Land ohne Ärzte
Ein Streik lähmt das öffentliche Gesundheitssystem Kenias

Land ohne Ärzte

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Ausgabe
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01516
Prim Hosp Care (de). 2017;17(05):102-104

Affiliations
Zwei Schweizer Ärzte auf einer unabhängigen journalistischen Reise durch Kenia

Publiziert am 08.03.2017

Geschlossene Spitäler, demonstrierende Ärzte, alleingelassene Patienten. Der nationale Ärztestreik hat Kenia bereits seit 35 Tagen fest im Griff, als unsere Maschine Anfang Januar in Nairobi landet.
Beim erstmaligen Eintauchen in die pulsierende Grossstadt sind wir uns der Hintergründe des Streiks noch nicht im Klaren. Von den bunten Matatu-Kleinbussen, die sich hupend ihren Weg durch die Strassen bahnen, über Unmengen an Strassenverkäufern und Shoppingmalls, stossen wir auf ein geschäftiges Chaos, wo scheinbar jeder etwas feilzubieten hat. In Downtown Nairobi will man uns gefühlt alle zwei Meter SIM-Karten oder Handy-Zubehör verkaufen und wir sind beinahe froh, doch noch unsere eurozentrisch-naive Vorstellung vom urbanen Mangoverkäufer anzutreffen. Dass uns die Wucht des kapitalistischen 21. Jahrhunderts mehr überrascht als die kulturellen Unterschiede, spricht Bände über unsere Ahnungslosigkeit bezüglich dieses Landes.
Was bedeutet es, wenn in einem Land mit rund 46 Millionen Einwohnern, die oft nur sehr beschränkt Zugang zur öffentlicher Gesundheitsversorgung haben, ein Grossteil der etwa 7000 Ärzte der Arbeit fernbleibt?
Ärzte bei einer Protestkundgebung in Nairobi. Foto: Ben Kyama Ngau.

#MyBadDoctorsExperience

Kaum jemand der Leute auf der Strasse, der Ärzte oder Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die wir treffen, kann uns Positives über das öffentliche Gesundheitswesen berichten. Die Arbeit der Ärzte scheint allgemein wenig Vertrauen zu geniessen. Die Spitäler sind hoffnungslos unterbesetzt, schlecht ausgerüstet und es fehlen einfachste diagnostische Hilfsmittel. Stephen Wanjala, stellvertretender medizinischer Koordinator bei Médicines Sans Frontières (MSF) Kenia, erinnert sich ungern an seine frühere Tätigkeit in öffentlichen Spitälern. Neben einer völlig überfüllten Bettenstation behandelte er im Schnitt 60–80 ambulante Patienten pro Tag. Er erzählt uns von einem Kaiserschnitt, den er unter dem Licht mehrerer Laryngoskope durchführen musste. Das Resultat eines Stromausfalls und eines defekten Notstromaggregats. «Es war ziemlich frustrierend unter solchen Bedingungen zu arbeiten», meint er dazu.
Eine Geschichte, die unter dem Twitter-Hashtag #MyBadDoctorsExperience ihresgleichen findet. Ärzte berichten hier von Patienten, die blutüberströmt in der Notaufnahme ankamen, dort aber aufgrund fehlender Handschuhe nicht behandelt wurden. Oder von Kleinkindern, die an Lungenentzündungen verstarben, weil es im ganzen Spital keinen Sauerstoff gab. Bei solchen Arbeitsbedingungen wird sorgfältige Medizin schwierig und die Flucht vieler Ärzte in den Privatsektor oder ins Ausland erstaunt wenig.
Auch die Korruption hat das öffentliche Gesundheitswesen fest im Griff. Wir hören von Patienten, die erst nach einem kitu kidogo, einer kleinen Aufmerksamkeit an den Notarzt, behandelt, von Bettlaken, die erst nach einem Aufschlag in die Tasche der Krankenschwester gewechselt wurden oder von Ärzten, die ihren Pflichten im Spital nicht nachkommen, da sie in ihrer Privatklinik einem lukrativen Nebenjob nachgehen.

«Stinking of sewage»

Kurz nach unserer Ankunft Anfang Januar 2017 wird die Führungsriege der Ärztegewerkschaft Kenyan ­Medical Practitioners and Dentist Union (KMPDU) vor Gericht geladen und der Streik für illegal erklärt. Es drohen einmonatige Gefängnisstrafen für die Gewerkschaftsführer, sollte der Streik nicht innerhalb zweier Wochen beendet sein. Während der Verhandlung wird die Ärzteschaft von der Richterin als «stinking of sewage» (stinkend nach Jauche) beschimpft. Klar, dass solche verbalen Entgleisungen schwerlich zu einer Beruhigung der Situation führen. Ausserdem droht die Regierung zu allem Übel hinzu mit der Entlassung der streikenden Ärzte.
Und die Reaktion der Gewerkschaftsführer? Sie würden ihren Mitgefangenen beste medizinische Versorgung bieten, wird einer der Unionsführer in der Zeitung zitiert.
Während sich die Konfliktspirale immer weiter dreht, versuchen wir die Hintergründe des Streiks besser zu verstehen. Im Zentrum des Streits steht ein «Collective Bargaining Agreement» kurz CBA (eine Art Gesamtarbeitsvertrag), das im Sommer 2013 nach früheren Streiks mit der Regierung ausgehandelt wurde. Die Ärzte versuchten im Rahmen dieser Verhandlungen ein weites Feld der Probleme im Gesundheitswesen ­anzugehen. Um nur die wichtigsten Forderungen zu nennen: Ausbildung von zusätzlichen Ärzten, mehr Ressourcen für öffentliche Spitäler, bessere Arbeitsbedingungen und ausgedehnte Lohnerhöhungen.
Der Vertrag wurde von allen involvierten Parteien unterschrieben, die Ratifizierung wurde aber von der ­Regierung nie vorgenommen. Nachdem über mehr als drei Jahre sämtliche Gesprächsversuche scheiterten, erschöpfte sich das Vertrauen der KMPDU in die Bereitschaft der Regierung, das Abkommen umzusetzen und sie rief am 5. Dezember 2016 zum Streik auf.
Leere Betten im Jaramigo Oginga Odinga Teaching 
and ­Referral Hospital in Kisumu.

#GreedyDoctors

Gründe für das Scheitern der Verhandlungen sowie gegensätzliche Narrative finden sich viele. Den Überblick zu behalten ist in der Flut von Meldungen fast unmöglich. Es kursieren Zahlen einer geforderten Gehaltserhöhung von 300%, was Gehältern von ungefähr 3100$ bis 9000$ pro Monat entspräche. Ein hoher Betrag in einem Land, wo 2005 rund 34% der Bevölkerung mit ­einem Lohn unterhalb der Armutsgrenze von 1,90$/Tag auskamen.
«Sie sind gierig!», meint der Fahrer eines Motorrad­taxis in Nairobi. Die aktuelle Wirtschaftslage lasse die geforderten Lohnerhöhungen schlicht nicht zu. #GreedyDoctors ist der Twitter-Hashtag dazu. Zwar würden viele Massnahmen im CBA die allgemeine Qualität des öffentlichen Gesundheitswesens betreffen. Nichtsdestotrotz würden die Ärzte mit fürstlichen Gehaltser­höhungen und den propagierten 40-Stunden Wochen ein äusserst gutes Geschäft machen. Ein Geschäft, das in einem schlechten Licht steht.

Tote als Druckmittel

Die Zeitungen berichten über Patienten, die vor verschlossenen Spitaltüren standen, mehrfach weitergewiesen wurden oder mangels ärztlicher Versorgung verstarben. Die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion ist schwammig. Während in ländlichen Regionen bereits vor dem Streik ein Grossteil der Gesundheits­versorgung durch nicht-ärztliches Personal erbracht wurde und sie deshalb vom Streik nicht so sehr betroffen sind, ist die Lage in den Grossstädten Nairobi und Mombasa prekär. Die Leben der Ärmsten sind es, die hier in die Waagschale geworfen werden. Eine Tatsache, welche die Massnahmen der Ärzte schwer ver­daulich macht. Sterbende Patienten als Druckmittel für das Erreichen arbeitsrechtlicher Forderungen. Wir fragen uns des Öfteren, wie dieser Streik ethisch überhaupt vertretbar sein kann.

«It’s our turn to eat»

Um die Beweggründe der streikenden Ärzte zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart unumgänglich. Korruption, Vetternwirtschaft und Tribalismus sind allgegenwärtig. Die Methoden, wie sich Politiker an öffentlichen Geldern ­bedienen, kennen kaum Grenzen – weder solche der Scham noch der Kreativität. Allein im Gesundheits­ministerium seien im letzten Jahr umgerechnet rund 50 Millionen Franken abhandengekommen. All dies, obwohl die Parlamentarier (MP) bereits zu den am besten bezahlten der Welt gehören.
Zeitungsmeldungen im Verlauf des Streiks über zusätzliche Gehaltserhöhungen für Parlamentarier lassen das Argument der Budgetknappheit zynisch erscheinen.
«When they’re elected, they just start eating», meint ein Guide am Lake Viktoria über die Politiker. Essen – ein Synonym für Diebstahl und Selbstbereicherung.
Was, wenn die Regierung das eigentliche Problem darstellt? Was macht man als Arzt mit dem Wissen, dass ein beträchtlicher Teil des Geldes, das für grundlegendste Ausrüstung gebraucht würde, in den Taschen der korrupten Elite verschwindet? Macht man sich der Komplizenschaft schuldig, wenn man dies ohne weiteres akzeptiert?
«… wir sind nicht fair zu unseren Patienten. Wir erfüllen den (hippokratischen) Eid nicht, da wir mehr schaden als nutzen», meint Dr. Musundi Oganyo, Vorsitzender der KMPDU-Sektion in Homa Bay, zur Arbeit im jetzigen System.
Die Anführer des Streiks sehen sich als Teil eines Kampfes um eine anständige Gesundheitsversorgung für alle Kenianer. – Es ist nicht die Frage nach der Rechtmässigkeit des Ziels, sondern die Wahl der Mittel, die diesen Streik so heikel macht.

Kein Ende in Sicht

Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes dauert der Streik bereits 71 Tage. Die Gefängnisstrafe der KMPDU-Führung wurde soeben vollzogen und der weitere Verlauf der Geschehnisse ist unklarer den je. Nur eines ist für den amerikanischen Arzt Rich Davis im Missionsspital in Kijabe sicher: «Ein Zurück zur ­alten Normalität wird es nicht geben».
Das öffentliche Gesundheitssystem befindet sich in der Krise, doch im Alltag merkt man hiervon wenig. Auf den farbenfrohen, überlaufenen Märkten findet sich alles, was das Herz begehrt, und die Matatus suchen weiterhin mit haarsträubender Geschwindigkeit ihren Weg durch die verstopften Strassen. Das Leben scheint seinen gewohnten Gang zu gehen, mit oder ohne Ärzte. Eine Realität, die möglicherweise einiges über den Zustand des Gesundheitssystems vor dem Streik aussagt.
Lukas Baumann
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Manuel Cina
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