Hypertonie-Guideline von ­mednetbern
Was ist neu beim Update 2016?

Hypertonie-Guideline von ­mednetbern

Lernen
Ausgabe
2017/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01449
Prim Hosp Care (de). 2017;17(09):182-184

Affiliations
a mednetbern; b beratender Kardiologe

Publiziert am 10.05.2017

Das Ärztenetzwerk mednetbern leistet mit der Erarbeitung von medizinischen Guide­lines [1] zu den grossen Diagnosen, die in die Domäne der Grundversorgung gehören, einen Beitrag zur Verbesserung der Qualität der Hausarztmedizin.

Ausgangslage, Zielsetzung, Methodik

Fünf Jahre nach der Einführung unserer ersten Guideline zur essentiellen Hypertonie war die Zeit reif für ­diverse Anpassungen. Unklarheiten und Lücken der bisherigen Guideline sollten beseitigt, und uns wichtig erscheinende Neuerungen bekanntgemacht werden.
Ein Projektteam revidierte die bestehende Guideline. Neben dem Hinweis auf die Basisliteratur [2] werden im Literaturverzeichnis auch die Begründungen für unsere neuen Entscheidungen geliefert. In einem Vernehmlassungsverfahren konnten sich die über 60 sehr erfahrenen Netzwerkmitglieder äussern. Die Feedbacks wurden analysiert und in die neue Guideline-Version integriert.

Nutzen, Ergebnisse

Wichtige Neuerungen sind die Abschnitte zu den Blutdruck-Zielwerten und zu den Add-On-Therapien, sowie die komplette Überarbeitung der Pharmakotherapie. Zusätzlich formulierten wir Ergänzungen zu Punkten, die in der alten Version zu Fragen führten oder möglicherweise zu wenig betont wurden.

Blutdruck-Zielwerte

Obwohl nicht neu, so entsprechen die fünf verschiedenen Blutdruck-Zielwerte doch einer zunehmenden Nachfrage, auch von Patientenseite. Jeder Patient soll möglichst einen für ihn und seine gesundheitliche ­Situation massgeschneiderten Zielwert erhalten. Es ist Aufgabe des Hausarztes, diesen Zielwert unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des Patienten und Ausschöpfung des therapeutischen Arsenals anzustreben. Das Erreichen von <140/90 mm Hg ist schwierig genug, wie der Alltag beweist. Je nach Komorbidität werden noch tiefere Werte verlangt, oder sogar die «Punktlandung» auf 150/80 mm Hg bei den über 80-Jährigen [3]; dies sind die neuen Herausforderungen, denen wir uns nicht entziehen können. Es ist klar, dass nur ganz feste therapeutische Bündnisse zwischen Arzt und Patient zum Erfolg führen.

Pharmakotherapie

– Die Behandlungsempfehlung zur Wahl von Anti­hypertensiva wurde bei den über 80-Jährigen um die Angiotensin-converting-enzyme-Inhibitoren (ACEI) erweitert.
– Thiazid-Diuretika (TH-D): Rückzug von Chlortalidon. Ein bedauerlicher Schritt für ein bewährtes und bestausgewiesenes Arzneimittel [4]. Indapamid wird neu erste Wahl und dem Hydrochlorothiazid vorgezogen [5].
– ACEI: Perindopril hat deutliche Vorteile bewiesen und wird dem Ramipril und Enalapril vorangestellt [6].
– Angiotensin-II (AT-II): Irbesartan und Olmesartan mit überlegener BD-Senkung [7].
– Betablocker (BB): Bisoprolol, Carvedilol und Meto­prolol werden in der Stoffgruppe der Betablocker für die Hypertoniebehandlung favorisiert. Atenolol und Nebivolol sind nicht mehr auf unserer Liste [12].
– Add-On-Präparate: Spironolacton (nur bei ausreichender Nierenfunktion) [4].
Tabelle 1: Wahl von Antihypertensiva.
Antihypertensiva
Empfehlenswert beiTH-DACEIAT-IIBBCA-A
Metabolischem Syndrom XX X
Diabetes mellitus XX  
Nierenerkrankungen XX  
Nach SchlaganfallXXXXX
Nach Herzinfarkt XXX 
Angina pectoris (X)(X)XX
Vorhofflimmern XXX 
HerzinsuffizienzXXXX 
Linksventrikulärer Hypertrophie XX X
Tachykardie/Migräne/Tremor   X 
Älteren Patienten >80 J.XX  X
Schwangerschaft   X 
Schwarzer HautfarbeX   X
Abkürzungen: ACEI = Angiotensin-converting-enzyme-Inhibitoren; AT-II = Angiotensin-II; 
BB = Betablocker; CA-A = Kalziumantagonisten; TH-D = Thiazid-Diuretika

Weitere Ergänzungen

– 24-Stunden-Blutdruckmessung: Erweiterung bzw. Präzisierung der Indikation (Diskrepanzen zwischen Heim- und Praxismessungen, Frage nach nächtlichem Dipping, Verdacht auf Schlaf-Apnoe, chronische Nierenerkrankung, Diabetes mellitus).
– Blutdruckmessung im Stehen nach ein und drei ­Minuten (ältere Patienten, Diabetiker).
– Initiale Kombinationsbehandlung: wenn der Blutdruck initial 20/10 mm Hg über dem Zielwert liegt, soll die Kombination von ACEI oder AT-II mit Kalziumantagonisten (CA-A) zum Zuge kommen [8].
– Bei Notwendigkeit einer Kombinationsbehandlung soll möglichst ein Präparat abends eingenommen werden (nur bei tadelloser Compliance, sonst besser alle zusammen morgens).
Tabelle 2: Zusammenfassung essentielle Hypertonie.
Diagnose nach ICD-10I–10: Essentielle (primäre) Hypertonie
Definition erhöhter BD≥140/90 mm Hg / bei Selbstmessungen 135/85 mm Hg
Schweregrade1: 140–159 und / oder 90–99 • 2: 160–179 und / oder 100–109 • 3: ≥180 und / oder ≥110
Blutdruckmessung– Sitzend oder liegend – nach einigen Minuten Ruhe • beide Arme beim 1. Mal • richtige Manschettenbreite
– Mindestens 2 Messungen bei je 2 verschiedenen Besuchen
– BD-Selbstmessung mit Patientengerät überprüfen
– 24-h-BD-Messung bei: Diskrepanzen zwischen Heim- und Praxismessungen, Frage nach nächtlichem Dipping, V.a. ­Schlaf-Apnoe, chronische Nierenerkrankung, Diabetes mellitus
– Ältere Patienten und Diabetiker: initial und gelegentlich im Verlauf (z.B. bei Schwindel) BD-Messung im Stehen nach 1 und 3 Minuten
AnamneseFamilie: Hypertonie • zusätzliche Risikofaktoren für kardiovaskuläre Krankheiten (Diabetes, Hyperlipidämie) • manifeste 
Herz-Kreislauferkrankungen (z.B. Hirnschlag oder Herzinfarkt)
Patient: Kardio- und zerebrovaskuläre Ereignisse • Gewichtsverlauf • Hinweise auf Schlafapnoe • Medikamentenanamnese: Anabolika, nicht-steroidale Entzündungshemmer, «Pille», Kortikosteroide, Ciclosporin, Sympatikomimetika • zusätzliche 
Risikofaktoren für kardiovaskuläre Krankheiten (Rauchen, ­Alkohol, körperliche Inaktivität, Kokain)
Klinische UntersuchungUmfassende internistische Untersuchung mit
BMI / Bauchumfang • Fusspulse • Gefässauskultation (Karotiden & Nierenarterien) • Option: Augenfundus
ZusatzuntersuchungenBlutKalium • Kreatinin • Glukose • Lipidstatus inkl. LDL-Cholesterin • Harnsäure • Hämatogramm 
• Option: Kalzium
UrinStatus, Option: Mikroalbumin
EKG 
Echokardiografiebei EKG-Auffälligkeiten • Verdacht auf Endorganschäden (z.B. junge Patienten, schwere 
Hypertoniker)
Karotisduplex, Thoraxröntgennur Ausnahmefälle
Therapie– Initial Lebensstiländerungen (wenn BD <180/110 mm Hg): Nikotin: Rauchstopp • Alkohol: ♂max. 2–3 dl Wein / Tag; ♀ max. 1–2 dl Wein / Tag • Senkung des Salzkonsums • Bewegung: mind. 30 Min. Ausdauertraining / 2× wöchentlich • Gewichtskontrolle
– Sofortige Pharmakotherapie: wenn BD ≥180/110 mm Hg
– Wenn BD initial >20/10 mm Hg über Zielwert → sofort mit Kombinationstherapie beginnen (ACEI oder AT-II + CA-A)
Pharmakotherapie­resistente HypertonieUrsachenMassnahmen
ComplianceNochmalige Aufklärung • BD-Selbstmessung mit Protokollierung 
• Dosette
Nach 8 Wochen ungenügender BlutdrucksenkungKombinationstherapie
Einnahme blutdrucksteigernder SubstanzenAufklärung
Seltene Ursachen / Verdacht auf sekundäre HypertonieWeitere Abklärungen (Kreatinin-Clearance, ­Nierensonographie, 24-h-Urin, TSH) • ev. Überweisung
Patientenempfehlungen– Heimmessung mit Kontrollblatt zur Dokumentation 
– Wenn Kombinationstherapie: möglichst ein Präparat abends einnehmen (bei tadelloser Compliance), sonst alle am Morgen einnehmen
Blutdruck-Zielwerte– Generell: <140/90 mm Hg
– Patienten mit Diabetes mellitus: <130/90 mm Hg 
– Patienten mit manifesten Herz-Kreislauf-Erkrankungen: systolisch 125–130 mm Hg und diastolisch <90 mm Hg 
– Patienten mit proteinurischer (>500 mg/d) chronischer Niereninsuffizienz: <130/80 mm Hg (gilt auch für Diabetiker mit 
Proteinurie)
– Ältere Patienten (>80 Jahre): 150/80 mm Hg (cave Orthostase)
Abkürzungen: ACEI = Angiotensin-converting-enzyme-Inhibitoren; AT-II = Angiotensin-II; BD = Blutdruck; BMI = Body Mass Index; CA-A = Kalziumantagonisten; 
TSH = Thyreotropin

Schlussfolgerung, Ausblick

Retrospektiv können wir feststellen, dass unsere Guide­line von 2011 noch recht gut ist. Trotzdem hat sich ­einiges geändert, und wir versuchten, die wesentlichen Entwicklungen zu erkennen und zu berücksichtigen. Hinweise zu den über 80-Jährigen sowie zu den grossen Patientengruppen der Diabetiker und Niereninsuffizienten sollen der demografischen Entwicklung Rechnung tragen. Die Modifikation der Medikamentenvorschläge wird unsere Behandlungsergebnisse ­zusätzlich verbessern.
Tabelle 3: Medikamente.
Medikamenten-
Gruppen1. Wahl Wirkstoff2. Wahl Wirkstoff3. Wahl WirkstoffEmpfehlenswert bei folgenden
Zuständen
Kontraindikationen
Thiazid-DiuretikaIndapamidHydrochlorothiazid 
(WHO) • Nach Schlaganfall • Herzinsuffizienz 
• Ältere Patienten mit ­isolierter systolischer Hypertonie • Schwarze Hautfarbe• Schwere Leber- und Nieren­insuffizienz 
• Hypokaliämie 
• Hyponatriämie 
• Hyper­kalzämie 
• Symptomatische Hyperurikämie
Dosierung1.5–2.5 mg morgens25 mg morgens 
(in Kombi: 12.5 mg) 
Tagestherapie ca. Fr.0.500.20 
ACEIPerindoprilRamiprilEnalapril (WHO) • Metabolisches Syndrom • Diabetes 
mellitus • Nieren­erkrankungen • Nach Schlaganfall • Nach Herz­infarkt 
• Vorhofflim­mern • Herzinsuffizienz 
• Links­ventrikuläre ­Hypertrophie 
• Angina pectoris• Schwangerschaft 
• Hyperkaliämie 
• Angioödem
Dosierung2–4–8 mg 1× tgl.5–10 mg 1× tgl. 20 mg 1× tgl.
Tagestherapie ca. Fr.0.500.500.50
AT-II (bei ACEI-
Unverträglichkeit) IrbesartanOlmesartan • Metabolisches Syndrom • Diabetes ­mellitus • Nierenerkrankungen 
• Nach Schlaganfall • Nach Herz-­
infarkt • Vorhofflimmern • Herzinsuffizienz • Linksventrikuläre Hypertrophie 
­• ­Angina pectoris• Schwangerschaft 
• Hyperkaliämie
Dosierung150–300 mg 1× tgl. 10–20–40 mg 1× tgl. 
Tagestherapie ca. Fr.0.70–0.90  
Betablocker Bisoprolol (WHO)Carvedilol (WHO)Metoprolol (WHO)• Nach Schlaganfall • Nach Herzinfarkt 
• Angina pectoris • Vorhofflimmern 
• Herzinsuffizienz • Tachykardie 
• Migräne • Tremor • Schwangerschaft• Asthma 
• A-V Block Grad 2 oder 3
• Glukose-Intoleranz 
• schwere COPD 
• Puls <50 / min 
• Raynaud-Syndrom
Dosierung5–10 mg 1× tgl. 25–50 mg 1× tgl. 50–200 mg 1× tgl.
Tagestherapie ca. Fr. 0.40–0.600.60–1.100.30–0.50
Ca-AnatagonistenAmlodipin (WHO) Lercanidipin*
(*bei Ödemen unter ­Amlodipin) • Metabolisches Syndrom • Nach 
Schlaganfall • Angina pectoris ­• ­Linksventrikuläre Hypertrophie 
• Ältere Patienten mit isolierter systolischer Hypertonie • Schwarze Hautfarbe• Herzinsuffizienz
Dosierung5–10 mg 1× tgl.10–20 mg tgl. 
Tagestherapie ca. Fr. 0.40–0.700.50–0.70 
Add-On-Therapie Spironolacton (bei ausreichender 
Nierenfunktion) AlphablockerAndere 
Vasodilatantien
Basisliteratur: WHO ISH 2003 Guidelines statement on management of hypertension // the essential medicines list • 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of arterial ­hypertension EHJ, The European Heart Journal, doi:10.1093/eurheartj/eht151 • 2015 Swiss Society of Hypertension Guidelines
Dr. med. Amato Giani
Facharzt FMH für ­Allgemeine Innere Medizin
Sidlerstrasse 4
CH-3012 Bern
amato.giani[at]hin.ch
1 Giani A, et al. Qualitätsarbeit in einem Ärztenetzwerk – die Erarbeitung von Guidelines. http://www.primary-care.ch/docs/ primarycare/archiv/de/2011/2011-16/2011-16-207.PDF
2 WHO ISH 2003 Guidelines statement on management of hypertension // the essential medicines list • 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of arterial hypertension EHJ, The European Heart Journal, doi:10.1093/eurheartj/ eurheartj/eht151 • 2015 Swiss Society of Hypertension Guide
3 Beckett N, et al. Treatment of Hypertension in Patients 80 Years of Age or Older. (HYVET-Studie). http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa0801369#t=article
4 Major Outcomes in High-Risk Hypertensive Patients Randomized to Angiotensin-Converting Enzyme Inhibitor or Calcium Channel Blocker vs Diuretic: The Antihypertensive and Lipid-Lowering Treatment to Prevent Heart Attack Trial (ALLHAT). JAMA. 2002;288(23):2981–97. doi:10.1001/jama.288.23.2981.
5 Roush GC, et al. Head-to-head comparisons of hydrochlorothiazide with indapamide and chlorthalidone: antihypertensive and metabolic effects. Hypertension. 2015;65(5):1041–6. doi: 10.1161/HYPERTENSIONAHA.114.05021. Epub 2015 Mar 2
6 Snyman J, Wessels F. Perindopril: do randomised, controlled trials support an ACE inhibitor class effect? A meta-analysis of clinical trials. Cardiovasc J Afr. 2009;20(2):127–34.
7 Oparil S, et al. Comparative efficacy of olmesartan, losartan, valsartan, and irbesartan in the control of essential hypertension. J Clin Hypertens (Greenwich). 2001;3(5):283–91, 318.
8 Jamerson K, et al. Benazepril plus Amlodipine or Hydrochlorothiazide for Hypertension in High-Risk Patients. (Accomplish-Studie). http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa0806182#t=article