Opioide bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen
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Opioide bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen

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Ausgabe
2017/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01420
Prim Hosp Care (de). 2017;17(12):236-238

Affiliations
Hopitaux Universitaires de Geneve

Publiziert am 27.06.2017

Auch wenn die Evidenz dafür dünn ist, ist es in der Praxis eine häufige und in manchen Fällen legitime Vorgehensweise, Opioide bei Schmerzpatienten einzusetzen, deren Lebensqualität und Funktionsfähigkeit durch die Schmerzen eingeschränkt sind und die auf Nicht-Opioid-Analgetika nicht ansprechen. Dieser Artikel gibt ­einige Hinweise und Empfehlungen, die im Hinblick auf eine sinnvolle und sichere Verschreibung zu beachten sind.

Einleitung

Die Prävalenz chronischer nicht-tumorbedingter Schmerzen liegt ungeachtet ihrer Ursache in der Schweiz bei etwa 20% [1]. Da die Bevölkerung altert und der medizinische Fortschritt zwar die Remission von Krebserkrankungen ermöglicht, bestimmte onkologische Behandlungen bisweilen jedoch zu Residual­schmerzen führen, kann davon ausgegangen werden, dass die Prävalenz weiter ansteigt.
Die Behandlung chronischer Schmerzen ist in der Praxis weiterhin eine Herausforderung, weil die Ursachen und Mechanismen noch nicht genau geklärt sind und die schmerzlindernden Therapien oftmals nur unvollständig wirken. Ein weiterer Grund ist, dass die in der Fachliteratur empfohlenen nichtmedikamentösen Therapien – etwa physikalische Therapien und psychologische Unterstützung – nicht immer verfügbar, leicht anwendbar und für die Patienten bezahlbar sind.
Nachdem viele Bemühungen unternommen wurden, um Schmerzen besser zu verstehen und zu behandeln, ist seit den Neunzigerjahren ein drastischer Anstieg der Opioidverschreibungen zu verzeichnen, insbesondere gegen chronische nicht-tumorbedingte Schmerzen, da zahlreiche Nachweise einer entsprechenden Wirkung bei tumorbedingten Schmerzen vorliegen. Infolgedessen kamen neue Arzneistoffe mit opioidartiger Wirkung ebenso auf den Markt wie neue galenische Formen, vor allem Retardformen, die sich besonders zur Langzeitbehandlung eignen.
Proportional mit dem Anstieg der Zahl der Verschreibungen – in den USA hat sie sich in den letzten 15 Jahren vervierfacht – nahmen jedoch auch die durch Überdosierung bedingten Todesfälle zu [2, 3]. Dies löste in der Fachliteratur eine umfassende Debatte über das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Verschreibung von Opioiden gegen chronische Schmerzen aus [2, 4]. Als Ergebnis dieser Debatte wurden vor Kurzem Empfehlungen für eine gute Verschreibungspraxis veröffentlicht, die von den amerikanischen Gesundheitsbehörden unterstützt werden [5].
Auch wenn bisher die Evidenz für diese Anwendung dünn ist, ist es in der Praxis eine häufige und in manchen Fällen legitime Vorgehensweise, Opioide bei Schmerzpatienten einzusetzen, deren Lebensqualität und Funktionsfähigkeit durch die Schmerzen eingeschränkt sind und die auf Nicht-Opioid-Analgetika nicht ansprechen. Dieser Artikel fasst die bei der Verschreibung zu beachtenden Aspekte und die in der Fachliteratur verfügbaren Empfehlungen für eine gute Verschreibungspraxis (Tab. 1) zusammen.
Tabelle 1: Empfehlungen für die Verschreibung von Opioiden zur Behandlung chronischer nicht-tumorbedingter ­Schmerzen (nach [2, 5]).
 1. Indiziert nach Versagen der Therapie mit einem Nicht-
Opioid-Analgetikum und der nichtmedikamentösen 
Behandlung
 2. Risikofaktoren für Abhängigkeitsentwicklung im Auge behalten
 3. Behandlungsziele hinsichtlich Schmerzen und Funktionsfähigkeit festlegen
 4. Zeitplan und Strategie im Falle eines Therapieversagens festlegen
 5. Zu erwartenden Nutzen und bestehende Risiken mit den Patienten besprechen
 6. Gewährleisten, dass die Opioide nur von einer Stelle 
verschrieben werden
 7. Allfällige Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen berücksichtigen
 8. Mit der Minimaldosis beginnen, Dosis schrittweise ­steigern und individuell einstellen
 9. Mit rasch wirksamen Formen beginnen, auf Retardformen umstellen, sobald die Dosis stabil ist
10. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei jeder Dosisänderung neu bewerten; die Dosis ist mindestens einmal pro Monat zu überprüfen
11. Im Falle der Unwirksamkeit oder eines ungünstigen ­Nutzen-Risiko-Verhältnisses: Behandlung schrittweise absetzen

Wirksamkeit von Opioiden zur Behandlung chronischer nicht-tumorbedingter Schmerzen

Die Erhebung eindeutiger Daten über die Wirksamkeit von Opioiden gegen chronische nicht-tumorbedingte Schmerzen ist schwierig, weil diese Schmerzen keine homogene Entität haben und die meisten Studien nur einen kurzen Beobachtungszeitraum umfassen, der selten mehr als zwölf Wochen beträgt und somit die komplexen Praxissituationen wenig widerspiegelt.
Als Beispiel kann diesbezüglich eine aktuelle Metaanalyse dienen, die sich mit der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Opioiden zur Behandlung chronischer Lumbalgien und mit der Dosisabhängigkeit der Wirkung befasst [6]. Die Autoren berichten im Rahmen der Behandlung mit verschiedenen Opioiden in einer Dosierung von 40 bis 240 mg Morphinäquivalenten pro Tag über eine kurzfristig signifikante Veränderung der Schmerzintensität, die jedoch als klinisch nicht relevant bewertet wurde. 50% der Studienteilnehmer brach die Behandlung aufgrund mangelnder Wirksamkeit oder unerwünschter Wirkungen ab [6].
Allerdings sind Opioide in den europäischen Empfehlungen – nach den Antiepileptika und Antidepressiva – als Mittel zweiter Wahl zur Behandlung neuropathischer Schmerzen zugelassen [7].
Unter dem Strich ist also festzuhalten, dass die Wirksamkeit der Opioide bei dieser Indikation im Schnitt wohl unbedeutend ist, aber bei jenen Patienten individuell bewertet werden sollte, die sie vertragen und auf eine ordnungsgemäss und gemeinsam mit einer nicht-medikamentösen Behandlung durchgeführte Therapie nicht oder nur teilweise ansprachen.

Nebenwirkungen vorhersehen, ­überwachen und behandeln

Bei der Behandlung mit Opioiden kommt es zu einer Reihe gut dokumentierter Nebenwirkungen, die durch ihre Wirkung auf die μ-Rezeptoren bedingt und bei dieser Wirkstoffklasse durchwegs zu beobachten sind. Sie können also bei allen Opioiden auftreten, auch wenn sich ihre klinische Ausprägung zwischen den einzelnen Patienten stark unterscheidet.
Zu den möglichen Nebenwirkungen einer Opioid­behandlung zählen Verdauungsstörungen (Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung), ZNS-Störungen (Schläfrigkeit oder gar Bewusstseinsstörungen und Halluzinationen) und seltener Harnverhalt. Zudem kann es zu einer Atemdepression kommen, allerdings nur in seltenen Fällen, sofern keine Überdosierung oder Atemwegs­erkrankungen vorliegen und nicht gleichzeitig andere Substanzen mit hemmender Wirkung auf das Zentralnervensystem verabreicht werden. Die meisten dieser Nebenwirkungen sind zu Beginn der Therapie zu beobachten und neigen aufgrund der Toleranzentwicklung dazu, zu verschwinden oder sich abzuschwächen; die Verstopfung ist jedoch persistierend und erfordert die regelmässige Einnahme eines Abführmittels. Quell- und Ballaststofflaxantien sollten dabei vermieden werden. Um Übelkeit und Erbrechen zu verhindern, sollte ein Antiemetikum verschrieben werden.
Bei der langfristigen Verschreibung von Opioiden wurden darüber hinaus einige weniger bekannte Nebenwirkungen festgestellt, etwa Endokrinopathien und ­erhöhtes Frakturrisiko; vor allem aber muss man in diesem Zusammenhang das Risiko der physischen und psychischen Abhängigkeit in Betracht ziehen, das nur gering ist, wenn Opioide zur Behandlung akuter oder tumorbedingter Schmerzen eingesetzt werden. Dieses Risiko zu beziffern, ist schwierig, die Daten weisen allerdings darauf hin, dass 2–5% der Behandelten eine Abhängigkeit entwickeln und 20% das Opioid nicht verschreibungsgemäss anwenden (zu hohe oder zu geringe Dosierung) [8]. Angesichts dieses Problems müssen bestimmte Risikofaktoren berücksichtigt werden, etwa niedriges Alter, die Abhängigkeit von einer anderen Substanz (besonders Alkohol oder Benzodiazepine), eine psychiatrische Begleitkrankheit und schliesslich, mehr noch als die Dosis, die Dauer der Opioidbehandlung [9]. Im Hinblick auf die Pharmakokinetik sollten Formen mit sehr kurzer Halbwertszeit und rascher Passage der Blut-Hirn-Schranke (z.B. Pethidin) vermieden werden. Neben der psychischen Abhängigkeit kann sich auch eine körperliche Ge­wöhnung entwickeln: Dabei kommt es infolge der ­Anpassung des Organismus an die Opioidexposition zu einem Entzugssyndrom, sobald der Wirkstoff abrupt abgesetzt wird. Um das Entzugssyndrom, das bei allen Patienten auftreten kann, zu verhindern, muss am Ende der Behandlung die Dosis schrittweise reduziert werden.

Pharmakokinetik, Pharmakogenetik und Wechselwirkungen

Es besteht bezüglich des Ansprechens auf Opioide eine grosse interindividuelle Variabilität, die Pharmakokinetik ist dabei ein wichtiger Faktor. Opioide werden über die Leber und – ausser Morphin und Hydromorphon – das Cytochrom-P450-Enzymsystem metabolisiert. Die Aktivität dieser Enzyme unterliegt einem ­genetischen Polymorphismus, und die kaukasische ­Bevölkerung lässt sich insbesondere aufgrund von Isoenzym 2D6, dem eine bedeutende Funktion bei der Opioid­metabolisierung zukommt, in langsame, intermediäre, extensive (das heisst normale) und ultra­schnelle Metabolisierer einteilen. Codein, Tramadol und Oxycodon werden auf diesem Wege zu aktiven, die Opioidwirkung auslösenden Metaboliten umgewandelt [10, 11]. Je nach Metabolisierungsprofil ist also bei langsamen Metabolisierern, die nur wenige oder keine Metaboliten bilden, eine geringere Wirkung zu beobachten, bei ultraschnellen Metabolisierern hingegen, die davon mehr produzieren, sind die Nebenwirkungen ausgeprägter.
Die Aktivität der Cytochrome kann überdies von einer Reihe von Hemmstoffen beeinflusst werden, besonders von zahlreichen Antidepressiva, die Patienten mit chronischen Schmerzen häufig gleichzeitig verschreiben werden.
In der Praxis sollte bei Patienten mit Polymedikation die Behandlung analysiert werden, um allfällige Arzneimittelinteraktionen zu erfassen; eine solche Analyse sollte durchgeführt oder jedenfalls in Betracht gezogen werden, wenn die Therapie versagt oder nicht vertragen wird.

Überlegungen zur Galenik

Die meisten Opioide sind in schnell wirksamer Form (oral, sublingual, Nasenspray) oder mit Retardwirkung (oral oder Pflaster) verfügbar: Schnell wirksame ­Opioide sind in der Titrationsphase sinnvoll, und wenn man den Patienten eine Reserve zur Verfügung stellen möchte, um Schmerzen kurzfristig zu bekämpfen. Nachdem die geeignete Dosis eingestellt wurde, haben Retardformen den Vorteil einer geringeren Einnahmefrequenz, wodurch die Compliance gefördert wird. Der Nachteil dieser Formen ist allerdings, dass auch die Dauer allfälliger Nebenwirkungen verlängert ist. Abgesehen von den Präparaten mit verzögerter Freisetzung sind die parenteralen Formen bei langfristiger Anwendung aufgrund des Abhängigkeitsrisikos zu vermeiden.

Fazit

Wenn man in der Praxis Patienten mit chronischen Schmerzen behandelt, muss man sich stets der beunruhigenden epidemiologischen Daten über das Nutzen-Risiko-Verhältnis der diesbezüglichen Anwendung von Opioiden bewusst sein. Wirkung und Verträglichkeit der Opioide sollten systematisch und regel­mässig überprüft werden. Auch das Vorgehen im Falle eines Behandlungsabbruchs aufgrund des Versagens der Therapie sollte rechtzeitig festgelegt werden. In komplexen Fällen kann es nötig sein, bei einem Fachzentrum für die Behandlung chronischer Schmerzen eine Expertenmeinung einzuholen. Nach individueller Beurteilung und unter Beachtung der in diesem Artikel behandelten Punkte können die Opioide allerdings laut heutigem Stand eine Rolle bei der Behandlung chronischer nicht-tumorbedingter Schmerzen spielen.
Dr. med. Marie Besson
Hopitaux Universitaires de Geneve
Rue Gabrielle Perret-Gentil 4
CH-1211 Genève
marie.besson[at]hcuge.ch
 1 Breivik H, et al. Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment. Eur J Pain. 2006;10(4): p.287–333.
 2 Frieden TR, D Houry. Reducing the Risks of Relief-The CDC Opioid-Prescribing Guideline. N Engl J Med. 2016;374(16):p.1501–4.
 3 Dart RC, Severtson SG, Bucher-Bartelson B. Trends in opioid analgesic abuse and mortality in the United States. N Engl J Med. 2015;372(16):p.1573–4.
 4 Katz MH. Opioid Prescribing for Chronic Pain: Not for the Faint of Heart. JAMA Intern Med. 2016;176(5):p.599–601.
 5 Dowell D, Haegerich TM, Chou R. CDC Guideline for Prescribing Opioids for Chronic Pain-United States, 2016. JAMA. 2016;315(15):p.1624–45.
 6 Abdel Shaheed C, et al. Efficacy, Tolerability, and Dose-Dependent Effects of Opioid Analgesics for Low Back Pain: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Intern Med. 2016;176(7):p.958–68.
 7 Attal N, et al. EFNS guidelines on the pharmacological treatment of neuropathic pain: 2010 revision. Eur J Neurol. 2010;17(9):p.1113–e88.
 8 Webster LR, Webster RM. Predicting aberrant behaviors in opioid-treated patients: preliminary validation of the Opioid Risk Tool. Pain Med. 2005;6(6):p.432–42.
 9 Edlund MJ, et al. Risk factors for clinically recognized opioid abuse and dependence among veterans using opioids for chronic non-cancer pain. Pain. 2007;129(3):p.355–62.
10 Rollason V, et al. Pharmacogenetics of analgesics: toward the individualization of prescription. Pharmacogenomics. 2008;9(7):p.905–33.
11 Samer CF, et al. Genetic polymorphisms and drug interactions modulating CYP2D6 and CYP3A activities have a major effect on oxycodone analgesic efficacy and safety. Br J Pharmacol. 2010;160(4):p.919–30.