Erweiterte Praxisassistenz gegen Hausärztemangel
Ein Pilotprojekt im Kanton Bern

Erweiterte Praxisassistenz gegen Hausärztemangel

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01522
Prim Hosp Care (de). 2017;17(12):228-229

Affiliations
Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM), Universität Bern

Publiziert am 27.06.2017

Das Berner Institut für Hausarztmedizin entwickelte das Pilotprojekt ­«erweiterte Praxisassistenz» als zusätzliche Massnahme gegen den Haus­ärztemangel. Im Laufe der einjährigen Weiterbildung arbeiten angehende Hausärztinnen und -ärzte drei Tage pro Woche bei einem Hausarzt und zwei Tage pro Woche bei einem nieder­gelassenen Spezialarzt. Neben den hausarztmedizinischen Themen werden die ­angehenden Hausärztinnen und -ärzte auch in den Bereichen Betriebswirtschaft, Praxistechnologie, Teamprozesse und Kommunikation geschult. Dadurch wird der Anteil Weiterbildung gegenüber der Dienstleistung erhöht. 2015 konnte die erste Assistenzärztin ihre ePA beginnen. Dieser Bericht schildert die ersten Erfahrungen nach einem Jahr.

Voraussetzungen für eine erweiterte Praxisassistenz

Das Berner Institut für Hausarztmedizin (IHAM) unterstützt Initiativen von Lehrpraktikern, die eine erweiterte Praxisassistenz (ePA) in ihrer Praxis anbieten wollen in der Überzeugung, dass innovative Projekte die Attraktivität der Weiterbildung zur Hausärztin/zum Hausarzt erhöhen. Der Kanton Bern beteiligt sich im Rahmen des kantonalen Praxisassistenzprogramms an den Lohnkosten der Assistenzarztes/-ärztin. Das Programm läuft im Kanton Bern 2017 aus. Eine Verlängerung ist mit dem Kanton in Verhandlung. Für die Weiterbildung und das Erreichen der Lernziele ist der Lehrpraktiker verantwortlich. Während der Pilotphase führte das BIHAM alle drei Monate Evaluationsinterviews mit dem Lehrpraktiker und der Assistenzärztin durch. Kleinere Anpassungen konnten sofort während der Pilotphase vorgenommen werden.

Umsetzung des Projekts «erweiterte Praxisassistenz»

Das Pilotprojekt verlief aus Sicht aller Beteiligter problemlos. Für den Lehrpraktiker war es eine Herausforderung, motivierte Spezialärzte aus Pädiatrie, Dermatologie, HNO, Chirurgie, Orthopädie, Gynäkologie und Radiologie zu finden und alle Termine für die Assistenzärztin zu organisieren. Künftig werden die ­Assistenzärzte die Terminsuche selber übernehmen. Verschiedene Beteiligte äusserten den Wunsch, Assistenzärzte zu rekrutieren, die kurz vor der Praxis­eröffnung stehen, da dort der Lerngewinn am grössten sei. Ebenso sind Gespräche über Betriebswirtschaft, Praxistechnologie, Teamprozesse und Kommunikation in dieser Phase besonders wichtig, da die jungen Kollegen bei Praxiseröffnung mit ­diesen Fragestellungen konfrontiert sind.

Aufwand und Nutzen

Der Aufwand stand in einem angebrachten Verhältnis zum grossen Nutzen für alle Beteiligten. Der Lehrpraktiker schätzte den fachlichen und persönlichen Austausch mit der jungen Kollegin. Die Spezialärzte untersuchten in den meisten Fällen die Patienten mit der Assistenzärztin gemeinsam, wofür sie mehr Zeit benötigten. Einige Spezialärzte waren der Meinung, dass die Patienten nicht nur wenige Minuten ihren Spezialarzt sehen wollen. Der zeitliche Aufwand war je nach Spezialarzt unterschiedlich, aber insgesamt eher gross. Ein Spezialarzt fasste es so zusammen: «Ich finde es super. Wenn ich Hausarzt werden wollte, würde ich sofort eine ePA suchen. Das ist das Beste, was Assistenten passieren kann, weil sie hier ­sehen, was alltäglich ist und die Chance haben, eng ­betreut etwas zu lernen.»

Auswahl der Spezialgebiete

Die Praxisassistentin und die Spezialärzte beurteilten alle Spezialgebiete als relevant für die spätere Tätigkeit als Hausärztin, aber nicht im gleichen Masse, und abhängig vom Standort der zukünftigen Praxis der angehenden Hausärztin. Für eine städtische Praxis ist beispielsweise eine Weiterbildung in Gynäkologie nicht unbedingt erforderlich. Als mögliche zusätzliche Gebiete wurden Rheumatologie, Pneumologie und Kardiologie genannt oder zum Beispiel ein Austausch mit Physiotherapeuten.

Erreichen der Lernziele

Als Vorgabe wurden die Lernziele des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) für die Weiterbildung von zukünftigen Hausärzten in Spezial­gebieten verwendet, die ebenfalls bei Rotationsstellen zum Einsatz kommen. Aus Sicht der Praxis­assistentin wurden in den Spezialgebieten grundsätzlich die für ihre Tätigkeit als Hausärztin relevantesten Lernziele erreicht, ausser in der Gynäkologie. Für die «Extra­fächer» wie Betriebswirtschaft, Praxistechno­logie, Teamprozesse und Kommunikation wurden Lerninhalte vom Lehrpraktiker definiert und gemäss beider Beteiligten erreicht. Erneut wurde unterstrichen, dass diese Ziele besser erreicht werden können, wenn ein Assistenzarzt kurz vor der Praxiseröffnung steht.

Tätigkeit der Assistenzärztin

In der Gynäkologie fand der Unterricht hauptsächlich auf der Stufe «zuschauen» und nur teilweise auf der Stufe «selbständig machen unter Supervision» statt. In der HNO, Dermatologie und Orthopädie wurde auf den Stufen «zuschauen» und «selbständig machen unter Supervision» unterrichtet. In der Chirurgie stand «selbständig machen unter Supervision» im Vordergrund, aber teilweise konnte die Praxisassistentin auch etwas «selbständig machen mit Rücksprache».

Vorbereitung auf die Praxistätigkeit

Die Praxisassistentin gewann durch die ePA viel Sicherheit für ihre zukünftige Tätigkeit in einer Hausarztpraxis. Besonders wurde ihre Fähigkeit abzuschätzen, wann ein Patient an einen Spezialarzt überwiesen werden sollte, gesteigert.

Fazit

Die Erwartungen der Assistentin und des Lehrpraktikers wurden übertroffen. Die Spezialärzte bewerteten das Projekt ebenfalls als positiv. Alle Beteiligten werden auch in Zukunft wieder im Projekt mitarbeiten und sind sich einig, dass die ePA eine attraktive und optimale hausarztspezifische Weiterbildung für an­gehende Hausärzte darstellt. Eine Fortsetzung ist abhängig von den Verhandlungen über das kantonale Praxisassistenzprogramm mit dem Kanton Bern. Daran arbeitet das BIHAM unter Hochdruck. Dazu benötigen wir die Unterstützung der Politik und aller Hausärztinnen und -ärzte, damit wir auch in Zukunft attraktive Weiterbildungsstellen wie diese fortsetzen können.

Infobox

Die Koordinationsstelle «Weiterbildung Hausarztmedizin» am BIHAM hat die Aufgabe, die Attraktivität der Weiterbildung zum Hausarzt mit verschiedenen Massnahmen und Projekten zu steigern, die zukünftigen Hausärzte auf ihrem Weg zu unterstützen und während der ganzen Weiterbildung präsent zu sein, mit dem Ziel, mehr Ärztinnen und Ärzte für die Hausarztmedizin zu gewinnen. Sie ist durch den Kanton Bern finanziert.
Sie hat folgende Angebote:
• Kantonale Praxisassistenz (21 Stellen pro Jahr bis Ende 2017)
• Rotationsstellen (13 Stellen)
• Projekte wie ePA
• Mentoring und Laufbahnberatung
• Newsletter
Das BIHAM betreibt als universitäres Institut Lehre und Forschung in der Hausarztmedizin. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Nachwuchsförderung. Das BIHAM hat neu seit Juni 2016 ­einen Bereich Nachwuchs und Vernetzung mit den Hausärzten entwickelt (Leiter: Dr. med. Sven Streit).
Wir danken dem beteiligten Hausarzt, seinem Praxis­team und den Spezialärzten für ihr Engagement in der ePA. Die anonym zitierte Assistenzärztin gab ihr Einverständnis für diesen Artikel. Weiter danken wir Dr. med. Regina Ahrens für die Erstellung des Evaluationsplans, der Evaluationsfragebögen und die Durchführung der Evaluation der ePA, und Caroline Schlaufer und Dr. Verena Friedrich vom Zentrum für universitäre Weiterbildung der Universität Bern (ZUW) für die Planung, Datenauswertung und das Verfassen des Evaluationsberichtes, der hier zusammengefasst wurde. Ohne unsere Sponsoren wäre das Pilotprojekt ePA nicht zustande gekommen, weshalb wir speziell den Firmen MCL, KPT, Ärztekasse und Optipharm für ihre Unterstützung danken.
Dr. med. Sven Streit
Universität Bern
Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM)
Gesellschaftsstrasse 49
3012 Bern
sven.streit[at]biham.unibe.ch