Mehr Behandlungszeit im therapeutischen Bereich

Antikoagulation in der Hausarztpraxis – ein Gütesiegel?

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01484
Prim Hosp Care (de). 2017;17(13):248-249

Affiliations
Institut für Hausarztmedizin, Zürich

Publiziert am 12.07.2017

Im letzten Jahr berichteten wir in dieser Zeitschrift über den positiven Neben­effekt, den die ­Gerinnungskontrolle in der Hausarztpraxis auf den Blutdruck der Patienten hat [1]. Wie es um die Gerinnungswerte in Schweizer Hausarztpraxen steht, blieb offen. Bis jetzt – denn hier kommt die neueste Studie aus dem FIRE-­Datenpool.
Vitamin-K-Antagonisten (VKA), sind nach wie vor die am häufigsten verschriebenen Substanzen für Patienten mit langfristigem Antikoagulationsbedarf in der Schweizer Grundversorgung. Unter dieser Behandlung sollte der Gerinnungswert International Normalized Ratio (INR) eines Patienten ständig im Wertebereich 2−3 liegen. Liegt der INR-Wert weniger als 70% der ­Behandlungszeit in diesem therapeutischen Bereich, sind Wirksamkeit und Sicherheit der VKA beeinträchtigt. Die Zeit, während der der INR-Wert im thera­peutischen Bereich liegt, wird dagegen als Time in ­Therapeutic Range (TTR) bezeichnet und gilt als Surrogatparameter für die Qualität der Behandlung.

Hausärzte in schlechtem Licht

Internationalen Studien zufolge steht es schlecht um diesen Wert, vor allem in der Hausarztmedizin [2, 3]. Im Schnitt liegen die publizierten TTR-Werte um 50−60%. Zurückgeführt wird dies auf die schwierige Hand­habung und ungünstige Pharmakologie der ­Medikamente sowie eine mangelnde Adhärenz der ­Patienten. Ausnahmen bilden Länder mit sehr hausarztzen­trierten Gesundheitssystemen wie Schweden und die ­Niederlande, wo die Patienten im Schnitt 76% bzw. 81% der Zeit im therapeutischen Bereich liegen. Wir ­wollten untersuchen, welche Werte in der Schweiz ­erreicht werden. Die Regionalauswertungen einer ­grossen Multi­zenterstudie zum Vergleich von VKA mit ­direkten Antikoagulanzien gaben wenig 
Anlass zur Hoffnung. Die Schweizer Patienten lagen 
darin noch unter dem westeuropäischen Durchschnitt von 63% [4].

FIRE bringt Licht ins Dunkle

Ziel unserer Arbeit war, die Charakteristika von Schweizer Hausarztpatienten unter langfristiger VKA-Therapie und deren durchschnittlich erzielte TTR zu erfassen, und die Ergebnisse mit internationalen Daten aus der Literatur zu vergleichen. Dazu ­ermittelten wir alle Patienten in der FIRE-Datenbank, die zwischen 2009 und 2015 für mindestens sechs Monate und ohne Unterbrechung VKA und regelmässige INR-Messungen erhalten hatten. Wir bestimmten ihr Alter, Geschlecht, Komorbiditäten, zusätzliche Medikamente, Leber- und Nierenfunktion sowie Schlag­anfallrisiko (CHAD2-Score).

Vergleich mit Phase-III-Studien

Die TTR dieser Patienten wurde mithilfe der sogenannten Rosendaal-Formel errechnet. Diese Formel ist validiert und gilt als Goldstandard zur Berechnung der TTR. Sie ermöglicht es, den INR-Verlauf im Beobachtungszeitraum auf Basis der verfügbaren INR-Werte zu berechnen und den Anteil der Tage zu ermitteln, in dem sich der INR im Bereich 2−3 befand.
Die Ergebnisse wurden mit publizierten Daten aus den Phase-III-Studien verglichen, in denen VKA gegen direkte orale Antikoagulanzien verglichen wurden: RE-LY, ROCKET-AF, ARISTOTLE, und ENGAGE-AF-TIMI 48.

Älter, kränker, dennoch besser

215 Patienten erfüllten die Einschlusskriterien. Die mediane Beobachtungszeit betrug 2,2 Jahre, genau wie in den Phase-III-Studien. Auch der mittlere CHAD2-Score war vergleichbar (2,7 vs. 2,6). Unterschiede zwischen den Patienten aus der FIRE-Datenbank und jenen aus den Phase-III-Studien bestanden hinsichtlich des Alters (67,9% vs. 38% ≥75 Jahre), des Frauenanteils (50,7% vs. 37,5%) und der Komorbiditäten. So wiesen die FIRE-Patienten durchschnittlich fünf zusätzliche chronische Erkrankungen auf und nahmen sieben zusätz­liche Medikamente neben VKA. Entsprechende Zahlen aus den Phase-III-Studien sind nicht publiziert. Zwei FIRE-Patienten waren von stark eingeschränkter Leber- resp. Nierenfunktion betroffen. In den Phase-III-Studien waren solche Patienten ausgeschlossen.
Die mediane TTR der FIRE-Patienten betrug 75% ver­glichen mit 65% in den Phase-III-Studien. Niedrigere TTR-Werte waren mit weiblichem Geschlecht asso­ziiert, vor allem in höherem Alter. Komorbiditäten, ­zusätzliche Medikamente und Behandlungsdauer waren nicht assoziiert.

Fazit für die Praxis

Die Ergebnisse zeigen, dass sich Patienten unter VKA-Therapie in der Realität der Schweizer Grundversorgung deutlich von Studienpatienten unterscheiden. Sie sind deutlich älter, nicht selten weiblich und multimorbide. Dennoch verbringen sie durchschnittlich mehr Behandlungszeit im therapeutischen Bereich als Patienten unter Studienbedingungen. Dies spricht für eine hohe Qualität der hausärztlichen Betreuung. Mit Hilfe der FIRE-Datenbank ist es gelungen, dies sichtbar zu machen. Erreichen Patienten solche Werte, und ­haben sonst keine Probleme mit VKA, ­besteht keine Indikation für einen Wechsel auf andere orale Anti­koagulanzien. In Hinblick auf jene Patienten, die ungenügende TTR-Werte unter 70% aufwiesen, muss weitergeforscht werden, welche Faktoren negativen Einfluss auf die TTR nehmen. Komorbiditäten und zusätzliche Medikamente spielten in dieser Studie offenbar keine Rolle.

Einfach teilnehmen

Wer sich in Zukunft als Hausarzt am FIRE-Projekt beteiligen möchte, ist herzlich eingeladen. Die Teilnahme funktioniert vollelektronisch und kann problemlos an die MPA delegiert werden. Alle Infos unter: www.fireproject.ch.
Dr. med. Sima Djalali
Universität Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
sima.djalali[at]usz.ch
Djalali S, Valeri F, Gerber B, Meli DN, Senn O. Anticoagulation Control in Swiss Primary Care: Time in Therapeutic Range Percentages Exceed Benchmarks of Phase III Trials. Clin Appl Thromb Hemost. 2016 Apr 6. pii: 1076029616642514. [Epub ahead of print]
1 Djalali S, Gerinnung unter Kontrolle, Blutdruck auch. Prim Hosp Care (de). 2016;16(09):171.
2 Cios DA, Baker WL, Sander SD, Phung OJ, Coleman CI. Evaluating the impact of study-level factors on warfarin control in U.S.-based primary studies: a meta-analysis. Am J Health Syst Pharm. 2009;66(10):916–25.
3 Cotté FE, Benhaddi H, Duprat-Lomon I, Doble A, Marchant N, Letierce A, Huguet M. Vitamin K antagonist treatment in patients with atrial fibrillation and time in therapeutic range in four European countries. Clin Ther. 2014;36(9):1160–8.
4 Singer DE, Hellkamp AS, Piccini JP, Mahaffey KW, Lokhnygina Y, Pan G, et al. Impact of global geographic region on time in therapeutic range on warfarin anticoagulant therapy: data from the ROCKET AF clinical trial. J Am Heart Assoc. 2013;2(1):e000067.