Forschung Hausarztmedizin in Europa - EGPRN-Meeting in Leipzig 2016
Meeting des European General Practitioner Research Network in Leipzig 2016

Forschung Hausarztmedizin in Europa - EGPRN-Meeting in Leipzig 2016

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01452
Prim Hosp Care (de). 2017;17(02):0

Affiliations
Schweizer Delegierter European General Practitioner Research Network (EGPRN)

Publiziert am 24.01.2017

Das EGPRN ist die langjährige Forschungsgruppe Europäischer Hausärzte und gehört zu WONCA Europe. Sie traf sich im Oktober 2016 in Leipzig, gleichzeitig mit dem Hausärztetag, am dortigen Institut für Hausarztmedizin.
Warum interessiert sich der/die Schweizer Hausarzt/Hausärztin für das European General Practitioner Research Network (EGPRN)? Da treffen sich jeweils im Mai und Oktober Vertreter aus über 30 europäischen Ländern, halten mit Landesvertretern ein Council Meeting ab und tauschen sich über Forschungsprojekte aus.
Nur, wer mit dem WONCA Virus1 infiziert ist, versteht, weshalb ich nach Jahren im Vasco da Gama Movement (VdGM) [1] zur WONCA-Familie zurückgekehrt bin und neu bei EGPRN die Schweiz vertrete. WONCA lässt ­einem nicht mehr los! Zu interessant sind die persönlichen Gespräche mit Kollegen aus nah und fern, zu gross die Erfahrungen, die wir von solchen Austauschen ­zurück nach Hause bringen und zu motivierend das ­Erlebte für unseren Berufsalltag. Und schliesslich hängt eben alles irgendwie zusammen: WONCA brachte VdGM, VdGM führte zu JHaS und JHaS motiviert seine Mitglieder, die WONCA-Familie zu besuchen.
Im EGPRN wurde die Schweiz viele Jahre von Marco Zoller als Delegierter kompetent und hervorragend vertreten. Neu wurden ich von der SGAIM zum Delegierten gewählt und Marco Zoller als Stellvertreter bestätigt. Die SGAIM unterstützt dieses Engagement, und so möchten wir im Primary and Hospital Care regel­mässig über das Wichtigste für die Schweiz berichten
Mein Weg zu EGPRN fand gleichzeitig statt, als ich eine Umfrage bei Hausärzten plante, um ihre Meinung einzuholen, wie über 80-jährige Patienten mit zum Beispiel Gebrechlichkeit und Multimorbidität bezüglich Hypertonie behandelt werden sollten. Derzeit in Holland, planten wir eine internationale Studie in acht Ländern mit 500 Hausärzten. Drei Monate und ein paar E-Mails an EGPRN- und VdGM-Freunde später waren es 29 Länder und über 2500 Hausärzte, die in die Studie eingeschlossen werden konnten. Ein typisches EGPRN-Phänomen: Die Landesvertreter sind alle in der Praxis und der Forschung zu Hause und hoch motiviert, Projekte gemeinsam zu entwickeln und Nachwuchs zu fördern. Währenddessen entwickeln sie sich immer erfolgreicher von Querschnittsstudien weg und werben kompetitive Drittmittel (EU-Ausschreibung «Horizon 2020») ein. Welche drei Forschungsprojekte sind mir in diesen Tagen in Leipzig am meisten in Erinnerung geblieben?
Abbildung 2: 1 Slide – 5 Minutes. Getaktet von Thema zu Thema mit interessanten Kommentaren aus der Runde und hilfreichen Tipps für die Jungärzte.

Überbehandlung mit Statinen

Aniela Angelow (Deutschland) ging der Frage nach, was die kürzlich empfohlene Senkung der Behandlungsgrenze für Statine in neuen Guidelines für eine deutsche Bevölkerungsgruppe bedeutete. Sie wandte die neuen Richtlinien in einer Kohorte von 1365 Personen zwischen 40 bis 69 Jahre an und fand, dass, wenn die neuen NICE-Guidelines rigoros umgesetzt würden, fast jeder Zweite Statine benötigen würde. Sie schloss daraus, dass eine patientenzentrierte Entscheidung gefunden werden müsse, um diejenigen Patienten zu identifizieren, die am meisten von einer Behandlung profitierten, statt Empfehlungen umzusetzen, die für 50% der Patienten dieser Altersgruppe eine – mög­licherweise unnötige – Statinbehandlung zur Folge hätten.

Zunahme der Demenzraten in den letzten 22 Jahren

Jüngere Studien liessen eine Abnahme der ­Demenz-
inzidenz in den letzten Jahren vermuten. Emma van Bussel (Niederlande) analysierte >800 000 holländische Hausarztpatienten im Alter über 60 Jahre von 1992 bis 2014. Sie fand keine Abnahme, sondern eine jährliche Zunahme der Inzidenz um 2,1%. Nicht aus­geschlossen ist jedoch, dass sich eine tatsächliche ­Abnahme der Inzidenz hinter einer immer früher gestellten Diagnose versteckt, und somit die Inzidenz ausbalanciert.

Methotrexat – welche Patienten benötigen dreimonatige Laborkontrollen?

Patienten mit rheumatischen Erkrankungen unter ­Methotrexat sollen regelmässige Blutbildkontrollen erhalten. So schreibt es in Deutschland auch der Hersteller vor. Jean-Francois Chenot (Deutschland) untersuchte 7 Millionen Einwohner Deutschlands mittels Abrechnungsdaten der Krankenkasse und stellte bei >40 000 Patienten unter Methotrexattherapie fest, dass nur rund 40% dreimonatliche Laborkontrollen und etwa 70% Folsäure erhalten. Damit aber nicht genug, er erfasste auch, wie hoch die Hospitalisationsraten dieser Patienten war in Bezug auf Nieren-/Leberversagen oder Aplasie. In 10 Jahren waren das 1 von 20 Patienten unter Methotrexat. Es ist also nötig, in ­einer Folgestudie zu untersuchen, welche Patienten aufgrund möglicher Metho­trexat-Nebenwirkungen hospitalisiert werden müssen und weiter, ob bei diesen Patienten regelmässiges Monitoring der Laborwerte diese Hospitalisationen verringern könnte.

Auch Geburtstag wurde gefeiert

Während unserer Anwesenheit fand in Leipzig auch der 15. Geburtstag der Selbständigen Abteilung für Allgemeinmedizin mit 100 Lehrärzten statt; das mag nach wenig klingen, wurde Leipzig letztes Jahr doch 1000 Jahre alt. Dafür gibt es hier aber eine Stiftung «Perspektive Hausarzt» [2],und den «Leipziger Kompetenzpfad Allgemeinmedizin» (LeiKA [3]). Das bedeutet Patientenkontakt ab dem ersten Semester, individuelles Mentoring mit einem «Paten-Arzt», Fertigkeitstraining zur körperlichen Untersuchung und Diagnostik und natürlich auch einem Netzwerk für Studierende. Dass das längst nötig sei, berichtete Professor Joachim Szecs­enyi, ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikum Heidelberg.

Deutschland: Wer wird Hausarzt? 
Und eine 500 Euro Frage

Der Nachwuchsmangel ist in den Köpfen der Deutschen angekommen. Sogar in der Sendung «Wer wird Millionär» lautete eine der Fragen an die Kandidatin, welcher Beruf von extremen Nachwuchssorgen betroffen ist. Die Auswahl der Antworten «Bachelor», «Supertalent», «Der Bulle von Tölz» und «Landarzt» zeigte, dass es sich lediglich um die 500-Euro-Frage handelte, und somit uns allen die Antwort klar sein sollte.
Deutschland erlebte in den letzten zehn Jahren eine dramatische Verschiebung im ambulanten Bereich: Fast 60% mehr niedergelassene Spezialisten, jedoch 12% weniger Hausärzte. Hinzu kommt auch bei unserem Nachbarn ein steigendes Durchschnittsalter der Hausärzte und ein manifester Nachwuchsmangel.
Eine Gegenmassnahme war, die Hausarztmedizin akademisch zu machen. In Deutschland gibt es 38 medizinische Fakultäten, wovon 80% ­Abteilungen oder Institute für Hausarztmedizin beherbergen. Das ist zwar grundsätzlich die richtige Richtung, aber die Institute sind häufig (noch) zu klein, haben wenig Mittel, und es fehlen auch hier die Nachwuchskräfte.
Im Pausengespräch mit einem älteren deutschen ­Kollegen fällt mir auf, dass er die Hoffnung auf den Erfolg einer hausärztlichen Forschung bereits aufgegeben hat: «Die Forscher machen mit ihren Daten doch eh, was sie wollen», lautet sein bitteres Fazit. Hinweise darüber, was hausärztliche qualitativ hochstehende Studien gezeigt haben, winkt er ab mit den Worten: «mach’ ich doch schon seit Jahren so». Die jüngeren beiden Kolleginnen am Tisch widersprechen. Sie begrüssen die Akademisierung, haben aber Zweifel, ob sie für eine aktive Beteiligung in der Forschung die Zeit finden würden. Mit am Tisch ist eine junge Forscherin aus Marburg. Sie stellte am Vortag einen Trial vor, der die Wirksamkeit einer Entscheidungshilfe für oder gegen ein PSA-Screening in der Hausarztpraxis erforscht hat. Wir wünschen uns beide, dass sich die klinische und akademische Karriere besser in Einklang bringen liessen, wie zum Beispiel in Holland, wo der Doktor­titel (PhD) und die Facharztausbildung in sechs Jahren erreichbar sind. Sie und ihre deutschen Kolleginnen versprühen eine besondere Motivation – ja sogar Herzblut! – für die Hausarztmedizin im Generellen und die Forschung im Speziellen.
Das sei auch dringend nötig, wie Prof. Szecsenyi im Vortrag weiter ausführte. Seine Frage lautete: «Wie wollen wir die junge Generation gewinnen?» Er schlägt folgende Massnahmen vor:
– In der Forschung relevante Kernthemen erarbeiten: Häufige Behandlungsanlässe, Versorgung chronisch Kranker, Multimorbidität, Patientensicherheit und gemeinsame Entscheidungsfindung. Dies sind Beispiele, wie die Allgemeinmedizin in Deutschland gestärkt werden soll.
– In der Lehre mittels longitudinalem Curriculum vom ersten bis letzten Jahr und je nach Ausgang der derzeitigen politischen Debatten auch mittels Pflicht Tertial im Praktischen Jahr in der Hausarztmedizin.
– In der Weiterbildung zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, um die jungen Kolleginnen und Kollegen mit einem Curriculum zu unterstützen, da die vielen Arbeitgeberwechsel und Wechsel von ­einem Bundesland ins andere als schwierig empfunden werden. Ausserdem gibt es seit kurzem eine bessere Finanzierung für Praxen, die Ärzte in der Weiterbildung beschäftigen. In einigen Regionen werden strukturierte Weiterbildungsprogramme aufgebaut, umgesetzt von den Abteilungen für Allgemeinmedizin an den Universitäten. Die Politik und die Institute sind hier aber noch nicht derselben Meinung: Die Ärzte möchten in den einzelnen Bundesländern Kompetenzzentren einrichten, um die akademische Allgemeinmedizin in strukturierte Weiterbildungsprogramme einzugliedern.
Dass diese Massnahmen funktionieren, zeigt Prof. Szecsenyi am Beispiel seines Institutes in Heidelberg: 600 junge Hausärztinnen sind im Weiterbildungsprogramm. Die ersten 100 haben bereits die Praxistätigkeit aufgenommen und blieben zur Zufriedenheit des Institutes auch in der Region tätig. Erwähnt wurden auch mehr als 20 Wiedereinsteiger, die für die Hausarztmedizin begeistert werden konnten. Als Folge konnte auch gezeigt werden, dass die Weiterbildungszeit von acht Jahren auf sechs bis sieben Jahre abnahm und die Zufriedenheit der Jung- und Lehrärzte hoch war.
Zufrieden waren auch die Teilnehmer des Hausärzte­tages und EGPRN-Meetings in Leipzig. Auffallend waren die vielen Ad-hoc-Gruppen, die sich am EGPRN-Meeting formierten. Ganz nach dem Motto: Eine gute Idee findet einen fruchtbaren Boden. – Ich bin überzeugt, von vielen hier entstandenen Ideen werde ich in sechs Monaten in Rigabereits erste Resultate sehen.
Es gab vor einigen Jahren auch eine Schweizer Gruppe von EGPRN-Mitgliedern, die gemeinsam an den Kongress reisten. Diese Tradition möchte ich gerne wieder aufleben lassen und rufe die Institute für Hausarzt­medizin auf, mittels Institutsmitgliedschaft (Info siehe Kasten) pro Jahr 2 × 2 Jungärzte an den EGPRN-Kongress zu schicken, damit im internationalen Rahmen Projekte kritisch beleuchtet und bereichernd kommentiert werden können.

Informationskasten

EGPRN-Kongresse finden immer im Mai und Oktober statt. Teilnehmer, die EGPRN-Mitglied sind, profitieren von 50% Rabatt auf den Kongress (200 statt 400 Euro). Einzelmitgliedschaften für 6 Kongresse (d.h. 3 Jahre) kosten 250 Euro. Institute können eine Institutsmitgliedschaft für 6 Kongresse à 800 Euro abschliessen und erhalten damit das Recht, 2 Kollegen pro Kongress zum Mitgliederpreis zu delegieren.
Nächste Kongresse:
11. bis 14. Mai 2017: Riga, Lettland
19. bis 22. Oktober 2017: Dublin, Irland
Mehr auf www.egprn.org
Dr. med. Sven Streit
Leiter Nachwuchs und
Vernetzung Hausärzte
Berner Institut für Hausarztmedizin BIHAM
Universität Bern
Gesellschaftstrasse 49
CH-3012 Bern
sven.streit[at]
biham.unibe.ch
1 VdGM: Die Europäische Jungärzteorganisation.
Nächstes Treffen im Juli 2017 in Prag.
2 www.hausarztsachsen.de
3 www.facebook.com/KompetenzpfadAllgemeinmedizin