Sich zur Verschreibungspraxis informieren: einige wichtige Fragen
Eine andauernde Sorge

Sich zur Verschreibungspraxis informieren: einige wichtige Fragen

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01491
Prim Hosp Care (de). 2017;17(05):93-94

Affiliations
Universität Lausanne und CHUV

Publiziert am 08.03.2017

Das Verschreiben von Medikamenten beginnt bei Medizinstudenten am Ende ihrer Studienzeit und setzt sich über die gesamte Ärztelaufbahn fort. Um eine gute Verschreibungspraxis muss sich der Arzt ständig bemühen und dabei aktuelle Informationen über die Medikamente einholen und berücksichtigen. Diese Informationen stammen aus unterschiedlichen Quellen mit wechselnder Glaubwürdigkeit und Objektivität, was sehr zeitraubend sein kann.

Hintergrund

Wie können aktuelle und verlässliche Informationen zu Medikamenten für die allgemein- oder fachärztliche Praxis gewonnen werden? Ein Standpunkt und Vorschläge auf der Grundlage einer qualitativen Studie zu diesem Thema, die unter Einbeziehung von Angaben aus der internationalen Literatur vor Kurzem in der Schweiz durchgeführt wurde.

Der Arzt und die verschiedenen Informationsmöglichkeiten über Medikamente

Derzeit informiert sich die Hausärztin hauptsächlich durch Kongresse, Leitlinien, Kollegen und Experten, Metaanalysen, Zusammenfassungen, und Qualitätszirkel [1]. Der Besuch von Vertretern der pharmazeutischen Industrie ist eine Möglichkeit der Information über Medikamente, die früher recht häufig genutzt wurde, heute jedoch stark rückläufig ist, vor allem bei den Hausärzten. Eine Informationsmöglichkeit von zunehmender Bedeutung ist der Opinion leader (OL), der ein anerkannter Kollege, eine Expertin oder ein medizinischer Fachvertreter sein kann [2–4]. Dieser OL ist eine charismatische Persönlichkeit, die für ihre Sachkenntnis bekannt und anerkannt ist und der man 
die Möglichkeit gibt, ausgewählte Informationen zu präsentieren [5]. Der OL ergreift bei verschiedenen Veranstaltungen das Wort, von denen der Grossteil im Rahmen der kontinuierlichen berufsbegleitenden Fortbildung stattfindet, was ihm noch mehr Ansehen verschafft.

Elemente aus der Forschung

Unter diesen sich wandelnden Rahmenbedingungen der Beschaffung von Informationen über Medikamente und vor dem Hintergrund einer sich verändernden Kommunikation bezüglich deren Verschreibung ermöglichte es eine vor Kurzem erstellte Doktorarbeit über die Entwicklungen bei der Verschreibung von Medikamenten – welche einen Überblick über die internationale Literatur sowie eine qualitative Studie auf der Grundlage von Gesprächen und Beobachtungen in der französischsprachigen Schweiz enthält – einige nütz­liche Elemente zu ermitteln. Mithilfe dieser Elemente können die oft überlasteten Ärzte bei der Verschreibung eine auf unabhängigen, glaubwürdigen, voll­ständigen, praktischen und effizienten Informationen basierende Auswahl treffen.
Die Ergebnisse dieser Studie sind aus einer genauen Auswertung und Analyse von teilstrukturierten Einzelgesprächen und Beobachtungen hervorgegangen. Auf diese Weise wurden 47 etwa einstündige Gespräche aufgezeichnet, vollständig transkribiert und inhaltlich analysiert. Die Befragten setzten sich aus 20 verschreibenden Ärzten zusammen, darunter 6 ­niedergelassene Hausärzte und 4 niedergelassene ­psychiatrische Fachärzte sowie 2 Allgemeininternisten und 8 psychiatrische Fachärzte, die in Spitälern/ambulanten Behandlungszentren tätig sind. Ausserdem wurden 4 Experten für Psychopharmaka – vergleichbar mit OL –, die alle in der kontinuierlichen berufs­begleitenden Weiterbildung tätig sind, interviewt. ­Darüber hinaus wurden auch 10 Pharmareferenten unterschiedlicher pharmazeutischer Unternehmen angehört. Weitere befragte Akteure waren 3 Medizinstudenten im Wahlstudienjahr, die gerade im Bereich der Verschreibung ausgebildet wurden, 4 Pflegefachper­sonen, 1 klinischer Pharmakologe und 5 Manager der pharmazeutischen Industrie. Die direkten und persönlichen Beobachtungen bezogen sich auf 8 Situationen mit Pharmareferenten und 3 Situationen der kontinuierlichen berufsbegleitenden Weiterbildung, die von den 4 OL geleitet wurden [2].

Die Resultate der Studie

Die Ergebnisse der Studie lassen bestimmte Elemente erkennen; die wesentlichen sind:
– dass der Besuch von Pharmareferenten wenig glaubwürdig, zeitlich und inhaltlich begrenzt und zeitraubend ist, und dass dessen Inhalt von der pharmazeutischen Industrie vorgegeben wird und wenig auf die Bedürfnisse der praktizierenden Ärztin ausgerichtet ist. Dies erklärt, warum die Hausärzte den Rückgriff auf diese einseitige Informa­tionsquelle begrenzen. Tatsächlich haben sie insbesondere im Rahmen der verbindlich vorgeschriebenen kontinuierlichen ­berufsbegleitenden Weiterbildung mittlerweile ­Zugang zu anderen hochwertigen Informationsquellen, die auf ihre praktische Tätigkeit, die immer vielfältigere Krankheitsbilder beinhaltet, mehr abgestimmt ist;
– dass der Besuch von Pharmareferenten für die ­Spezialisten weiterhin eine brauchbare und oft genutzte Informationsquelle ist, da er stärker auf die in ihrer Praxis verwendete Medikamentenpalette ausgerichtet ist, und aufgrund der längeren Dauer ein besserer Austausch möglich ist;
– dass jeder Arzt dank der kontinuierlichen berufs­begleitenden Weiterbildung selbst die Themen sowie die Veranstaltungen (Kongresse, Symposien, ­Intervisionen, Qualitätszirkel usw.), bei denen er Informationen einholt, die im Zusammenhang mit seiner Praxis ­relevant sind, auswählt. Bei diesen ­Gelegenheiten wird er in Kontakt mit OL sein, die gleich mehrere Rollen wahrnehmen können;
– dass, wenn der OL von einem einzigen pharmazeutischen Unternehmen bezahlt wird, um dessen Produkte anzupreisen, dieser die Rolle eines Key-OL innehat; die Informationen, die er übermittelt, sind demnach stark einseitig gefärbt. Diese Key-OL sind in der Regel bedeutende Persönlichkeiten in ihrem Bereich, deren Botschaften folglich eine entsprechend starke Wirkung haben. Die pharmazeutische Industrie hat sich ihrer in grossem Umfang bedient, um ausschliesslich ihre Produkte zu fördern. Aus diesem Grund haben OL, welche die Rolle eines Key-OL einnehmen, innerhalb der medizinischen Gemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit verloren;
– dass, wenn ein OL innerhalb seiner näheren medizinischen Gemeinschaft Informationen über Medikamente liefert, er die Rolle eines lokalen OL innehat. Die Informationen, die er bereitstellt, sind sehr glaubwürdig, umso mehr, als dass seine Beiträge aufgrund des nicht vorhandenen oder aus einer Vielzahl von Quellen stammenden Sponsorings durch die Industrie unabhängig sind.
– dass die lokalen OL derzeit das Ziel des pharmazeutischen Marketings sind, insbesondere jene, die in einer prekären finanziellen Lage sind und/oder Anerkennung benötigen. Auf diese Weise möchte die pharmazeutische Industrie ihre Produkte über bestimmte lokale OL auf indirektere Art als durch Pharmareferenten und Key-OL fördern, die jedoch ebenso wenig unabhängig ist. Dies führt dazu, dass die lokalen OL nicht mehr als OL zu erkennen sind oder nicht mehr mit diesen identifiziert werden wollen.

Praktische Vorschläge

Aus den oben angesprochenen Punkten ergibt sich eine Reihe von Fragen, die sich der Arzt stellen könnte, um sich Gewissheit über den Grad der Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der Informationen über Medikamente zu verschaffen, die er erhalten wird, wenn er sich zu einer Veranstaltung begibt (Kongress, Symposium usw.).
Fragen dieser Art sind zum Beispiel:
– Aus welchen Quellen wird die Veranstaltung gesponsert?
– Wie wird der Redner/OL für seine Dienstleistung bezahlt (Finanzierungsquellen)?
– Stellt der Redner/OL für dieselbe Indikation Medikamente verschiedener pharmazeutischer Unternehmen vor?
Durch diese Arbeit unterstreichen wir den Nutzen der kontinuierlichen berufsbegleitenden Weiterbildung und versuchen ­mithilfe einiger Vorschläge, dem Mediziner, der heutzutage bei seiner Praxistätigkeit oft stark überlastet ist, den Zugang zu relevanten Informationen zu erleichtern.
Anne-Laure Pittet
University Institute of the History of Medicine and Public Health (IUHMSP)
University of Lausanne
and CHUV
Avenue de Provence 82
CH-1011 Lausanne
alpittet[at]hispeed.ch
1 Burnand B, Bovet E, Bengough T, Amiguet M, Barry A, Pidoux V,
et al. Knowledge translation in medicine: sources of information and barriers to implementation. Poster présenté au congrès de la SSMI 2015; 2015.
2 Pittet AL. L’orientation de la prescription médicale par l’industrie pharmaceutique. Influence des visiteurs médicaux et des leaders d’opinion sur la prescription de médecins généralistes et psychiatres en Suisse francophone. Thèse de doctorat en Sciences de la Vie. Université de Lausanne, Suisse; 2015.
3 Bras PL, Ricordeau P, Roussille B, Saintoyant V. L’information des médecins généralistes sur le médicament. Membres de l’Inspection générale des affaires sociales (IGAS); Septembre 2007. Rapport n° RM 2007-136P.
4 House of Commons Health Committee. The influence of the pharmaceutical industry. Fourth Report of Session 2004-05 (Volume I).
5 Katz E, Lazarsfeld P. Personal influence. New York: Free Press; 1955.