«Ist meine Vergesslichkeit noch normal?»
Unterscheidung zwischen altersbedingtem Rückgang der kognitiven Leistungsfähigkeit und beginnender Enzephalopathie nicht einfach

«Ist meine Vergesslichkeit noch normal?»

Lernen
Ausgabe
2017/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01450
Prim Hosp Care (de). 2017;17(19):368-370

Affiliations
Berner Spitalzentrum für Altersmedizin, Siloah AG, Gümligen

Publiziert am 11.10.2017

Wurde Ihnen diese Frage in der Praxis auch schon gestellt? Von jemandem, bei dem Sie bisher nie an eine kognitive Problematik gedacht hatten und der den Alltag problemlos zu bewältigen schien? Falls ja – wie hatten Sie reagiert und geantwortet? Was schlugen Sie vor, wie hatten Sie argumentiert?
Mit diesen kniffligen Fragen begannen wir den SGAIM-Workshop. Sie können sich vorstellen, dass es dabei nicht einfach war, rasch befriedigende Antworten zu finden und zu formulieren. Somit versuchten wir uns dem Problem mit einer gewissen Systematik zu nähern. Zuvor allerdings wurden die Begriffe «Vergesslichkeit» bzw. «Gedächtnis» noch etwas genauer erläutert oder vielmehr erweitert:
Offensichtlich ist zwar, wie wichtig mnestische Funktionen für Alltagserlebnisse («Wo hab ich denn nun schon wieder meine Schlüssel hingelegt?», «Wo eigentlich sind wir auf unserem gestrigen Ausflug gewesen?») und für die Sprache («ich finde den richtigen Namen, das richtige Wort nicht!») sind. Weniger bewusst ist uns aber, dass Gedächtnisfunktionen für viele andere Bereiche des Denkens genauso unerlässlich sind. So ist eine korrekte zeitliche, örtliche oder situative Orientierung nicht möglich ohne die dazugehörigen Informationen aus dem Gedächtnis (z.B. den genauen Wochentag anhand des gestrigen Tagesprogramms ableiten). Gleiches gilt für das richtige Erkennen und Zuordnen von Gesehenem (wie, wenn nicht aus vielen abgespeicherten Bildern, weiss ich problemlos, ob ich einen Hund oder eine Katze vor mir habe ...?). Auch beim Ausführen von erlernten motorischen Abläufen wie dem Gehen oder Spielen greifen wir automatisch auf eine riesige «Bibliothek» von Bewegungsmustern zurück («implizites» Gedächtnis).
Die Begriffe «Gedächtnis» und «Vergesslichkeit» dürfen wir also ruhig etwas weiter fassen und verstehen!
Nun aber zur konkreten Fragestellung «Ist meine Vergesslichkeit noch normal?».

Wie sind Äusserungen des Patienten bezüglich seiner offenbar selbst wahrgenommenen Vergesslichkeit zu bewerten?

Meist berichten die beunruhigten Patienten von Wortfindungsschwierigkeiten (Namen, Begriffe) sowie von kleineren «Fehlleistungen» im Alltag («stand im Keller und wusste nicht mehr, was ich da holen wollte»). Beides «Symptome», die ab dem fünften Lebensjahrzehnt merklich zunehmen und meist einem altersbedingten Rückgang der kognitiven Leistungsfähigkeiten entsprechen. Allerdings sind es halt auch Symptome, wie sie bei einer beginnenden Enzephalopathie vom Alzheimertyp beklagt werden. Solche Angaben sollten also primär erstmal als «subjektive Gedächtnisstörungen» registriert werden, ohne bereits als «altersbedingt» oder «pathologisch» klassifiziert zu werden.
Hellhörig sollten wir dort sein, wo die berichteten Symptome besonders ausgeprägt sind und bereits entsprechende Bemerkungen von Angehörigen oder bei der Arbeit gemacht wurden (sogenannte Red flags, siehe Tabelle 1). Berichte über zeitliche oder örtliche Orientierungsprobleme sowie das unbemerkte Wiederholen von Sätzen oder Schilderungen sind ebenfalls als Red flags einzustufen. Leider werden diese Auffälligkeiten vom Betroffenen selbst aber kaum je rapportiert (u.a. aufgrund der bereits eingeschränkten Wahrnehmung).
Tabelle 1: Red flags bei subjektiven Gedächnisstörungen.
Auch bei vollständig erhaltener Alltagskompetenz und unauffälligem kognitivem ­Basistest lassen sich Anhaltspunkte 
finden, die davor warnen sollten, eine «Subjektive Gedächtnisstörung» vorschnell als altersentsprechend einzustufen. 
Solche Red flags sind:
Eigenanamnese
Wurde von anderen Personen auf Gedächtnisschwierigkeiten angesprochen
Berichte über zeitliche oder örtliche Orientierungsprobleme
Fremdanamnese
Nichterinnern an kürzlich stattgefundene Unterhaltungen 
und Ereignisse
Unbewusstes Repetieren von Schilderungen
Orientierungsprobleme
Verwirrtheitsepisode im Rahmen einer somatischen ­Problematik
Verändertes Verhalten
Somatische Befunde
Kombination von positivem Palmomentalreflex 
und vermindertem Geruchssinn
Andererseits ist hinlänglich bekannt, dass eine depressive Grundstimmung zu einer verstärkten und verängstigenden Perzeption der altersadäquaten Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit führen kann. Bei Fehlen einer langjährigen Depressionsanamnese ist aber auch hier Vorsicht geboten, da eine beginnende demenzielle Entwicklung sehr häufig mit Interessensverlust, sozialem Rückzug und Verunsicherung – also typischen Depressionssymptomen – einhergeht.

Fazit

Die Antwort, ob eine geschilderte Vergesslichkeit noch normal ist, lässt sich durch das Gespräch mit dem Pa­tienten alleine nicht befriedigend klären. Es ergeben sich daraus lediglich Hinweise auf das Vorliegen oder Fehlen von Red flags, was uns zum nächsten Punkt führt.

Was helfen die in der Praxis üblichen Basistests (MMS, Uhrentest, u.a.), um einzuschätzen, ob eine subjektiv verstärkte Vergesslichkeit ohne sonstige Auffälligkeiten noch «normal» ist?

Leider wenig. Selbst wahrgenommene und in der Praxis geschilderte Gedächtnisstörungen sind, sofern überhaupt auf eine Enzephalopathie zurückzuführen, meist Ausdruck eines frühen klinischen Erkrankungsstadiums. Gerade hier wird die übliche Kombination von MMS und Uhrentest in den meisten Fällen «normal» ausfallen, da diese Basistestung bei Frühsymptomen nicht ausreichend sensitiv ist. Besonders ausgeprägt gilt dies bei jüngeren und besser ausgebildeten Personen.
Andere mit einer groben Ausbildungs- oder Alterskorrektur versehene Basistests, wie MoCA (Montreal Cognitive Assessment) oder DemTect (Demenz-Detektion), sind in diesen Situationen leider auch nur wenig vorteilhafter. Bei etwas besserer Sensitivität und ähnlichem zeitlichen Aufwand sind sie in der Praxis trotzdem zu bevorzugen (insbesondere der MoCA, siehe Abb. 1).
Abbildung 1: Montreal Cognitive Assessment (MoCA). Unter http://www.mocatest.org können Testblätter sowie Anleitungen in vielen Sprachen kostenlos ausgedruckt werden. Einmalige Registrierung notwendig.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von MoCA.

Fazit

Aufgrund gravierender Mängel in der Früh(!)diagnostik helfen die kognitiven Basistests bei der Frage «Ist meine Vergesslichkeit noch normal?» in der Regel nicht entscheidend weiter. Ausser die Testergebnisse fallen trotz (vermeintlichem) Frühstadium bereits pathologisch aus. Der MoCA sollte zwar durchgeführt werden, allerdings nur als grober Suchtest, ohne dabei eine «normale» Punktzahl missverständlich und vorschnell als «gesund» zu interpretieren.

Ist ein hausärztlicher Neurostatus indiziert?

Eine kursorische neurologische Prüfung wird in der Regel unauffällig ausfallen. Interessanterweise finden sich bei enzephalopathischer Ursache der Vergesslichkeit trotzdem nicht selten diskrete somatische Befunde. Diese müssen allerdings gezielt gesucht werden. So haben eigene Untersuchungen [1] gezeigt, dass die Kombination eines positiven Palmomentalreflexes [2] mit einem pathologischen Geruchssinn [3] als Red flag eingestuft werden muss, auch wenn der kognitive Basistest noch normal ausfällt. Da diese Zusatzuntersuchung nur 2–3 Minuten in Anspruch nimmt, kann sie die hausärztliche Basisabklärung durchaus ergänzen.

Hilft die Befragung von Partnern oder anderen engen Vertrauten?

Die Fremdanamnese hat in der Demenzdiagnostik 
einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Dies gilt insbesondere für die Zeit der ersten Symptome. Partner haben häufig ein bemerkenswertes Sensorium für Veränderungen, die nicht altersentsprechend sind. Dabei sind es nicht selten diskrete Veränderungen des Verhaltens, wovon, abgesehen von den mnestischen Auffälligkeiten, berichtet wird. Eine Fremdanamnese sollte also angestrebt werden, allerdings muss das im Einverständnis mit dem Patienten erfolgen, was bei weitem nicht immer der Fall ist.

Fazit

Falls die Fremdanamnese die subjektiven Gedächtnisstörungen des Patienten bestätigt und allenfalls zusätzliche Auffälligkeiten ergibt, ist dies als Red flag zu bewerten. In diesen Fällen kann bei Abklärungswunsch eine Basistestung in der Praxis auch mal übersprungen werden, da hier nur eine differenzierte alters- und ausbildungskorrigierte Testung eine zuverlässige Einschätzung ermöglicht.

Soll man in dieser Situation mit nur diskreten und fraglich pathologischen Symptomen überhaupt schon eine Klärung (z.B. an einer Memory Clinic) anstreben?

Die Überlegung, dass eine Diagnosestellung in einem klinischen Früheststadium keinen Sinn macht, da für diese Phase (ausserhalb von Studien) keine medikamentöse Therapieoption besteht, ist vertretbar und in vielen Fällen sogar angezeigt. Bei Patienten allerdings, die sich besorgt zeigen und möglicherweise auch ein erhöhtes Erkrankungsrisiko aufweisen (z.B. Elternteil mit früher Demenz, Red Flags), sollte man aber genauer abwägen, ob eine frühe Testung nicht doch der richtige Schritt wäre. Gilt diese Zeit doch als Phase der erhöhten Empfindlichkeit, der Verunsicherung und der familiären Auseinandersetzungen. Unabhängig davon, ob die Testung in der Folge normal oder pathologisch ausfällt, kann eine «Objektivierung» der Symptome zur Beruhigung der persönlichen und familiären Situation beitragen. Aber auch im weiteren Verlauf auftretende Probleme können dann besser verstanden und diesbezügliche Abklärungen eventuell unnötig werden (so z.B. bei Panik- und Verwirrtheitsepisoden, unklaren Thorax- und Abdominalschmerzen, Gewichtsverlust oder Stürzen).

Schlussfolgerungen für die Praxis

Die Frage «Ist meine Vergesslichkeit noch normal?» wird in der Praxis auch von Patienten mit gut erhaltener Alltagskompetenz gestellt. Eine seriöse Antwort ist schwierig. Der Mini Mental-Status (MMS) ist für diese Situation nicht geeignet. Auch der sensitivere und grundsätzlich vorzuziehende Montreal Cognitive Assessment-Test (MoCA) kann häufig keine verlässliche Antwort liefern (falsch negativ). Nur Testungen, die sehr differenziert bezüglich Alter und Ausbildung gewichten, sind schlüssig. Eine solche ist bei «blosser Vergesslichkeit» meist nicht notwendig, muss bei Erfassen von Red flags aber ernsthaft erwogen werden. Nach Red flags sollte in der hausärztlichen Praxis gezielt ­gesucht werden.
Dr. med. Markus Bürge
Chefarzt / Co-Klinikleiter BESAS
Berner Spitalzentrum für Altersmedizin
Siloah AG
Worbstrasse 316
CH-3073 Gümligen / Bern
markus.buerge[at]siloah.ch
1 Detecting dementia in patients with normal neuropsychological screening by Short Smell Test and Palmo-Mental Reflex Test: an observational study. S. Streit, A. Limacher, A. Zeller, M. Bürge.
BMC Geriatrics (2015).
2 Die Durchführung der Untersuchung finden Sie auf unserem YouTube-Video: how to test palmomental reflex (PMR).
3 Für diesen Zweck sehr simplifizierte Testung des Geruchsinns mittels Kaffeepulver: Das Pulver dem Patienten unter die Nase halten. Muss von ihm blind erkannt und spontan als «Kaffee» genannt werden. Als alleiniger Befund (also ohne zusätzlich positiven PMR) nicht zu verwerten, da zu unspezifisch.