eHealth in der Praxis - heute und morgen
Das System «denkt» im Hintergrund mit

eHealth in der Praxis - heute und morgen

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2017/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01517
Prim Hosp Care (de). 2017;17(06):111-113

Affiliations
Vorstandsmitglied mfe, Co-Präsident Institut für Praxisinformatik IPI

Publiziert am 22.03.2017

eHealth kann sein ganzes Potenzial nur entfalten, wenn alle Beteiligten teilnehmen. Dies gelingt, wenn für alle dabei ein Nutzen ersichtlich ist und dieser in ­einem Verhältnis zum Aufwand und den Kosten steht.
Freitagabend kurz vor 17 Uhr. Ein arbeitsintensiver Tag neigt sich dem Ende entgegen, aber das Wartezimmer ist noch voll. Die Grippewelle hat das Land wie jedes Jahr um diese Zeit fest im Griff. Die Agenda wird bereits zweispaltig geführt, damit alle Platz finden (als ob dadurch die Konsultationen schneller gehen würden …). Da meldet die MPA noch Herrn E.S., ein medizinisch komplexer, polymorbider Patient, als dringliche Konsultation. Eben aus dem Spital entlassen. Er müsse ­unbedingt heute noch vorbei kommen, habe man ihm gesagt, auch seien einige Punkte in der Medikation für die betreuende Ehefrau unklar.
Kennen Sie das Szenario? Erst mal die Hausbesuche auf später am Abend verschieben – eine halbe Stunde wird diese Konsultation schon dauern, bis die Medikamentenliste abgeglichen, alles erklärt und koordiniert ist. Bleibt nur zu hoffen, dass der Patient wenigstens den Kurzaustrittsbericht mitbringt.

Mein Traum

Ich träume davon, gerade auch solche Konsultationen schon bald souverän und mit bedeutend weniger administrativem Aufwand meistern und mich wieder mehr auf die klinische Arbeit konzentrieren zu können: Noch bevor der Patient das Sprechzimmer betritt, erscheint auf meinem Bildschirm der kurze Bericht. Bei Bedarf kann ich schon am Austrittstag die Laborresultate und Konsiliarberichte, Röntgenbilder sowie die Austrittsmedikation der Hospitalisation abrufen. Idealerweise werden die Informationen nicht nur als simple PDF-Dokumente, sondern als strukturierte Daten übertragen. Nach einer ersten Besprechung und Untersuchung des Patienten übernehme ich mit einigen ­wenigen Mausklicks diejenigen Medikamente aus der Austrittsmedikation in die eigene Medikamentenliste, die ich weiterführen oder ändern möchte. Im Hintergrund «denkt» das System mit. Eine Interaktions­kontrolle wird durchgeführt und macht mich auch aufgrund der bekannten Diagnosen und des Trends der aktuellen Laborresultate auf heikle Konstellationen aufmerksam. Ich habe die Möglichkeit, bei Bedarf weiterführende Informationen oder aktuelle Guide­lines bequem direkt aus der Praxissoftware zum Thema aufzurufen. Nach Abschluss der Konsultation ist die Spitex bereits über die von mir gemachten Anpassungen der Medikation und die neuen Verordnungen informiert.

Ist dies Utopie?

Ist dies nur Utopie und Zukunftsmusik? Oder schon bald im Zuge von eHealth Wirklichkeit? Sicher ist, dass die kommenden Jahre einiges an Veränderungen mit sich bringen werden. Sicher ist aber auch, dass wir von einer solchen «smarten» Arbeitsweise heute noch meilenweit entfernt sind. Andere Länder wie zum Beispiel Finnland haben dies weitgehend schon umgesetzt und sind uns um Jahre voraus!
Aktuell besteht ein grosser, vor allem politisch motivierter Druck hin zum elektronischen Patientendossier (EPD). Einige Leute haben sich das Thema gross auf die Fahne geschrieben mit ehrgeizigem Zeitfahrplan: Noch in diesem Frühling sollen die Ausführungsbestimmungen des elektronischen Patientendossiergesetzes (EPDG) mit all ihren vor allem technischen und organisatorischen Regulativen in Kraft treten, das EPD selbst soll schon ab dem ersten Quartal 2018 operativ im Einsatz sein.

Die einseitigen Prioritäten des Bundes

Wo der Bund hier seine Prioritäten sieht, ist klar: Finanzhilfen werden lediglich an den Aufbau von (Stamm-)Gemeinschaften gewährt; denjenigen Institutionen also, welche die Plattform selbst und den ­Zugang dazu für medizinische Fachpersonen und die Bevölkerung zur Verfügung stellen. Dies, obschon sie ihre Dienste zweifelsohne kostendeckend werden anbieten können. Primärsoftware in den Praxen und den Spitälern sowie Schnittstellen ins EPD sind von den ­Finanzhilfen des Bundes explizit ausgenommen. Wie soll das Ganze also in Gang kommen? Für Spitäler besteht die Pflicht, sich innerhalb von drei Jahren, für Pflegeheime innert fünf Jahren dem EPD anzuschliessen. Sowohl für Patienten als auch für die freipraktizierende Ärzteschaft ist ein Einstieg demgegenüber freiwillig. Leider bestehen nach wie vor grosse Defizite in der Primärdokumentation. Solange dies nicht parallel, ja prioritär angepackt wird, wird das EPD kaum praxistauglich funktionieren.

Was bringt es uns Ärzten?

Welche Motivation besteht also für den Arzt in der Praxis, hier mitzumachen? Es ist wohl unbestritten, dass eine Anbindung an das EPD sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Spitäler mit hohen Investitionen verbunden ist: Kostenpflichtige Anpassungen der Primärsoftware, neu zu entwickelnde Schnittstellen, Investitionen in Zertifizierung, Authentifizierungstools und IT-Sicherheit sowie Aktualisierung der Hardware. ­Darauf zu vertrauen, dass diese Investitionen mit dem ­Tarif in Form der TL (technischen Leistung) oder mit den DRG (diagnosis-related groups) vollumfänglich und kostendeckend abgegolten werden, dürfte vor dem Hintergrund des jahrelang anhaltenden Spar­drucks und der derzeitigen Tarifstreitigkeiten mehr als unwahrscheinlich sein.
Bleibt noch ein allfälliger praxisinterner Mehrwert, der den Zusatzaufwand allenfalls rechtfertigen würde. Allerdings: In der Hausarztpraxis werden über 90% aller Fälle abschliessend (also ohne Weiterweisung oder Hospitalisation) behandelt [1]. Das heisst, wir basieren schwerpunktmässig auf unseren Primärsystemen, ­unseren (elektronischen) Krankengeschichten (KG); in weniger als 10% der Fälle würden resp. müssten wir überhaupt in Verbindung mit dem EPD treten. Also auch die effiziente Abwicklung des eingangs geschilderten Szenarios dürfte in den wenigsten Fällen den Aufwand für den Einstieg ins EPD rechtfertigen.

Ohne Incentives geht es nicht

Einige clevere Länder (unter ihnen Australien und die USA) haben das Problem erkannt und konnten in der Vergangenheit mit teils namhaften Incentives (engl. Anreize) die Verbreitung der elektronischen KG in den Praxen und des EPD fördern. In der Schweiz ist ein solches Vorgehen aber weiterhin politisch kein Thema, und so darf man gespannt sein, ob und wie das EPD in der Schweiz «abhebt».

eHealth hätte grosses Potenzial

Aber eHealth ist weit mehr als nur das EPD! Es geht ­dabei um die Gesamtheit elektronischer Dokumentations-, Kommunikations-und Unterstützungstools im Gesundheitswesen, also unserem Arbeitsumfeld der Zukunft. Leider ist festzustellen, dass hier derzeit eine enorme Kluft besteht zwischen der aktuell rasanten Entwicklung im digitalen Consumerbereich und den technischen Möglichkeiten einerseits, unseren ärzt­lichen Bedürfnissen und Anforderungen andererseits und der Funktionalität der heutigen Praxissoftware­lösungen. Während alle Welt sich an «smarte» ­Kommunikation und Bedienkonzepte, übersichtliche, ­grafische Benutzeroberflächen und mitdenkende Nutzerunterstützung mit Informationen und Wissen zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewöhnt hat, arbeiten wir mit den derzeit auf dem Markt befindlichen ­Praxissoftwarelösungen fast ausnahmslos wie noch vor 15 Jahren. Die elektronischen Krankengeschichten sind mehrheitlich an Bildschirm und Tastatur adaptierte Papier-Krankengeschichten. Medienbruchfreie elektronische ­Dokumentation und Kommunikation ist weiterhin die Ausnahme; das Potenzial der heutigen technischen Möglichkeiten wird in diesem Bereich noch unzu­reichend genutzt. Die Entwicklungen orientieren sich ­zudem eindeutig zu wenig an unseren ­Anforderungen und Bedürfnissen. Natürlich sind diese in der Ärzteschaft – wie auch bei Nutzern anderer Software­produkte – divergierend; aber ein gutes Produkt mit ­einer Vielfalt an nützlichen Hilfen im Bereich Dokumentation, Prozessunterstützung, Medikation und ­Interaktionskontrolle, CDS (Clinical Decision Support) etc. würde am Markt mit offenen Armen aufgenommen und sich wohl auch durchsetzen. Solange aber die Pa­tientendatensätze nicht von einem Anbieter zu ­einem anderen voll migrierbar sind, bleibt das Markt­umfeld aufgrund der erzwungenen Abhängigkeiten innovationshemmend.

Echter Mehrwert für die Praxis 
ist ­unerlässlich und möglich

Erste Ansätze sind durchaus erkennbar. So arbeiten die Finnen bereits mit einem Tool, das nicht nur die potenziellen Interaktionen zwischen Medikamenten erkennt, sondern auf Wunsch auch gleich, basierend auf den bestehenden Diagnosen, Vorschläge und guide­linebasierte Empfehlungen aufzeigt [2]. Gute Interaktionstools und weitere Hilfsmittel gibt es auch in der Schweiz, aber nirgends sind sie nahtlos und einfach nutzbar in unsere Systeme integriert. Immer mehr ­Daten werden gesammelt, aber sie werden kaum auf intelligente Weise miteinander verknüpft. So wäre es doch zum Beispiel spannend, Laborwerte in Abhängigkeit der Medikation im Zeitverlauf abzubilden, oder Blutzucker und HbA1c in Verhältnis zu Medikation oder Körpergewicht usw.

Was ist zu tun?

Meiner Meinung nach sind es derzeit fünf Hauptfaktoren, die einen hemmenden Einfluss auf die Entwicklung von eHealth in den Praxen ausüben:
1. Softwareentwicklung auf diesem gewünschten, hohen Niveau ist aufwändig, zumal der Absatzmarkt klein und durch die Sprachregionen weiter fragmentiert ist.
Massnahme: Volle Migrierbarkeit der Patientendatensätze bis Ende 2017 in allen relevanten, nationalen Primärsystemen, operativ funktionsfähig implementiert. Dazu Erarbeitung und Anwendung eines (minimal) Data Sets, idealerweise kompatibel zum EPD, zum Beispiel zusammen mit dem Institut für Praxis­informatik (IPI) (FullSMEEX). Dadurch mehr Wettbewerb und Chancen für innovative neue Produkte und Features.
2. Die Medizinalsoftwarebranche befürchtet wohl, dass «intelligente» Systeme, welche die medizinische Entscheidungsfindung unterstützten und beeinflussen, unter das Medizinalproduktegesetz fallen oder sich juristische Fragen stellen könnten. Damit würden Auflagen, Aufwand und Haftpflicht­risiken grösser.
Massnahme: Rasch Schaffung von verlässlichen, liberalen, gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Verantwortung ist und bleibt beim behandelnden Arzt.
3. Der Markt hätte mit heute 65% noch nicht digital dokumentierenden Arztpraxen (SISA II-Studie, 2015) sicherlich Potenzial. Allerdings wird dies durch den in den nächsten Jahren erst richtig manifest werdenden (Haus-)Ärztemangel mit fehlender Nachfolge und die Tendenz zu Gruppenpraxen relativiert.
Massnahme: Nachwuchsförderung wie derzeit bereits an vielen Orten breit diskutiert. Incentives an der richtigen Stelle, betriebswirtschaftlich korrekte Tarifierung und Abgeltung.
4. Keine einheitliche nationale und digital verfügbare und nutzbare Guideline-Datenbank.
Massnahme: Erarbeitung und Adaptierung schweizerischer Guidelines und Aufbereitung für die ­elektronische Nutzung, allen voran durch die neu gegründete SGAIM und andere Fachgesellschaften.
5. Trägheit der Ärzte! Natürlich sollen sich die digitalen Systeme an unseren klinischen Arbeitsprozessen und -gewohnheiten orientieren und nicht umgekehrt. Dennoch muss auch von ärztlicher Seite eine Bereitschaft bestehen, Daten sorgfältig und strukturiert zu erfassen, damit ein entsprechender Mehrwert generiert werden kann. Dies gilt vor allem für die Codierung der Diagnosen, wozu ein einfaches System ausreichend wäre (z.B. ICPC-2). Auch die Forschung im ambulanten (hausärztlichen) Setting könnte davon gewiss sehr profitieren.
Massnahme: Vermehrte Offenheit der Ärzteschaft zur Nutzung elektronischer Systeme und insbesondere Anwendung einer einfachen Diagnosecodierung.
Die Interessen und Bedürfnisse der Ärzteschaft – immerhin Hauptnutzer und -betroffene von eHealth – werden kaum wahrgenommen und drohen im der­zeitigen politischen Gerangel um das EPD sowie der Gründung von (Stamm-)Gemeinschaften unterzugehen.
Das Institut für Praxisinformatik (www.praxis­informatik.ch) unter der Trägerschaft von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz setzt sich seit Jahren für genau diese Anliegen, die Bedürfnisse der freipraktizierenden Ärzteschaft und den Nutzen und Mehrwert der Primärsysteme im Praxisalltag ein. Neben den Softwareforen und dem Angebot von Going paperless-Kursen hat das IPI zusammen mit dem Verband Schweizerischer Fachhäuser für Medizinalinformatik (VSFM) den SMEEX-Standard verabschiedet. Mit der Fachhochschule St. Gallen hat das IPI einen Basis-Anforderungskatalog für eine elektronische Krankengeschichte erarbeitet, mit dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich (IHAMZ) Monitoren für fünf wichtige chronische Erkrankungen definiert.

Fazit

eHealth kann sich nur entwicklen und sein volles Potenzial entfalten, wenn möglichst alle Beteiligten der Behandlungskette teilnehmen. Dies wiederum gelingt, wenn für alle dabei ein Nutzen ersichtlich ist und dieser in einem betriebswirtschaftlichen Verhältnis zum Aufwand und den Kosten steht. Ist dies in zu geringem Masse gegeben, müssen gezielte Fördermassnahmen am richtigen Ort den politischen Willen unterstützen. Um Investitionssicherheit zu schaffen, werden rasch verbindliche Standards benötigt, die den Austauch von strukturiert erfassten ­Daten ermöglicht.
Dabei muss zwingend medizinisches Wissen und Know-how über Prozesse und Abläufe von den Direktbetroffenen an der Front in die Diskussion und Entwicklung einfliessen. Dazu kann das wieder neu aufgestellte Institut für Praxisinformatik (IPI) mit seinem grossen und langjährigen Erfahrungsschatz einen guten Beitrag leisten.
Sandra Hügli-Jost
Kommunikationsverantwortliche Hausärzte Schweiz, Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
Sandra.huegli[at]
hausaerzteschweiz.ch
1 Nicolas Senn, Sonja Tiaré Ebert, Christine Cohidon. La médecine de famille en Suisse – Analyse et perspectives sur la base des indicateurs du programme SPAM (Swiss Primary Care Active Monitoring). Obsan Dossier 55, 5.7.2016.
2 Hierzu wird in PHC 7 2017 ein Artikel von Heiz Bhend erscheinen.