Ein Faktor bei der Berufswahl

Bedroht medizinisches Fachwissen die Zukunft der Hausarztmedizin?

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01596
Prim Hosp Care (de). 2017;17(18):344-345

Affiliations
Faculté de biologie et de médecine de l’Université de Lausanne

Publiziert am 27.09.2017

Einführung

Die Schweiz sieht sich mit einem wachsenden Hausärztemangel konfrontiert, der in erster Linie durch eine unzureichende Anzahl an ausgebildeten Hausärzten verursacht wird [1]. Die Literatur verweist auf mehrere Faktoren, die junge Universitätsabsolventen veranlassen könnten, sich der Hausarztmedizin zu- oder sich von ihr abzuwenden [2–4]. Wir möchte diese Problematik unter dem Gesichtspunkt des medizinischen Fachwissens betrachten. Tatsächlich hat es den Anschein, dass Fachwissen als Faktor bei der Berufswahl in der schweizerischen und internationalen Literatur wenig untersucht worden ist [2, 4]. Im Rahmen dieser Arbeit haben wir das Fachwissen als das Spektrum medizinischer Kenntnisse und Handlungen definiert, das sich aus der biomedizinischen Forschung ergibt, dessen Anwendung ein variables Mass an fachärztlicher Spezialisierung impliziert (Abb. 1 und 2).
Abbildung 1: Spektrum des Fachwissens – ­Allgemeinmediziner.
Der Allgemeinmediziner hat Zugang zu einer grossen Bandbreite an technischen Hilfsmitteln in zahlreichen Bereichen. Dies hängt vom praktizierenden Arzt, dem Ort sowie der Art der Einrichtung ab.
Abbildung 2: Spektrum des Fachwissens – Facharzt.
Der Facharzt im Universitätsklinikbereich hat Zugang zum gesamten Fachwissen, jedoch begrenzt auf seinen Fachbereich.

Methode

Mittels eines qualitativen Ansatzes haben wir semi-strukturierte Umfragen durchgeführt, die auf drei Schwerpunkten basieren: Attraktivität der Hausarztmedizin, medizinisches Fachwissen und Hausärztemangel. Wir haben insgesamt fünf Lausanner Medizinstudentinnen und -studenten interviewt: einen Studenten im zweiten, eine Studentin im fünften und drei Studenten im sechsten Jahr. Ausserdem haben wir einen Assistenzarzt, zwei an der Ausbildung beteiligte Hausärzte (Dr. Olivier Pasche und Prof. Thomas Bischoff), einen Soziologen (Prof. Francesco Panese) ­sowie einen Medizinhistoriker (Prof. Vincent Barras) ­befragt. Anhand der Gespräche haben wir versucht, die Auswirkung des medizinischen Fachwissens auf die Berufswahl innerhalb der Medizin zu evaluieren.

Ergebnisse

Die Gespräche mit den Studenten haben ergeben, dass das medizinische Fachwissen ein entscheidender Faktor ist bei unentschlossenen Studenten oder bei den Studenten, die eine fachärztliche Laufbahn einschlagen wollen – nicht jedoch bei jenen, die sich für die Hausarztmedizin interessieren. Letztere unterschätzten zudem die umfangreichen Zugangsmöglichkeiten zu gewährten Forschungsmitteln, die Hausärzten unmittelbar zur Verfügung stehen, sowie die Bandbreite des Basisfachwissens, die der Allgemeinmediziner ausüben kann.
Die Ärzte und die Studenten stimmten bezüglich der Wichtigkeit von Praxiseinblicken bei der Berufswahl überein. Ebenso waren sie sich einig, dass der Fokus der durch Hausärzte erteilten Lehre zu stark auf den psychosozialen Aspekt gerichtet ist, wohingegen der fachspezifische Teil der Medizin von Fachärzten behandelt wird. Der Medizinhistoriker erinnerte an die Spannung, die in unserem Gesundheitssystem zwischen den Fachärzten, welche die technischen Eingriffe beherrschen, und den Allgemeinmedizinern, die die Schnittstelle zwischen dem Fachwissen und den Patienten darstellen. Das hochqualifizierte Fachwissen ist das Privileg des Spezialisten, doch auch der Hausarzt wird mit ihr konfrontiert. Er muss dieses Fachwissen an den Patienten herantragen und wissen, wann was indiziert ist. Der Soziologe wies auf diesen Gegensatz unter dem Gesichtspunkt der Gegenüberstellung von Krankheit und Kranksein hin, wobei der Facharzt vor allem auf die Krankheit fokussiert ist, der Hausarzt hingegen auf den Kranken.

Diskussion

Wir glauben, dass sich die Attraktivität des Fachwissens für die Studenten teilweise vom Prestige herleiten lässt, das der Ausübung von Spitzenmedizin zugeschrieben wird. Dieses Prestige hat seinen Ursprung vermutlich in sozialen Vorstellungen, die mit einer höheren Bezahlung von medizinischen Eingriffen verbunden sind, sowie vom Reiz, der für die Gesellschaft von der Technologie ausgeht. Dies bestätigen auch der der befragte Medizinhistoriker sowie die Literatur [3, 4]. Um den Hausärztemangel zu beheben, müsste man unserer Ansicht nach diesen Beruf aufwerten. Eine wirksame Massnahme wäre etwa, die Studenten sowohl im Rahmen der Praktika als auch durch eine fachlich spezialisierte Lehre durch Hausärzte mehr an die Hausarztmedizin heranzuführen. Auch Gemeinschaftspraxen wären eine Lösung. Diese würden die Zugänglichkeit zum Basisfachwissen durch eine bessere Rentabilität der kostspieligen technischen Geräte erhöhen. Ausserdem würde ein solcher Zusammenschluss den Austausch der Hausärzte untereinander erleichtern, was wiederum für den Nachwuchs attraktiv wäre.
Wir danken Dr. Pasche, den Professoren Bischoff, Barras und Panese für die aufgewendete Zeit sowie unserem Tutor Dr. Michel Dafflon für seine wesentliche Unterstützung.
Dr. phil. Jacques Gaume
Responsable de recherche
PhD Coordinateur du ­module B3.6 – Immersion communautaire
Département universitaire de médecine et santé communautaires CHUV
Avenue de Beaumont 21 bis, Bâtiment P2
CH-1011 Lausanne
Jacques.Gaume[at]chuv.ch
1 Conseil Fédéral. Stratégie pour lutter contre la pénurie de médecins et encourager la médecine de premier recours. Berne: Office fédéral de la santé publique; 2011.
2 Zurro AM, Villa JJ, Hijar AM, Tuduri XM, Puime AO, Alonso-Coello P, and for the Universidad y Medicina de Familia research group: Medical student attitudes towards family medicine in Spain: a statewide analysis. BMC Fam Pract. 2012, 13: 47-10.1186/1471-2296-13-47.
3 López-Roig S, Pastor MA, Rodríguez C. The reputation and professional identity of family medicine practice according to medical students: a Spanish case study. Aten Primaria. 2010;42(12):591–601.
4 Senf JH, Campos-Outcalt D, Kutob R. Factors related to the choice of family medicine: a reassessment and literature review. J Am Board Fam Pract. 2003;16:502–12.