neben der Unterstützung während der stationären Phase erachten wir die Wichtigkeit der nachstationären Begleitung als sehr hoch. In einer Forschungs­studie [1] wurde festgestellt, dass viele Versicherte, trotz ­sorgfältiger Planung der Wiedereingliederung, in der ersten Phase nach der Erstrehabilitation aus unterschiedlichen Gründen aus dem beruflichen Wiedereingliederungsprozess fallen. Ursachen können körperlich oder durch das Umfeld bedingt sein (beispielsweise Arbeitgebersituation, familiäres oder soziales Umfeld etc.). Beide Aspekte können eine Wiedereingliederung sowohl erschweren, als auch begünstigen.
Um einem negativen Trend entgegenwirken zu können, unterstützt und begleitet ParaWork die Versicherten nachstationär bis zur Erwerbsphase. Das heisst bis zur vollständigen Umsetzung des Wiedereingliederungsplanes (gemäss Zielvereinbarung mit Versicherten) bzw. bis zum Abschluss der Massnahme.

ParaSchool als wichtiger Bestandteil unserer Angebotskette

ParaSchool gehört zu ParaWork. Kinder, Jugendliche, Lehrlinge und Studenten werden während ihres stationären Aufenthaltes von der ParaSchool weiter unterrichtet und in ihrem schulischen Kontext unterstützt, damit die schulische Wiedereingliederung optimal koordiniert und umgesetzt werden kann.
Dieses Angebot kann aber auch für unsere erwachsenen Patienten eine wertvolle Ergänzung zum bestehenden Angebot darstellen.
Sofern sich zwischen einem Anforderungsprofil und den Fähigkeiten eines Patienten in der beruflichen Vorbereitungsphase ein Defizit abzeichnet, besteht die Möglichkeit, diese Wissenslücken mit gezielten Unterrichtslektionen aufzufüllen.

Hohe Bedeutung der Kontextfaktoren

Während zu einem frühen Zeitpunkt der Erstrehabilitation viele Behandlungsschwerpunkte in den Bereichen Körperfunktion und Struktur/Aktivität angesiedelt sind und somit die klassischen Rehabilitations­angebote wie Ergotherapie und Physiotherapie eine grosse Bedeutung haben, verschiebt sich mit der Zeit der Fokus zunehmend auf die Aspekte Partizipation und Kontextfaktoren.
Die Bedeutung eines engagierten, hilfsbereiten Arbeitgebers ist für die erfolgreiche Wiedereingliederung ­eines Patienten als hoch einzustufen. Ebenso wurde nachgewiesen, dass berufsbezogene Mobilität, das Überwinden von architektonischen Barrieren und ein angepasster Arbeitsplatz über Erfolg oder Misserfolg entscheiden können. Damit Fehleinschätzungen und Missverständnisse vermieden werden können, bieten wir unsere Unterstützung bei der Wiederaufnahme der Arbeit an. Der Aspekt der Aufklärung von Arbeitgeber, Mitarbeitenden und Angehörigen unserer Patienten ist gemäss unserer Erfahrung von grosser Bedeutung.

Selbstwirksamkeitsüberzeugung

Über die Bedeutung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung wurde in den letzten Jahren viel geschrieben. Für den Bereich der beruflichen Eingliederung wirken sich nach unserer Erfahrung sowohl eine hohe Leistungsmotivation als auch ein positiver prämorbider Arbeitsstil positiv aus. Menschen, die gewohnt sind, zielorientiert und strukturiert vorzugehen, erreichen oft auch im Rehabilitationsprozess bessere Ergebnisse. Umgekehrt können negative Schulerfahrungen, existenzielle Ängste oder die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes die erfolgreiche Wiedereingliederung von Menschen negativ beeinflussen. Zum Beispiel erleben wir im Arbeitsalltag nicht selten, dass sich ein Patient eine dringend notwendige Umschulung nicht vorstellen kann, weil er sich davor fürchtet, wieder die Schulbank drücken zu müssen.
Solche negativen Überzeugungen können nur in einer vertrauensvollen Umgebung durch geduldige Fachlehrer/Therapeuten verändert werden. Oft benötigen Pa­tienten für diesen Prozess deutlich mehr Zeit, was eine weiterführende Betreuung über die stationäre Rehabilitationsphase hinaus voraussetzt.

Komorbidität

Dass die Beeinträchtigung der Mobilität auf die berufliche Eingliederung in vielen Sektoren eine grosse Rolle spielt, ist offensichtlich. Oft vergisst man aber, dass viele unserer Patienten mit Problemen konfrontiert sind, die für den Betrachter nicht auf den ersten Blick oder überhaupt nicht ersichtlich sind. Die besorgniserregende Entwicklung von chronischen Schmerzen und damit zusammenhängenden Rentenbegehrlichkeiten wird in der IV schon länger mit einer hohen Dringlichkeit auf der Traktandenliste geführt. Die ­Wiedereingliederung von Menschen mit chronischen Schmerzen gestaltet sich sehr schwierig. Dass die Kombination der Diagnosen Querschnittlähmung und chronische Schmerzen die Eingliederungswahrscheinlichkeit erheblich reduziert, liegt daher nahe, und leider bestätigt sich dies in unserem Arbeitsalltag.
Viele unserer Patientinnen und Patienten haben auch nach erfolgreicher Erstrehabilitation mit Inkontinenzproblemen zu kämpfen, dies wird oft übersehen. Auch inkomplett gelähmte Menschen, die sich allenfalls ­sogar als Fussgänger fortbewegen können, machen sich mitunter grosse Sorgen, dass sie sich am Arbeitsplatz plötzlich wegen einer nassen Hose entschuldigen müssen. Gerade hier ist es nach unserem Dafürhalten ­äusserst wichtig, dass Aufklärungsarbeit auch im beruflichen Umfeld geleistet wird. In der Funktion als Coach sprechen wir solche Themen offen an.
Die Wahrscheinlichkeit, bei einem schweren Unfall ­zusätzlich zu einer Querschnittlähmung eine traumatische Hirnverletzung zu erleiden, liegt gemäss aktuellen Studienergebnissen bei ca. 30%. Wenn zusätzlich zu einer Beeinträchtigung der physischen Leistungs­fähigkeit auch eine Limitierung der kognitiven Fähigkeiten auftritt, hat dies erhebliche negative Auswirkungen auf die berufliche Eingliederung.
Damit Menschen mit der Diagnose Tetraplegie auf dem ersten Arbeitsmarkt eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erzielen können, sind in erster Linie ihre kognitiven Leistungsmerkmale gefordert. Auf diese Weise besteht eine Chance, die eingeschränkte physische Leistungsfähigkeit zu kompensieren.
Bei der beruflichen Wiedereingliederung von querschnittsgelähmten Menschen, die sich mit zusätz­lichen gesundheitlichen Schwierigkeiten herum­schlagen müssen, bitten wir den Kostenträger (Invalidenversicherung), dass er uns einen Auftrag für ein weiterführendes Jobcoaching erteilt.

Kreativität

Unser Anspruch, Patienten zu unterstützen, setzt voraus, dass wir sie ermutigen und befähigen, ihre Ziele auch zu erreichen. Damit dies möglich ist, verfolgen wir mitunter auch kreative oder auf den ersten Blick exotische Lösungsansätze. Einen Paraplegiker, der von Beruf Landwirt ist, kann man oft nicht zu einer Umschulung überzeugen. Allenfalls besteht die Möglichkeit, mit geeigneten technischen Anpassungen Geräte und Maschinen so umzubauen, dass diese wieder genutzt werden können.

Fallvignette 1

Ein Landwirt, der als Folge eines schweren Arbeitsunfalls auf ­einen Rollstuhl angewiesen ist, entschied sich, seinen Betrieb weiterzuführen. Durch die Anschaffung eines Allrad-Teleskopladers mit Hydrostat-Antrieb, der barrierefrei umgebaut wurde und zusätzlichen Umbauten an zwei bestehenden Traktoren, kann der Landwirt nun einen bedeutenden Teil der Maschinenarbeiten wieder selber verrichten. Damit er sich besser auf seinem Hof bewegen kann, schaffte er sich zusätzlich einen günstigen Elektrorollstuhl an. Diesen setzt er auch ein, um seine Tiere zu versorgen oder mit einem speziellen Gebläse den Vorplatz zu reinigen. Einen erheblichen Teil der anfallenden Kosten beglich der Landwirt selber, weil die IV nur für einen Teil der Anpassungen aufkam.
Dass dabei der wirtschaftliche Nutzen für die Invalidenversicherung im Vordergrund steht, ist nicht wegzudiskutieren. Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich manch ein Eingliederungsfachmann der Invalidenversicherung auch für unkonventionelle Lösungsansätze gewinnen lässt, wenn man die richtigen Argumente ins Feld führt.

Fallvignette 2

Nach einem schweren Unfall entschied sich ein Patient, der in seinem eigenen Restaurant als Koch tätig war, seinen Beruf fortzuführen. Möglich machte dies ein ausgeklügelter Sitzlift an seinem Rollstuhl.
Die rasch fortschreitende technische Entwicklung kommt glücklicherweise Personen mit einer körper­lichen Beeinträchtigung entgegen. Immer mehr ­Maschinen auf dem Bau oder in der Landwirtschaft können via Joystick oder sogar mit Fernbedienung gesteuert werden. In vielen Bereichen halten Powershift-Getriebe Einzug, was die Bedienung erheblich erleichtert. Die zunehmende Installation von elektronischen Assistenzsystemen ist für unsere Patienten im Kontext ihrer beruflichen Wiedereingliederung von Nutzen und wir dürfen davon ausgehen, dass spätestens in ­einem Jahrzehnt der Autopilot auch im Individual­verkehr Einzug halten wird. Somit dürfte es auch ­Menschen mit einer Mobilitätsbehinderung einfacher möglich sein, zum Beispiel eine Anstellung im Aussendienst auszuüben. Anhand von zwei Praxisbeispielen möchte ich den positiven Effekt dieser Entwicklung kurz erläutern.
Voraussetzung für solche Lösungsansätze ist die enge Zusammenarbeit mit Fachspezialisten aus Ergotherapie, Hilfsmittelversorgern und Spezialfirmen für Fahrzeugumbauten. Vor allem aber gilt es, die zuständigen Personen der IV von solchen Lösungen mit griffigen Argumenten zu überzeugen.

Netzwerk

Die Bedeutung der Interdisziplinarität in der Rehabilitation hat auch im Kontext der beruflichen Wiedereingliederung einen hohen Stellenwert. Eine professionelle Zusammenarbeit zwischen Job Coach, Klient, Integrationsfachperson der IV und Arbeitgeber ist von grosser Bedeutung. Case Manager, Rehabilitations­mediziner und Therapeuten werden sinnvollerweise im Bedarfsfall als Unterstützer in den Eingliederungsprozess miteinbezogen. Eine transparente Kommunikation aller relevanten Akteure ist eine wichtige ­Voraussetzung für das Gelingen einer guten Zusammenarbeit.

Was kann man lernen für andere ­Patientengruppen

Eine erfolgreiche berufliche Eingliederung setzt voraus, dass frühzeitig spezifische Ziele festgelegt werden. Dabei sind Förderfaktoren, aber auch mögliche Barrieren zu beachten. In meinem Artikel bin ich auf einige, aus meiner Erfahrung bedeutsamen Aspekte eingegangen.
Im Zentrum unserer Bestrebungen steht das Eingliederungsziel des Patienten als Individuum unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten, Potenziale und der Kontextfaktoren und NICHT primär seine medizinische Diagnose. Ich wage daher die Behauptung, dass in vielen Fällen die Diagnose überbewertet wird, und ich bin mir sehr sicher, dass meine Ausführungen gleicher-massen für andere Patientengruppen zutreffen. Zumindest für die Eingliederung von Hirnverletzten kann ich dies aus langjähriger Praxis-Erfahrung bestätigen.
Beratungsgespräch mit Zuhilfenahme eigener Infobroschüre «Berufe im Rollstuhl».
Projektbezogene praktische Abklärung im Montagebereich.

Fazit

Arbeiten bedeutet mehr als Geld verdienen! Dank ihrem Arbeitsalltag haben Menschen eine Tagesstruktur und sie erfahren für ihre Leistung Wertschätzung. Die soziale Interaktion am Arbeitsplatz gibt Menschen das Gefühl der Dazugehörigkeit und sie vermittelt ein Gefühl der Zufriedenheit. In unserer Gesellschaft hat die Arbeit einen hohen Stellenwert. Damit Menschen mit einer Querschnittlähmung oder einer anderen körperlichen Beeinträchtigung erfolgreich ins Arbeitsleben zurückfinden, sind eine Vielzahl von Faktoren von Bedeutung. Die eigene Leistungsmotivation und Selbstwirksamkeitsüberzeugung hat bei einer Priorisierung dieser Faktoren wohl den höchsten Stellenwert. Der Arbeitgeber, der die Türe offenhält, aber auch ein Coach, der alle Akteure optimal in den Prozess einbindet, können ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Gelingen leisten. Abschliessend erwähne ich gerne, dass der frühe Beginn von beruflichen Massnahmen nach einem Unfallereignis einerseits wichtig, andererseits aber auch Geduld nötig ist. Der Prozess der beruflichen Eingliederung ist in den wenigsten Fällen ein Kurzstreckenrennen, vielmehr handelt es sich um einen Marathon, auf dem Hindernisse auftreten und Umwege oft unumgänglich sind. Indem wir diese Menschen begleiten, ihnen Mut zusprechen und sie punktuell ein bisschen schieben und ziehen, erreichen sie das ersehnte Ziel – regelmässig das zu tun, was sie gerne tun.
Stefan Staubli
Leiter ParaWork
Schweizer Paraplegiker-­Zentrum
ParaWork
Guido A. Zäch Strasse 1
CH-6207 Nottwil
stefan.staubli[at]paraplegie.ch
1 Marti A. 2008, Arbeitsmarktintegration be­hinderter Menschen, Lizenziatsarbeit der Phil. Fakultät der Universität Zürich.