eHealth - mit Mehrwert in der Arztpraxis
Bereitschaft zur Veränderung ist gefragt

eHealth - mit Mehrwert in der Arztpraxis

Lernen
Ausgabe
2017/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01532
Prim Hosp Care (de). 2017;17(07):138-140

Affiliations
a Aarburg; b Erlangen; c Helsinki

Publiziert am 05.04.2017

Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland sind die Vorteile einer elektronischen Dokumentation in der Arztpraxis marginal. Echter Mehrwert für den Anwender ist aber möglich, wie der Blick nach Finnland zeigt. In der ­Regel wird heute die elektronische Dokumentation in ähn­licher Weise genutzt wie die frühere Papierkartei. Damit wird ihr Potenzial bei Weitem nicht ausgeschöpft. Die Wissens­datenbanken sind vorhanden und warten auf ihre «Anbindung» an unsere Praxissysteme. Zwei Voraussetzungen seitens der Ärzteschaft sind nötig, um echten Support durch die Informatik zu erhalten: Bereitschaft zur Veränderung und die kleine Mühe, Diagnosen/Probleme codiert zu erfassen.

Veränderung

Wieso etwas verändern, es läuft ja gut? – Das Problem ist nicht, dass es jetzt «gut läuft», sondern, dass die Welt um uns sich verändert. Wir müssen Schritt halten. Die Ärzteschaft tut sich generell schwer mit Veränderungen. Die Informatik hat unseren Praxisalltag schon stark beeinflusst und wird ihn mit zunehmender ­Geschwindigkeit weiter verändern. Ob das gut oder schlecht ist, ist letztlich eine müssige Diskussion, denn ausweichen werden wir kaum können. Klar überlebt man heute noch gut ohne Smartphone. Vor 20 Jahren hat niemand daran gedacht, dass diese kleinen Tools dereinst so massiv unser Leben prägen würden. Wir Ärzte haben uns während der Aus- und Weiterbildung viel Wissen angeeignet. Dieses musste in teils beschwerlichen Fortbildungen wiederholt revidiert, das heisst ver­ändert werden. Vieles davon ist «auf der 
Strecke ge­blieben». Die Halbwertszeit des Wissens hat massiv abgenommen. Jährlich werden über eine Million Artikel in der medizinischen Fachwelt publiziert. Wer kann, ja wer will da mithalten? Die Veränderung könnte darin bestehen, dass aktuelles Wissen nicht nur von «papers» abgeholt wird, sondern je nach Bedarf aus unterschiedlich konzentrierten und vorselektionierten Quellen.

Wissen unterschiedlich aufbereitet

Ein Grossteil der medizinischen Literatur ist heute online verfügbar und kann mit mehr oder weniger Aufwand «konsultiert» werden. Die sogenannten Guidelines oder Leitlinien kondensieren das relevante Wissen auf eine überschaubare Menge. Auch diese Guidelines müssen regelmässig überarbeitet und dem aktuellen Stand des Wissens (oder des Irrtums) angepasst werden. Eine noch konzentriertere Form des Wissens sind sogenannte «Risikorechner». Dabei wird der aktuelle Wissensstand in Algorithmen eingearbeitet und steht dem Arzt bei Bedarf als Hilfstool zur Verfügung. Wir kennen solche Tools wie den FRAX-Score [1] zur Berechnung des Frakturrisikos sowie AGLA-Risikorechner [2] und Arriba-Rechner [3] zur Wahrscheinlichkeitsberechnung für kardiovaskuläre Ereignisse. Leitlinien und Algorithmen treffen keine Entscheidungen, können aber dem Arzt helfen, zusammen mit dem Patienten informierte Entscheidungen zu treffen.
Die moderne Computertechnologie macht möglich, dass Informationen derart aufbereitet werden, dass sie am «point of care» zur richtigen Zeit in geeigneter Form zur Verfügung stehen.
Es gibt also:
– Regelwerke, die als «Hintergrundtools» mit der elektronischen Krankengeschichte (eKG) interagieren können und bei Erfüllen gewisser Konstellationen Hilfestellung bieten. Beispiele sind:
• AGLA-Risikorechner
• ARRIBA-Rechner
– Leitliniensammlungen und Informationssysteme, die bei Bedarf abrufbar sein sollten. Beispiele sind:
• EBM-Guidelines [4]
• Up-to-date [5]
– Literatur- und Wissensdatenbanken, die bei einzelnen Diagnosen, Diagnose-Kombinationen und Diagnose-/Labor-Kombinationen «angefragt» werden können. Beispiel:
• www.PubMed.gov [6]
Grundsätzlich ist es also möglich, dass die «ideale elektronische Krankengeschichte» (SMART-eKG) dieses Wissen auf einen Klick bereitstellt. Heute müssen die entsprechenden Daten händisch separat eingetippt werden. Ideal wäre eine «automatisierte Übernahme» aus der eKG. Um diese Optionen möglich zu machen, sind gewisse Voraussetzungen unabdingbar.

Welche Voraussetzungen braucht es?

Die Voraussetzungen sind überschaubar: elektronisch dokumentieren, Diagnosen codieren – fertig, mehr nicht! Als selbstverständlich darf vorausgesetzt werden, dass Vitaldaten (Blutdruckwerte, Grösse, usw.) strukturiert erfasst werden, die Medikamente ebenfalls mit einem Code referenziert und Labordaten auch codiert gespeichert sind (z.B. LOINC [7]).

Was ist heute schon möglich?

Was für uns in der Schweiz und auch in Deutschland nach Utopie klingt, ist in Finnland schon Alltagsrealität. Da die oben genannten Rahmenbedingungen erfüllt sind, funktioniert in Finnland tatsächlich schon vieles, wovon wir nur träumen können! Die «Anordnung» ist relativ einfach: In der eKG gespeicherte Daten werden zu einem «Decision Support Service» [8] (mit hinterlegtem Regelwerk) übermittelt. Dieser liefert je nach Bedarf Informationen, Links zu Wissensdatenbanken, Warnungen und Hinweise zurück (Abb. 1).
Abbildung 1: Klinische Entscheidungshilfe.
Generell geht es nicht darum, dass man immer alles präsent haben muss. Auch bildschirmfüllende Popups sind keine Option. Aber bei Bedarf kann externes Wissen sehr hilfreich sein, um die Therapie für den Patienten zu optimieren und das Therapierisiko zu minimieren.
Das finnische System kann diverse Informations­systeme kombinieren und entsprechenden Support liefern. So werden
– Indikationen für Medikamente und deren Dosierung überprüft;
– Kontraindikationen gecheckt;
– Dosierungsanpassungen bei Niereninsuffizienz vorgeschlagen;
– Hinweise auf mögliche Arzneimittel-Nebenwirkungen gegeben;
– Nebenwirkungen von Arzneimittelkombinationen in Erinnerung gerufen;
– Warnungen bei Interaktionen ausgegeben;
– Vorsichtsmassnahmen bei Schwangerschaft und Stillzeit aufgelistet, und vieles mehr.
Demnächst werden auch Warnungen bei sogenannten Kreuzreaktionen und eine Verschreibungshilfe bei Lebererkrankungen verfügbar sein.
Im Hintergrund arbeiten diverse Wissensdatenbanken wie Renal Dosing Database oder die Drug Interaction Database.

Output

Als erster Check listet das System Medikamente mit fehlender Indikation auf. Dabei werden die hinterlegten Diagnosen und die Medikamente verglichen und Empfehlungen angezeigt: «Bei diesem Patienten ist aktuell keine Indikation für Pantoprazol erkennbar». –Auf unvollständige Medikation wird hingewiesen: «Bei diesem Patienten sollte aufgrund der Diagnoseliste Aspirin® erwogen werden». – Oder es wird zum Absetzen einer Medikation geraten: «Diese Patientin hat seit über fünf Jahren ein Bisphosphonat, allenfalls Absetzen erwägen». Wer interessiert ist, wie das System zu dieser Empfehlung kommt, gelangt mit wenigen Klicks zu den entsprechenden Guidelines oder sogar zur Primärliteratur.
Bei Niereninsuffizienz wird, falls nötig, eine Dosisanpassung vorgeschlagen oder es werden alternative Medikamente aufgelistet. Bei Medikamenten, die eine Co-Medikation benötigen (Bsp. Methotrexat – Folsäure) kommt ein Hinweis, wenn das zweite Medikament nicht verordnet wurde.
Benötigt eine Medikation eine periodische Laborkontrolle, erinnert das Tool daran, falls die letzte Kontrolle zu weit zurückliegt, oder der Wert ausserhalb der Toleranzbreite liegt. Die möglichen Nebenwirkungen der einzelnen Medikamente und das Nebenwirkungs­potenzial von Medikamenten-Kombinationen werden ebenfalls monitorisiert. Als hilfreiche Übersicht listet das Tool die Medikamente als Tabellenreihen mit den potenziell additiven Nebenwirkungen als Tabellen­spalten auf (Abb. 2). Jedes Risiko erhält einen numerischen Wert (Score), bei additiver Wirkung werden diese aufsummiert und in der ersten Reihe im Sinne eines Ampelsystems mit rot, orange oder grün markiert. Durch Anklicken der Nebenwirkung gelangt man direkt auf die entsprechend hinterlegte Evidenz, und erhält falls nötig Vorschläge zu alternativer Medikation.
Abbildung 2: Nebenwirkungen, die möglicherweise auf Medikamente zurückzuführen sind (PHARAO®).

Vernetzte Datenbanken

Finnland ist uns ein paar «eHealth-Meilen» voraus. ­Andere Ideen gehen nochmals einen Schritt weiter, ­indem nicht nur Publikationen und Leitlinien zu den Diagnosen A, B, C für einen bestimmten Patienten berücksichtigt werden, sondern der Patient «in time and online» mit Seinesgleichen verglichen wird, um das beste Outcome zu finden [9]. Zur Illustration: Frau A. D., 68-jährig, hat Diabetes, Hypertonie und eine Polyarthritis. Neu ist die Hyperlipidämie behandlungsbedürftig. Sie nimmt schon sechs Medikamente für ihre Grundkrankheiten. – Durch Analyse von vernetzten Datenbanken findet man heraus, dass weltweit momentan 47 Frauen im gleichen Alter mit diesen drei Grundkrankheiten eine identische Medikation haben. Dabei zeigt sich, dass Statin A besser wirkt als Statin B. Dieser Ansatz analysiert nicht Studiendaten (von früher) mit meist eindimensionalen Diagnosen und vielen Ausschlusskriterien, sondern Daten aus der Alltagsrealität. Dabei wird zwangsläufig ein viel kleineres, dafür aber praktisch identisches Vergleichskollektiv herangezogen.

Fazit

Es ist höchste Zeit, dass wir uns sputen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Um entlastet und unterstützt werden zu können, müssten Ärzte konsequent die Diagnosen ihrer Patienten in ­codierter Form erfassen. Die Softwareindustrie müsste sich schwerpunktmässig dem Thema «SMART-eKG» widmen. Sie wird es nur dann tun, wenn wir als Kunden diesen Wunsch ­äussern und bereit sind, dafür zu bezahlen. Wir dürfen uns nicht von Anforderungen einer Anbindung an das elektronische Patientendossier (EPD) abschrecken lassen. Die Softwarefirmen waren in den letzten Jahren mehrheitlich mit dem «Tarmed-Mekkano» beschäftigt. Aktuell wird viel Druck bezüglich einer EPD-Anbindung gemacht. Unseres Erachtens muss die Diskussion der Inhalte nun vorrangig angegangen werden. Es darf nicht sein, dass die Weiterentwicklung der eKG auf der Strecke bleibt, weil das EPD Priorität hat. Man stelle sich vor, die Technik zum Datenaustausch ist da, aber es fehlen die Inhalte, das heisst valide Daten. Leider ist die Codierungsfrage die Gretchenfrage schlechthin. Es gibt in diesem Zusammenhange den Teufelskreis: Wenn nicht codiert wird, können keine Mehrwertangebote in die eKG eingebaut werden. Wenn keine Mehrwertangebote eingebaut sind, wird nicht oder unvollständig codiert.
Dr. med. Heinz Bhend
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin /
Exec. Master of ICT
Fachlicher Leiter Institut
für Praxisinformatik
CH-4663 Aarburg
h.bhend[at]
praxisinformatik.ch
1 Frax-Score: http://www.shef.ac.uk/FRAX/
2 AGLA-Risikorechner: https://www.agla.ch/risikoberechnung/agla-risikorechner
3 Arriba-Rechner: http://www.arriba-hausarzt.de/
4 EBM-Guidelines: http://ebm-guidelines.ch/ und http://www.ebm-guidelines.com/dtk/ebmg/home
5 Up-to-date: http://www.uptodate.com/de/home
6 Pub Med: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/
7 LOINC: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/
8 EBMeDS: http://www.ebmeds.org/web/guest/home?
9 IBM Europe, John Crawford: Data Mining to Support Progressive Patient Access; Präsentation Dublin 15 Mai 2013
(World of Health IT)