«Und wie geht es bei der Arbeit?»
Probleme und Handlungsmöglichkeiten bei Patienten mit psychisch bedingten Arbeitsproblemen

«Und wie geht es bei der Arbeit?»

Lernen
Ausgabe
2017/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01500
Prim Hosp Care (de). 2017;17(22):0

Affiliations
Leiter Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation, Psychiatrie Baselland

Publiziert am 21.11.2017

Patienten mit relevanten psychischen Problemen und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz sind in der hausärztlichen Praxis häufig. Gleichzeitig ist die Arbeitsproblematik eher selten ein explizites Thema in der Behandlung. Fundierte Hinweise, ob und wie Hausärzte bei Arbeitsproblemen ihrer psychisch kranken Patienten aktiv intervenieren können, gibt es bisher kaum.

Arbeitsprobleme bei psychisch kranken Patienten sind häufig

Hausärzte wissen, dass viele ihrer Patienten psychische Probleme haben, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken. Ein hoher Anteil der Bevölkerung weist ­gemäss epidemiologischer Studien eine diagnostizierbare psychische Störung auf: Innerhalb der letzten zwölf Monate (Jahresprävalenz) haben 25–30% mindestens einmal mindestens eine psychische Störung gehabt. Besonders häufige psychische Störungen sind Angststörungen, Depressionen, Substanzabhängigkeit, Somatisierungs- und Persönlichkeitsstörungen.
Die meisten dieser psychisch kranken Personen werden in der hausärztlichen Praxis wie auch in der Allgemeinen Inneren Medizin im Spital gesehen, wenn auch meist aufgrund eines somatischen Anlasses. Rund ein Drittel der hausärztlichen Patienten hat eine psychische Störung respektive relevante psychische Probleme. Hier muss man sich bewusst sein, dass zum einen rund 75% der psychisch Kranken erwerbstätig sind, und dass zum anderen wiederum 75% dieser psychisch kranken und erwerbstätigen Patienten Probleme bei der Arbeit haben – zum Beispiel eine reduzierte Produktivität [1]. Zudem haben Mitarbeitende mit psychischen Problemen auch häufigere und zudem besonders lange Arbeitsunfähigkeiten.

Zunehmende Ausgliederung trotz ­Professionalisierung der Hilfen

In den letzten Jahrzehnten wurden die Hilfen für psychisch Kranke enorm ausgebaut – insbesondere in der psychiatrischen, hausärztlichen und psychologisch-psychotherapeutischen Behandlung, aber auch durch die Schaffung spezialisierter Beratungsstellen sowie betriebsinterner Spezialdienste wie die betriebliche Sozialberatung und das interne Case Management etc. Die Schweiz weist beispielsweise weltweit mit grossem Abstand die höchste Dichte an Psychiatern auf: Auf rund 2000 Einwohner kommt im Schnitt 1 Psychiater. Jährlich begeben sich heute rund 500 000 Schweizerinnen und Schweizer in eine private oder institutionelle psychiatrische Behandlung [2]. An sich müssten wir deshalb psychisch immer gesünder werden. Dennoch hat in der Schweiz wie auch in vielen anderen Industrieländern die Ausgliederung von Personen mit psychischen Störungen aus dem Arbeitsmarkt stark zugenommen. In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Invalidisierungen aus psychischen Gründen mehr als vervierfacht, während die Invalidisierungen aus allen anderen Gründen «nur» um 40% angestiegen sind, also um einen Faktor 10 ­weniger stark. Jede zweite Neuberentung wird heute wegen einer psychischen Krankheit zugesprochen. Ähnliches zeigt sich auch bei den Arbeitsunfähigkeiten: Arbeitsunfähigkeiten aus psychischen Gründen haben stark zugenommen und verursachen heute bei vielen Krankentaggeldversicherern die höchsten Krankentaggeldkosten – noch vor den Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates.

Trotz IV-Reformen weniger Erfolge bei psychisch kranken Versicherten

Ein besonderes Problem stellt in der Schweiz die nach wie vor erhebliche Anzahl an Invalidisierungen bei den ganzen Jungen dar. Während die IV die Zugänge zur Rente in den letzten rund zwölf Jahren dank eines strikteren Regimes insgesamt massiv reduzieren konnte (strengere Gesetzgebung, Schaffung der IV-­eigenen ärztlichen Dienste, die sog. Regionalen Ärzt­lichen Dienste RAD etc.), gelang dies bei jungen ­Versicherten überhaupt nicht. Generell waren die IV-Reformen der letzten Dekade bei den psychisch Kranken deutlich weniger erfolgreich als bei den somatisch Kranken, und bei den mehrheitlich psychisch kranken jungen Neurentenbeziehenden waren sie gar nicht ­erfolgreich. Deshalb sieht die neueste IV-Reform, die Anfang 2017 im Parlament diskutiert wurde, vor allem vier Schwerpunkte vor: Bessere Massnahmen für ­psychisch Kranke und für Junge sowie eine verstärkte ­Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Arbeitgebern.
Was ist der Hintergrund dieser neuesten IV-Reform, respektive welche Barrieren versperren nach wie vor den Weg für bessere Erfolge in der Integration von psychisch kranken Patienten? Die OECD (Organisation 
for Economic Cooperation and Development) kommt in ihrer Analyse zum Schluss, dass es in der Schweiz vor allem an der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Arbeitgebern mangelt und generell an der Zusammenarbeit von Psychiatern/psychiatrisch geschulten Hausärzten mit all denjenigen «Laien», die besonders früh mit Personen mit psychisch bedingten Arbeitsproblemen konfrontiert werden: Lehrer, Berufsbildner, ­Arbeitgeber, Case Manager, Personal der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe etc. [3]. In der Schweiz fehlt es nicht an Fachleuten und spezialisierten Angeboten, sondern am Austausch von Informationen und an Kooperation.
Im Folgenden werden anhand der praktischen Erfahrung und der Forschungslage einige zentrale Probleme genannt und praktische Handlungsmöglichkeiten für den Hausarzt beschrieben.

Früherkennung von psychisch bedingten Arbeitsproblemen

Psychische Krankheiten und entsprechend auch allfällige Beeinträchtigungen in Ausbildung und Arbeit beginnen meist sehr früh: 50% aller psychischen Störungen beginnen vor dem 15. Altersjahr [4] – dies gilt auch für die IV-Rentner aus psychischen Gründen [5]. Bis zum 25. Altersjahr haben 75% aller psychischen Störungen schon begonnen, das heisst, der «normale» Hausarztpatient mit einer psychischen Arbeitsproblematik oder einem «Burnout» war schon beim Eintritt in den Arbeitsmarkt psychisch belastet.
Wenn demnach beispielsweise ein 40-jähriger Patient beim Hausarzt psychische Arbeitsprobleme oder eine psychisch belastende oder krankmachende Arbeitssituation (schlechtes Führungsverhalten oder schlechte Arbeitsbedingungen etc.) schildert, muss man sich bewusst sein, dass meist nicht alleine die negativen ­Arbeitsbedingungen für die Krise verantwortlich sind. Es gibt schlechte Arbeitsbedingungen und es gibt ungeschickte bis schädliche Führungskräfte – aber psychisch gesunde Mitarbeitende können dies meist bewältigen oder wechseln die Stelle. Das «reine» Burnout aufgrund ausschliesslich negativer äusserer Umstände ist die eher seltene Ausnahme.
Deshalb ist es wichtig, dass Hausärzte bei erwerbstätigen Patienten mit psychischen Auffälligkeiten in einer Art «Screening» regelmässig nachfragen, wie es bei der Arbeit so gehe. Stellt sich heraus, dass relevante und/oder längerdauernde psychisch bedingte Arbeitsprobleme vorliegen, sollten diese vertieft erhoben werden. Zeigt sich, dass der Pa­tient ein systematisches, psychisch bedingtes Arbeitsproblem hat, ist die Zuweisung zu einem Psychiater zu überlegen und eine allfällige Kontaktierung des Arbeitgebers mit dem Patienten zu diskutieren.

Analyse der Arbeitsproblematik

Es lohnt sich, die Arbeitsproblematik pragmatisch aber präzise zu eruieren. Nur auf der Basis einer klaren Analyse der Arbeitsprobleme lassen sich zweckmässige Interventionen ableiten. Dies klingt banal, ist aber nicht ganz so einfach und wird erfahrungsgemäss kaum je gemacht, weder von Hausärzten noch von Psychiatern oder Eingliederungsverantwortlichen in IV-Stellen oder Reha-Einrichtungen.

Erhebung der Funktionsdefizite

Zu einer Analyse der Arbeitsproblematik gehört erstens die Erhebung der zentralen krankheitsbedingten Funktionsdefizite (Tab. 1).
Tabelle 1: Krankheitsbedingte Funktionsdefizite (Beispiele).
Depressive Patienten– Konzentration
– Durchhaltefähigkeit (raschere Erschöpfbarkeit)
– Eigeninitiative
– Flexibilität
– Arbeitstempo
Patienten mit Angst­problemen– Verantwortungsübernahme
– Arbeitstempo (aus Angst, Fehler zu machen)
– Reduzierte Entscheidungsfreudigkeit
– Vermeiden von stressenden Situationen (sich exponieren, soziale Kontakte etc.)
– Absenzen (da die Patienten aus Angst vor Panikattacken den Weg zur Arbeitsstelle nicht bewältigen können)
«Dramatische»
Persönlichkeitsstörung
(emotional-instabil,
narzisstisch etc.)
Im Leistungsbereich:
– Ausdauer
– Konstanz
– Präzision
– Sachbezogenheit
Im sozialen Bereich:
– Frustrationstoleranz
– Stressresistenz
– Offenheit
– Verantwortungsübernahme (die anderen haben immer Schuld)
– Empathie
– Kritikfähigkeit
– Einsicht
(Je nach Art der Persönlichkeitsstörung sind die Defizite unterschiedlich – zum Beispiel bei den ängstlich-vermeidenden Persönlichkeiten)
Schizophrene PatientenDenkstörungen:
– Konzentration
– Planung und Organisation von Arbeitsaufgaben
– Abstraktionsvermögen
– «Multitasking»

Erhebung des Erlebens des Patienten

Zweitens müssen die zentralen arbeitsbezogenen Befürchtungen und Erwartungen des Patienten bekannt sein und verstanden werden. Dies ist deshalb wichtig, weil die meisten psychisch kranken Patienten spezifische ­arbeitsbezogene Ängste haben. Solange diese Erhebungen nicht ­explizit gemacht werden, wirken sie sich wegen des Vermeidungsverhaltens hemmend auf die Lösungsfindung aus. Wenn die Hauptangst des Patienten bekannt ist, können mit ihm hingegen Kompensationsmöglichkeiten diskutiert werden. Häufig handelt es sich dabei um die Angst (erneut) zu ver­sagen, wieder in Konfliktsituationen zu geraten, psychisch wieder instabil oder vom Chef kritisiert zu werden. Generell ist es wichtig, die subjektive Sicht des Patienten zu verstehen – aber nicht unbedingt, damit einverstanden zu sein. Einige Patienten haben eine sehr realistische Einschätzung ihrer Probleme, andere haben eine verzerrte (soziale) Wahrnehmung. So nehmen zum Beispiel Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung die Problemursache meist im Umfeld wahr statt bei sich selbst und fühlen sich bedroht («Mobbing»), oder unterschätzen depressive und Angstpa­tienten ihre Leistungsfähigkeit.

Erhebung typischer Problemmuster in der ­Arbeitsbiografie

Drittens müssen allfällige typische Problemmuster des Patienten in seiner bisherigen Arbeitsbiografie erhoben werden. Da psychische Störungen früh beginnen, meist einen wiederkehrenden oder anhaltenden Verlauf haben und gleichzeitig die meisten psychisch Kranken erwerbstätig sind, bringen die Patienten normalerweise nicht eine «prämorbide» Arbeitsbiografie mit, sondern eine Arbeitsbiografie mit oder trotz der psychischen Einschränkung. Der Hausarzt kann deshalb aus der Befragung, an welcher Arbeitsstelle der Patient eher gut oder eher schlecht funktioniert hat, wesentliche Rückschlüsse ziehen, unter welchen ­Arbeitsbedingungen der Patient auch künftig eher besser funktionieren wird – und welche Probleme typischerweise zu einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses geführt haben. Da rund zwei von drei psychisch kranken Patienten ein typisches Problemmuster in ­ihrer Arbeitsbiografie aufweisen, ergeben sich damit in kurzer Zeit relevante Hinweise.

Wo nötig: Fremdanamnese

Auch bei der Erhebung der Arbeitsbiografie muss man sich bewusst sein, dass nicht alle Patienten die Probleme adäquat identifizieren können. Vor allem wenn es laut Patient an mehreren Stellen wegen anderen zu Problemen kam, wenn ihm mindestens einmal gekündigt wurde, wenn er viele Stellen mit kurzer Dauer hatte oder sich insgesamt ein beruflicher Abstieg abzeichnet, ist es angezeigt, den (früheren) Arbeitgeber zu kontaktieren und ihn um seine Sicht zu bitten. Dies geht natürlich nur mit Einverständnis des Patienten («Ich verstehe die Problematik noch nicht ganz – darf ich einmal mit Ihrem früheren Arbeitgeber sprechen, um seine Sichtweise auch zu kennen? Das würde mir helfen, Sie besser zu beraten»). Erfahrungsgemäss fühlen sich die meisten Patienten durch ein solches Angebot letztlich entlastet.

Indikation, Ziel, Aufwand und Nutzen der ­Analyse

Eine eingehende Analyse der Arbeitsbiografie ist indiziert bei Patienten, die dem Hausarzt seit längerem bekannt sind, psychisch auffällig sind (auch wenn sie aus einem anderen Grund in die hausärztliche Behandlung kommen) und relevante und/oder wiederholte Probleme am Arbeitsplatz haben.
Das Ziel der Analyse ist nicht eine erschöpfende Auflistung sämtlicher Funktionsdefizite an allen Arbeits­stellen oder ähnlich, sondern das Herausarbeiten des Hauptproblems bei der Arbeit – wenn möglich die Identifikation eines typischen Problemmusters. Zum Beispiel ein etwas ängstlicher und wenig flexibler Patient, der in seiner Arbeitsbiografie wiederholt bei äusseren (betrieblichen) Veränderungen «depressive» Krisen hatte und krankgeschrieben werden musste, und wo es jeweils sehr aufwändig war, den Patienten aus der ­Arbeitsunfähigkeit wieder an den Arbeitsplatz zurück zu bringen. Das Ziel der Analyse ist nicht Ausführlichkeit, sondern Prägnanz, also die einfache Darstellung der Hauptproblematik. Ein weiteres Ziel liegt in der Identifikation von möglichen «Arbeitsanpassungen»: Diejenigen Arbeitsstellen, an denen der Patient bisher eher gut funktioniert hat, geben Hinweise auf künftig nötige Anpassungen der Arbeitsumgebung (Ergonomie). Dies kann sehr unterschiedlich sein, zum Beispiel mehr Einzelarbeit oder ein sehr klarer aber wertschätzender Vorgesetzter mit transparenten «Spielregeln» (bei typischen zwischenmenschlichen Problemen), eine sehr strukturierte, serielle Arbeitsaufgabe mit regelmässigem Feedback (z.B. bei Schizophrenie) oder häufigere kurze Pausen und Kontrollieren der Arbeitstätigkeiten bei Depressiven (wegen der Erschöpfbarkeit und der konzentrationsbedingten Fehleranfälligkeit) etc.
Der Aufwand einer solchen Erhebung liegt – mit etwas Übung – bei schätzungsweise zwei Konsultationen à 30 Minuten. Oft erhält der Hausarzt auch schon nach 30 Minuten vertieften Nachfragens einen präziseren Eindruck der Hauptprobleme und Interventionsmöglichkeiten, erst recht, wenn er den Patienten schon seit längerem kennt.
Eine solche Analyse hat ein erhebliches Potenzial: Zum einen kann der Hausarzt damit den Patienten fundierter hinsichtlich der Arbeitsprobleme beraten, sicherer mit ihm die Optionen einer Offenlegung des psychischen Problems diskutieren oder gegebenenfalls überzeugter ein gemeinsames Gespräch mit dem Arbeitgeber vorschlagen etc. Zum zweiten kann der Hausarzt mit diesem Wissen relevante IV-Arztberichte verfassen (fundierte IV-Arztberichte sind eine grosse Hilfe für die Eingliederungsplanung) respektive Case Manager von Krankentaggeldversicherern informieren, und schliesslich kann er besser entscheiden, ob und in welcher Form er den Patienten im aktuellen Fall krankschreiben will. All dies dient der Wirksamkeit von Massnahmen zum Arbeitsplatzerhalt, zur Rückkehr an den Arbeitsplatz nach Krankschreibung und zur Wiedereingliederung nach Stellenverlust. Der Arzt muss sich bewusst sein, dass nicht-ärztliche Fachkräfte dieses für die Integration entscheidende Hintergrundwissen meist nicht mitbringen.

Umgang mit Arbeitsunfähigkeits­zeugnissen

Krankschreibungen haben rehabilitativ eine sehr grosse Wirkung – sie können für Arbeitsplatzerhalt und Wiederaufnahme der Arbeit sowohl sehr nützlich als auch sehr schädlich sein. Dies hängt damit zusammen, dass sie nicht nur eine Wirkung haben auf den Patienten, sondern auch auf das Arbeitsumfeld. Krankschreibungen, die das Arbeitsumfeld nicht nachvollziehen kann (plötzliche, sehr lange, wiederholte oder von diversen Ärzten stammende Zeugnisse), können viel ­Ärger auslösen («unfair») und die Hilfsbereitschaft von Führungskraft und Arbeitskollegen reduzieren. Dies gilt insbesondere für unmittelbare Krankschreibungen nach einer Kränkung des Patienten durch einen Verweis, eine Kündigung oder aus einem Konflikt heraus. Man nimmt dem Patienten damit auch die Chance, beispielsweise nach erfolgter kränkender Kündigung einen «guten Abgang» zu machen und erhobenen Hauptes den Betrieb zu verlassen – was ihm nicht zuletzt auch für die künftige Stellensuche helfen würde.
Erfahrungsgemäss sollte der Arzt in Situationen, wo ein aktueller Arbeitskonflikt oder eine Kränkung des Patienten im Vordergrund steht, möglichst nicht krankschreiben, sondern das Gespräch mit dem ­Arbeitgeber suchen. Dasselbe gilt bei Patienten, die ein ängstlich-vermeidendes Problemlösungsmuster aufweisen und immer wieder den Wunsch nach ­Krankschreibung äussern. Schliesslich sollte auch im Rahmen laufender IV-Massnahmen nicht einfach krankgeschrieben werden ohne mit der IV Kontakt aufzunehmen. Eingliederungsmassnahmen lösen meist Stress und Ängste aus, diese sollten zunächst ­besprochen werden.
Bei erheblicher gesundheitlicher Problematik (z.B. ­einer schweren Depression) muss oft für eine längere Dauer krankgeschrieben werden. Umso wichtiger ist in diesem Fall ein früher Kontakt zum Arbeitgeber und zum Case Manager und eine gemeinsame Planung des schrittweisen Wiedereinstiegs, wobei ein guter Mix zwischen Rücksichtnahme und Zuversicht geboten ist. Oft kann es hilfreich sein, einen therapeutischen ­Arbeitsversuch zu machen (weiterhin volle Krankschreibung, aber mit teilweiser Präsenz am Arbeitsplatz), damit der Patient den Kontakt zum Arbeits­umfeld nicht verliert. Viele Arbeitgeber und Krankentaggeldversicherer sind hierzu grundsätzlich bereit, allerdings sind nicht alle (kleinen) Betriebe in der Lage, ein angepasstes Programm anzubieten.

Fazit

Viele Personen mit relevanten und längerdauernden, psychisch bedingten Arbeitsproblemen werden vor allem vom Hausarzt betreut. Viele Hausärzte engagieren sich für Arbeitsplatzerhalt oder Wiedereingliederung solcher Patienten, aber oft zu wenig systematisch, und zu selten mit aktivem Kontakt zum Arbeitgeber und zum Eingliederungsberater (der Krankentaggeldversicherung, der IV etc.). Hausärzte unterschätzen oft, wie wichtig ihr Wissen über die krankheitsbedingten Funktionsdefizite für die Integrationsbemühungen sind. Ohne ärztliches Wissen bleibt der Erfolg der Massnahmen dem Zufall überlassen. Zudem könnten Hausärzte mit überschaubarem Aufwand noch mehr relevantes Wissen erheben, wenn sie die Arbeitsbiografie mit dem Patienten durchgehen und allenfalls einem früheren Arbeitgeber telefonieren. Dies vor allem zu Funktionsdefiziten und entsprechenden Anpassungsmöglichkeiten, zu subjektiven Hindernissen des Patienten selbst (Ängste etc.) sowie zu betrieblichen Einflussfaktoren auf die Funktionsfähigkeit. Oft ist es hilfreich, wenn sich Hausärzte aktiv in Problemsituationen einschalten und das Gespräch mit den anderen Akteuren suchen. Dies gilt vor allem auch bei (voraussichtlich) längeren Krankschreibungen. Grundsätzlich sollten Hausärzte Krankschreibungen als wichtiges ärztliches Instrument verstehen und bewusst damit umgehen. Dies gilt vor allem bei Krankschreibungswunsch bei einem ­Arbeitskonflikt, systematischen Krankschreibungswünschen, ängstlich-vermeidenden Patienten oder Kränkungserfahrungen im Betrieb.
Niklas Baer, MD
Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation
Psychiatrie Baselland
Bienentalstrasse 7
CH-4410 Liestal
niklas.baer[at]pbl.ch
1 OECD. Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work, Mental Health and Work, OECD Publishing, Paris. 2012.
2 Rüesch P, Bänziger A, Juvalta S. Regionale psychiatrische Inanspruchnahme und Versorgungsbedarf in der Schweiz. Obsan Dossier 23, Neuchâtel. 2013.
3 OECD. Mental Health and Work: Switzerland, OECD Publishing, Paris. 2014.
4 Kessler R, Berglund P, Demler O. Lifetime Prevalence and Age-of-Onset Distributions of DSM-IV Disorders in the National Comorbidity Survey Replication. Archives of General Psychiatry, 2005;62:593–602.
5 Baer N, Frick U, Fasel T, et al. Dossieranalyse der Invalidisierungen aus psychischen Gründen. Typologisierung der Personen, ihrer Erkrankungen, Belastungen und Berentungsverläufe. Bundesamt für Sozialversicherungen; Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht Nr. 6/09; Bern. 2009.