Kenianische Erfahrungen mit HIV
Wie der afrikanische Staat vorgeht, um das Virus in den Griff zu bekommen

Kenianische Erfahrungen mit HIV

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Ausgabe
2017/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01541
Prim Hosp Care (de). 2017;17(13):258-260

Affiliations
Zwei Schweizer Ärzte auf einer unabhängigen journalistischen Reise durch Kenia

Publiziert am 12.07.2017

«HIV/AIDS ist auch eine Erfolgsgeschichte»
Jean-Hervé Bradol, ehemaliger Präsident von 
Médecins Sans Frontières Frankreich
Auf der Rückbank eines weissen 4×4-Jeeps holpern wir über die Sandpiste Richtung Ndhiwa nahe dem Lake Victoria. Ungläubig schauen wir uns in die Augen. Das Virus, das alleine in Kenia zwischen 1986 und 2000 für einen Abfall der Lebenserwartung von fast zehn Jahren mitverantwortlich war, eine Erfolgsgeschichte? Es ist die Geschwindigkeit, mit der wenige Jahre nach der Entdeckung von HIV eine effektive Therapie gefunden und über die ganze Welt verbreitet wurde, die für Jean-Hervé Bradol so aussergewöhnlich ist. Vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig antivirale Medikamente sonst bekannt sind.

MSF und HIV

Als Médecins sans Frontières (MSF) 2002 in Kenia zum ersten Mal gratis HIV-Medikamente bereitstellte, schien es undenkbar, den Menschen rund um den Globus Zugang zu den teuren antiretroviralen Therapien (ART) zu verschaffen. Und heute? 2016 sind weltweit 18,2 Millionen Menschen unter Behandlung. Nach dem Prinzip Treatment as Prevention soll zur Verhinderung von Neuinfektionen jeder HIV-Positive behandelt werden. MSF verfolgt dieses Ziel mit einem ambitionierten Grossprojekt im Unterdistrikt Ndhiwa südlich von Homa Bay. Die Gegend ist ein HIV-Hotspot in Kenia, Stammland der Luo, Hochburg der Opposition und hauptsächlich von Landwirtschaft und Fischerei abhängig. Ein Viertel der Bevölkerung ist HIV-infiziert. Basierend auf epidemiologischen und anthropologischen Erkenntnissen vollzog MSF hier ein Paradigmenwechsel. Mit Botschaften, die an die lokale Bevölkerung angepasst sind, wird unter enger Zusammenarbeit mit den Behörden eine Stärkung der Grundversorgung anstelle zentralisierter Medizin und aufgezwungenen Verhaltensänderungsprogrammen angestrebt. Drei Pfeiler stützen das Programm: «Community mobile approach», Dezentralisation der Gesundheitsversorgung und Stärkung des lokalen Spitals.

Über Sex sprechen

«Community mobile approach» bedeutet direkte Interaktion mit den Dorfgemeinschaften. Jeden Morgen schwärmen MSF-Geländefahrzeuge voll besetzt mit lokalen Mitarbeitern in die Dörfer der Region aus. Ausgerüstet mit HIV-Schnelltests, Kondomen und Informationsmaterial ziehen sie von Tür zu Tür. Sie klären auf, testen direkt im Wohnzimmer und weisen HIV-Positive weiter. Die bei der Anleitung zum Gebrauch von Kondomen an einer Penis-Holzattrappe aufkommende Mischung aus Interesse, Scham und Belustigung ist kultur-unabhängig erfrischend. Die Offenheit, mit der hier über HIV und Sexualität gesprochen wird, ist beeindruckend und scheint uns in der Schweiz kaum vorstellbar.
Eine ausführliche Information der Bevölkerung über die Kampagne ist unumgänglich, schliesslich klopfen plötzlich Fremde an Türen, um über Sex zu sprechen und Blut abzunehmen. HIV ist immer noch ein heikles Thema. MSF-Mitarbeiter wurden auch schon als Blutsauger oder Teufelsanbeter missverstanden. An der nachmittäglichen Gemeindeversammlung steht MSF der lokalen Bevölkerung Rede und Antwort. Die ­Themen sind kontrovers: MSF soll die Namen derjenigen herausgeben, die sich nicht testen lassen, fordern ­einige. Es sei schliesslich die Gemeinschaft, die am Ende den Preis für unbehandelte Infizierte zahle. Datenschutz – kaum hätten wir gedacht, dass uns dieses Thema um die halbe Welt verfolgt.
Ausrüstung für HIV-Beratung und Testung im Wohnzimmer.
Abends besuchen wir eine Veranstaltung, die das Ziel verfolgt, junge Männer anzusprechen. In einem Zelt werden Beratungsgespräche und HIV-Tests durchgeführt, und auf Grossleinwand wird ein Aufklärungsfilm gezeigt. Keine spröde Moralpredigt, sondern eine veritable MTV-Produktion, die auch zwei Ärzten – uns! – erleuchtende Momente bietet. Eine Mutter hat ihre ganze Kinderschar mitgenommen. Nach kurzer Verhandlung, wie hoch denn die Sitzungsabfindung sei, setzt sich auch die Teenager-Gruppe vom benachbarten Fussballplatz dazu. Bis Sonnenuntergang bleiben viele Beratungskabinen leer, erst nach Einbruch der Dunkelheit belebt sich der Platz. Manch einer schaut sich die Angelegenheit erst einmal aus der Ferne an. Viele Gesichter verbergen sich hinter Kapuzen oder es wird still der Hintereingang benutzt. Immer wieder verschwinden MSF-Mitarbeiter in die Nacht um, nach gutem Zureden, in Begleitung eines Jugendlichen wiederzukommen.
Ein lokaler HIV-Berater erklärt einer Dorfbewohnerin den ­Ablauf des HIV-Tests.

Wie eine Schweizer Hausarztpraxis – nur ohne Ärzte

Aber wie geht es weiter nach einem positiven Test? Dispensaries sind die kleinsten Versorgungseinheiten des kenianischen Gesundheitssystems und die primäre Anlaufstelle für HIV-Patienten. In vielem sind Dispensaries vergleichbar mit einer Schweizer Hausarzt­praxis. Nur ohne Ärzte. Duncan Juma ist ausgebildeter Krankenpfleger und aktuell der einzige Kliniker im Dispensary von Malale. Jeden Morgen bildet sich eine lange Schlange vor dem Eingang. Er behandelt alle, vom Säugling bis zur Grossmutter. «Ich versuche nicht von Schwierigkeiten, sondern von Herausforderungen zu sprechen», meint Duncan lakonisch, der im anliegenden Gebärsaal zusätzlich als Hebamme fungiert. Aktuell führt er mit Unterstützung von MSF neben erst- auch zweit-Linien-ART durch. Für viele Bewohner von Ndhiwa ist bereits die Fahrt ins nächste Spital ein finanzieller Kraftakt. Eine umfassende Versorgung ist nur möglich, wenn man die Medizin im Sinne einer ­patientennahen Grundversorgung zu ihnen bringt, in ihre Dörfer oder gar direkt ins Wohnzimmer. Eine Botschaft, der Politiker in der Schweiz ruhig auch etwas mehr Gehör schenken dürften.

Bilder der Vergangenheit

Auf dem Vorplatz des Spitals von Ndhiwa beginnt ­unsere Suche nach den gesellschaftlichen Folgen von HIV. Was bedeutet es, wenn so viele infiziert sind?
Für Jane, die im Auftrag des lokalen Gesundheitsministeriums von Tür zu Tür zieht, Malaria behandelt und Kranke ins Spital einweist, sind die ersten Erinnerungen an HIV in Plastik eingewickelte Leichen. Nicht einmal die sonst üblichen Begräbnisfeierlichkeiten habe man durchgeführt, sondern die Toten aus Angst so schnell wie möglich begraben. Für die meisten hier sind die Erinnerungen noch sehr präsent: Bilder von abgemagerten Kranken in den Strassen, verlorenen Angehörigen, vielen Waisenkindern. «Die erste Handlung von MSF in Homa Bay war die Sanierung der Leichenhalle», erzählt uns William Hennequin, Missionsleiter von MSF Frankreich.

Kulturschock HIV

Durch die Epidemie werden auch die lokalen Bräuche und Sitten in Frage gestellt, zusätzlich zur Moderne, die viele der Traditionen verschwinden lässt. Die Luokultur beinhaltet traditionell polygame Familienmodelle und die Weitervererbung von Witwen. Sexuelle Riten markieren wichtige Momente im Leben, ähnlich wie in Europa die Hochzeitsnacht. Sie gehören zum Einzug in ein neues Haus, zur Geburt eines Kindes, zu einem Todesfall oder zum bäuerlichen Jahreszyklus traditionell als reinigendes Ereignis dazu. HIV, das Sexualität zum Quell von Elend und Tod macht, stellt diese reinigende Funktion von Sex radikal in Frage.
«Unsere Kultur tötet uns», ist sich ein lokaler HIV-Ratgeber sicher. Für ihn sind es die Bräuche der Luo, die der Verbreitung von HIV Tür und Tor geöffnet haben. Endlich hinter sich lassen solle man diese rückständigen Überbleibsel alter Zeiten. Anders sieht es Stanley Mulaku, der Public Health-Verantwortliche der Region. Die Verteufelung der lokalen Kultur ohne Blick auf deren inhärente Stärken und ohne Diskussion über Alternativen habe viel Schaden angerichtet und zur massiven Stigmatisierung der Erkrankten beigetragen.
Seit über 15 Jahren erklären NGO-Mitarbeiter und kirchliche Prediger den Menschen hier, wie sie ihr Sexualleben führen oder eben nicht führen sollen, und trotzdem ist ein Viertel der Bevölkerung mit HIV infiziert. «Sex is basic», fasst Joshua Otieno, der Distrikt­beauftragte für Gesundheitsedukation zusammen. Es gäbe so viel negative Kommunikation über Sex. Dabei sei es doch ein grundlegender Bestandteil unseres ­Lebens.

Power Positive

«Schweigen tötet», ist sich Hannie Ondaye sicher. Als sie 2000 positiv getestet wurde, gab es kaum Hoffnung. «Ich habe mit Freundinnen Power Positive gegründet. Wir haben uns getroffen, von unserem Alltag erzählt und zusammen geweint. Mehr konnten wir nicht tun.» Wenn sie zurückblickt, überwiegen aber die positiven Gedanken. «HIV was an opener!», be­kommen wir überrascht zu hören. Eine ganze Region musste lernen, über das Tabu Sexualität zu sprechen. Man habe gedacht sie spinnen, als Frauen zum ersten Mal laut sagten, ihr Sexualleben sei unbefriedigend. Zusätzlich sei durch den Kampf der Frauen gegen die Weitervererbung der ­Witwen und deren Besitz ein Bewusstsein für Frauenrechte und das Recht auf Eigentum entstanden.
Frauen verschaffen sich eine Stimme, eine Gemeinschaft vereint sich hinter dem Kampf gegen die Krankheit und von der internationalen Konferenz für opportunistische Infektionen (Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections, CROI) erreicht uns die Nachricht, dass es zum ersten Mal gelungen ist, mit ­einem Impfstoff in Probanden virale Suppression zu erreichen. Vielleicht ist HIV wirklich eine Erfolgs­geschichte.
Lukas Baumann
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Manuel Cina
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