Ein Erfahrungsbericht

Impfen von Asylsuchenden: to do or not to do? Ein Erfahrungsbericht

Lernen
Ausgabe
2017/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01419
Prim Hosp Care (de). 2017;17(02):0

Affiliations
a Praxis Dr. Villiger, Schulthess Allee 7, Brugg
b Infektiologie/Spitalhygiene, Departement Medizin, Kantonsspital Baden

Publiziert am 24.01.2017

Dass Impfungen bei Asylsuchenden durchgeführt werden sollten, ist unumstritten. Nur: wer ist dafür verantwortlich?

Einleitung

In den Asylunterkünften leben die Menschen auf engem Raum, wodurch das Risiko für Krankheitsausbrüche erhöht ist [1]. Ausserdem ist in gewissen Herkunftsländern die Inzidenz gewisser Erkrankungen, zum Beispiel Varizellen, gering, und die Asylsuchenden aus diesen Ländern sind nicht geschützt. Der Impfstatus ist meist unklar.
Ideal wäre die Impfung am Ort der Erstaufnahme. Dies wird jedoch aktuell nicht durchgeführt, sondern wird an die Kantone delegiert, die dann oft wiederum vorsehen, dass die Hausärztinnen die Asylsuchenden impfen. Oft ist dies den Hausärzten nicht bekannt, und es gibt diverse Hindernisse bei der Planung und Durchführung. Es bestehen kantonal unterschiedliche Regelungen. Eine Untersuchung im Kanton Waadt zeigte, dass eine präventive Impfung wirksamer ist als eine postexpositionelle, allerdings auch etwas teurer, wenn lediglich die Impfkosten berücksichtigt werden [2]. Der folgende Artikel hat zum Ziel, durch Teilen eigener Erfahrungen bei der Durchführung einer Impfaktion, den impfwilligen Ärztinnen und Ärzten die Arbeit ein wenig zu erleichtern.
Reges Treiben während der Impfaktion in der Asylunterkunft.

Wie kam es dazu?

Asylsuchende stammen häufig aus Ländern, in denen der Zugang zu Impfungen beschränkt ist [3]. Sie werden nach ihrer Einreise in die Schweiz von einem Empfangszentrum auf Unterkünfte in Kantonen verteilt [4]. Die Aufenthaltsdauer in Asylunterkünften kann über zwölf Monate betragen, wobei ca. 10–15% der Asylsuchenden relativ rasch ausgewiesen werden. Die Unterkünfte werden häufig durch einen zuständigen Arzt der Region betreut.
Die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF), das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und diverse Kantone empfehlen die Durchführung von Impfungen gemäss Schweizer Impfplan [5]. Jedoch gibt es bisher keine klaren Empfehlungen, wer welche Impfungen wann durchführen sollte. Anlässlich eines Varizellenfalles mit schwerer Erkrankung des Patienten führte ich als zuständige Hausärztin für eine Asylunterkunft 2015 kurz nach deren Eröffnung zusammen mit Dr. Villiger postexpositionelle Impfungen bei allen damals ca. 70 Bewohnern durch; wir fragten uns, ob eine reguläre Impfung der Bewohner nicht einfacher, wirksamer und billiger gewesen wäre. Aus infektiologischer Sicht ist eine möglichst frühzeitige Impfung der Asylsuchenden sinnvoll, um sie zu schützen, Ausbrüche vorzubeugen, und auch, um die Schweizer Bevölkerung zu schützen.

Probleme bei der Vorbereitung

Folgende Fragen stellten sich:
– Welche Impfungen sollten durchgeführt werden?
– Können wir Schaden anrichten, zum Beispiel durch Lebendimpfung bei einem Patienten mit unerkannter HIV-Infektion oder Tuberkulose?
– Wo bekommen wir genügend Personal her für die Durchführung?
– Wie bringen wir die Asylsuchenden dazu, bei der Impfaktion anwesend zu sein?
– Wie verständigen wir uns mit den Asylsuchenden?
– Wie sollten wir die Asylsuchenden adäquat informieren?
– Wie sorgen wir dafür, dass die erstellten Impfausweise nicht wieder verschwinden?
Ein Impfausweis ist praktisch nie vorhanden, ob und welche Impfungen bereits durchgeführt wurden, kann kaum eruiert werden. Die Asylsuchenden haben teilweise kein Verständnis von präventiven Massnahmen und behalten ihre Impfausweise nicht. Deshalb ist auch die Weitergabe der Information zu durchgeführten Impfungen in der Schweiz problematisch.

Wie haben wir es gelöst?

Grundsätzlich gilt bei Asylsuchenden dieselbe Regel wie bei allen anderen Personen in der Schweiz: Nur ­dokumentierte Impfungen sollen berücksichtigt und Impfungen gemäss schweizerischem Impfplan nachgeholt werden.
Als Mindestprogramm entschieden wir uns für die in Tabelle 1 ersichtlichen Impfungen. Die Gefahr einer Überimpfung besteht dabei nicht. Möglich wäre eine verstärkte lokale Reaktion, falls in den letzten fünf Jahren eine Tetanusimpfung durchgeführt wurde nach erfolgter Grundimmunisierung. HIV-Infektionen sind in den hauptsächlichen Herkunftsländern unwesentlich häufiger als bei uns, das Risiko einer Lebendimpfung diesbezüglich demnach nicht anders einzuschätzen als bei der Schweizer Bevölkerung.
Alternativ kann bereits 1 Monat nach je einer ersten Dosis MMR, DTpa-IPV und HBV die zweite MMR und HBV-Impfung sowie eine Titerbestimmung für Tetanus, Varizellen (bei negativer Anamnese) und Hepatitis B durchgeführt werden, um das weitere Vorgehen zu planen.
Tabelle 1: Mindestprogramm der durchgeführten Impfungen.
ImpftermineMMR/Varizellen1dTpa-IPV2dT-IPV2Hepatitis B
1. TerminXX X
Nach 2 MonatenX XX
Nach 8 Monaten  XX
1 Masern, Mumps, Röteln, Varizellen. Varizellen bei <40-Jährigen im Fall einer negativen Anamnese oder nicht eruierbar. Für die Kombinationsimpfung vorgängig bei der Krankenkasse nachfragen, 
da nur die Einzelimpfstoffe auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind.
2 Diphterie, Tetanus, Polio insgesamt 3×, Pertussis 1×.
Wir entschieden uns für die Schweizer Impfausweise zur Dokumentation. Solange die Asylsuchenden in der Unterkunft wohnen, sind diese in der Krankengeschichte abgelegt. Bei Transfer in eine andere Unterkunft werden sie mit der Krankengeschichte oder bei definitiver Aufnahme dem Asylsuchenden abgegeben.
Für die Verständigung war für jede Sprache ein Übersetzer (ein Asylsuchender) anwesend. Die Impfaktion wurde am Tag der Wochengeldauszahlung durchgeführt, da dann alle Asylsuchenden anwesend sind.
Wir entschieden uns, vorgängig kein Infomaterial zu den Impfungen zur Verfügung zu stellen, sondern beim Anamnesegespräch über die möglichen Nebenwirkungen zu informieren, und gaben auf Nachfrage genauere Auskünfte. Wir berechneten pro Asylsuchenden fünf Minuten Zeit ein, was gut aufging.
Eine Aufstellung zur genauen Durchführung der Impfaktion finden Sie im Anhang an die Online-Version dieses Artikels unter www.primary-hospital-care.ch.

Unsere Erfahrungen

Am 1. Juni 2016 führten wir mit einer Ärztin, zwei Apothekerinnen, einer Studentin und drei Unterkunftsmitarbeitern die erste Impfaktion bei insgesamt knapp 200 Asylsuchenden durch. Die Asylsuchenden holten bei der Unterkunftsleiterin ihre Krankengeschichte mit dem vorbereiteten Impfausweis ab und wurden von ihr der Station mit dem entsprechenden Übersetzer zugeteilt.
Der Asylsuchende wurde von einem ersten Helfer, einem ärztlichen Mitarbeiter, mit Hilfe des anwesenden Übersetzers befragt und über Nebenwirkungen informiert. Die Indikation wurde gestellt und die Impfungen im Ausweis eingetragen und mit dem Praxisstempel versehen. Einige wenige hatten in der Schweiz bereits Impfungen erhalten, die mitberücksichtigt wurden. Eine Person wurde wegen akuter Erkrankung mit Fieber nicht geimpft, eine Person wurde wegen anamnestisch anaphylaktischer Reaktion auf eine frühere Impfung nicht geimpft. Einige wollten sich nicht impfen lassen, da sie trotz Erklärungen den Grund dafür nicht verstanden. Grundsätzlich aber war die Akzeptanz hoch, und einige freuten sich sehr über das Angebot.
Der Asylsuchende ging dann eine Station weiter und wartete, bis ein zweiter Helfer die Impfungen vorbereitet bzw. aufgezogen hatte. Noch einen Posten weiter ­erhielt er die Impfungen von einem dritten Helfer.
Alle Impfungen wurden in den M. deltoideus i.m. verabreicht. Der Kleber mit der Chargennummer wurde auf den Impfausweis geklebt und der Ausweis unterschrieben. Der Asylsuchende erhielt eine Bestätigung und konnte sich damit das Wochengeld auszahlen lassen. An dieser Stelle wurde er auf der Bewohnerliste abgehakt. So wussten wir immer, wer die Impfstationen schon durchlaufen hatte. Wenn jemand trotz Erklärungen keine Impfungen wollte, erhielt er direkt die Bestätigung nach Dokumentation auf dem Ausweis (Tab. 2).
Dieser Ablauf wurde sehr streng eingehalten um keine Verwechslungen zu riskieren. Die Aktion wurde durch die Unterkunftsleitung sehr gut organisiert. Die Helfer waren sehr motiviert.
Tabelle 2: Ablauf der Impfaktion.
Vorbereitung
Material bestellenImpfungen
Impfausweise
Adrenalin-Autoinjektor
Weiteres Material wie Desinfektionsmittel, Tupfer usw. (Auflistung im Anhang der Online-Version dieses Artikels)
Impfausweise vorbereitenPersonalien eintragen, zur Krankengeschichte legen, wenn vorhanden
Personal organisieren
Durchführung
einrichten 
Briefing der Helfer
Stationen1. Station: Anamnese/Kontraindikationen1, Indikations­stellung, Impfungen im Ausweis eintragen mit Datum, stempeln
2. Station: Impfung aufziehen/vorbereiten
3. Station: Name kontrollieren, impfen, Kleber mit Chargennummer auf Ausweis kleben, Ausweis unterschreiben, ­Bestätigung an Asylsuchenden abgeben2
Nachbereitung
Impfungen zum Abrechnen in Personenliste eintragen
1 Echte Kontraindikationen sind Fieber >38°C, «echte» Allergie auf Impfung (bei eher vasovagaler Reaktion empfehlen wir eine Überwachung für 30 min nach der Impfung), Immunsuppression ­medikamentös oder krankheitsbedingt, Schwangerschaft für Lebendimpfstoffe, wobei bei ver­sehentlich verabreichter Impfung kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch besteht, da bisher keine ­Schädigungen beobachtet werden konnten. Totimpfstoffe bevorzugt in der zweiten Schwangerschaftshälfte verabreichen. 
Keine Kontraindikationen sind banale Infekte mit subfebrilen Temperaturen, Schwangerschaft 
für Totimpfstoffe, Ramadan.
2 Wenn jemand nicht geimpft werden möchte, dies in den Ausweis schreiben und direkt die ­Bestätigung abgeben.

Fehler und Probleme

Durch ein Missverständnis wurden für den ersten Tag zu wenige Impfungen bestellt, und wir bemerkten dies erst spät. So musste noch vor dem Mittag eine teurere Expressbestellung gemacht werden, und wir konnten erst einige Stunden später weiterimpfen.
Erkenntnis: Die Zuständigkeit für die Bestellung muss klar sein, und grössere Bestellungen sollten immer schriftlich gemacht werden.
Alle Impfungen werden von der Krankenkasse bezahlt, die MMR/Varizellenimpfung jedoch nur einzeln und nicht in Kombination. Die Kombinationsimpfung ist ca. 10 Franken teurer als die Einzelimpfstoffe. Da jedoch weniger Zeit benötigt wird, ist diese insgesamt doch günstiger und wurde in unserem Fall problemlos bezahlt.
Erkenntnis: Am besten schriftlich bei der Krankenkasse nachfragen, ob die geplanten Impfungen (mit dem Handelsnamen angeben) bezahlt werden.
Beim zweiten Impftermin am 29. Juni 2016 haben einige Asylsuchenden die Impfung abgelehnt, da Ramadan war.
Erkenntnis: grössere Impfaktionen ausserhalb des Ramadan durchführen, das Fasten ist jedoch an sich keine Kontraindikation.

Soll ich nun oder soll ich nicht?

Wie schon erwähnt, herrscht Einigkeit darüber, dass Impfungen durchgeführt werden sollten. Die Asylsuchenden haben oft einen fehlenden/ungenügenden Impfstatus und leben auf engem Raum zusammen, was die rasche Ausbreitung infektiöser Erkrankungen in der Unterkunft begünstigt. Ausserdem werden sie zwischen Unterkünften transferiert. Auch wenn es ­Daten dazu gibt, welche Länder welche Impfungen ­üblicherweise durchführen [3], ist im Einzelfall der Impfstatus doch meist unbekannt. Titerbestimmungen sind möglich, jedoch kosten- und zeitintensiver als Impfungen (insbesondere, wenn dann doch noch geimpft werden muss). Nachteile von zu vielen Impfungen gibt es kaum, abgesehen von der allenfalls verstärkten Lokalreaktion bei der Tetanusimpfung.
Wünschenswert wäre ein einheitliches nationales Vorgehen, was leider nicht der Realität entspricht.
Viele Asylsuchende sind nicht vor Varizellen geschützt, und das Risiko eines Ausbruchs in den Unterkünften ist recht hoch. Notfallaktionen mit postexpositionellem Impfen und Komplikationen von Varizellen- oder Maserninfektionen (während der Schwangerschaft potentiell fatal) mit notwendiger Hospitalisation können durch die Prävention vermieden werden – für die ­Kosten einer Hospitalisation können sehr viele Dosen Impfstoff erworben werden.
Pertussis ist ebenfalls hoch ansteckend und verursacht längerdauernden Husten mit Gefährdung der in der Unterkunft lebenden Säuglinge. Da bei chronischem Husten immer die Tuberkulose ausgeschlossen werden muss, könnten durch die Impfung voraussichtlich einige Abklärungen vermieden werden.
Bei Asylsuchenden handelt es sich häufig um junge, ­sexuell aktive Personen, weshalb auch die Hepatitis-B-Impfung klar empfohlen ist.
Das Risiko eines Polioausbruches wird durch das Robert-Koch-Institut als gering eingestuft. Jedoch gelten Afghanistan und Pakistan als Polio-exportierende Länder, und je mehr ungeimpfte Personen in einer ­Unterkunft leben, desto grösser ist das Risiko eines Ausbruchs.
Nach der ersten Dosis ist bei Lebendimpfungen (MMR/Varizellen) der Anteil der geschützten Personen mit 80–90% bereits recht hoch, für Totimpfstoffe ist dieser deutlich niedriger, für Hepatitis B nur ca. 15% (im Gegensatz zu 96% nach drei Impfungen). Daher sollte wenn möglich die ganze Basisimpfung durchgeführt werden.
Überlegenswert ist auch die Grippeimpfung im Herbst. Die Grippe ist zwar für junge gesunde Personen im Normalfall nicht gefährlich, durch die Nähe und hohe Kontagiosität ist aber das Risiko für einen Ausbruch sehr hoch, was wir in der von uns betreuten Unterkunft ebenfalls erfahren mussten.

Ja, ich soll

Die Impfungen sind personal- und zeitintensiv, aber klar indiziert. Die Situation ist durch ein national fehlendes einheitliches Vorgehen schwierig; ein solches wäre selbstverständlich wünschenswert.
Für uns und unsere Helfer waren die Impfaktionen eine spannende Abwechslung. Die grosse Mehrheit der Asylsuchenden freute sich über das Angebot und war sehr kooperativ. Die Gefahr einer Überimpfung und echter Kontraindikationen besteht kaum. Eine Herausforderung bleibt die Weitergabe der Informationen.
Ganz herzlichen Dank für die grossartige Unterstützung durch die Unterkunftsleiter der Asylunterkunft. Samuel Wey und Nuran Köktas, Dr. med. Claudia Weber, Dr. med. Lukas Villiger, Sabine Eggmann, ­Studenten des Kantonsspital Baden Medizin, Anita Zimmermann 
und Mariana Born (Apotheke Wyss), Cand. med. Srdjan Vukovic, 
Cand. med. Sebastian Andres und Unterkunftsmitarbeiter.
Isabelle Fuss
Praxis Dr. Villiger
Schulthess Allee 7
CH-5200 Brugg
Isabelle.fuss[at]
praxisvilliger.ch
1 European Center for Disease Prevention and Control. Infectious diseases of specific relevance to newly-arrived migrants in the EU/EEA. Technical Document. 23. 11. 2015.
2 Serge de Vallière, Pierre Landry, Eric Masserey, Blaise Genton. Vaccination des requérants d’asile dans le canton de Vaud.
Rev Med Suisse. 2013, S. 985-989. .
3 Summary, WHO vaccine-preventable diseases: monitoring system. 2016 global. WHO. [Online] 15. July 2015. [Zitat vom:
09. 08 2016.] http://apps.who.int/immunization_monitoring/globalsummary.
4 Flüchtlingshilfe, Schweizerische. Schweizerisches Asylverfahren kurz erklärt. [Online] [Zitat vom: 09. August 2016.] https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/hilfe/asylverfahren-kurz-erklaert/bfm-asylschema-d.pdf.
5 Bundesamt für Gesundheit, Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF). Schweizerischer Impfplan 2016. Bern: s.n., 2016.