CIRS - ein Revival?
Erfassung kritischer Zwischenfälle in der Praxis

CIRS - ein Revival?

Lehren und Forschen
Ausgabe
2017/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01628
Prim Hosp Care (de). 2017;17(20):382-384

Affiliations
a Forum für Hausarztmedizin, Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich; b Ärztenetzwerk Thurgau

Publiziert am 25.10.2017

2002 wurde CIRS in der Schweiz eingeführt. Wie steht es um das System zur Erfassung kritischer Zwischenfälle 2017? Eine Bilanz.

Vorgeschichte

Im Jahr 2002 beschloss die damalige Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Medizin (SGAM), ein ­nationales Meldesystem für kritische Zwischenfälle ­(Critical Incident Reporting System, CIRS) einzuführen. Damit auch die Internisten, Pädiater und Nicht-Facharzttitelträger partizipieren konnten, wurde das System dem Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) in Obhut gegeben. Die damalige Zielsetzung wird in Kasten 1 rekapituliert. Langjährige Moderatoren waren Andreas Brun und Anne Girard.

Kasten 1: Ziele des CIRS-Meldesystems [1].

Das Meldesystem ist so zu gestalten, dass
• es auch wirklich rege benutzt und besucht wird
• es den Meldenden Support in der Verarbeitung des ­Ereignisses anbieten kann
• es die Leser aus unerwarteten Ereignissen etwas lernen lässt
• die Daten bis zu einem gewissen Grad wissenschaftlich auswertbar sind
• nach aussen erkennbar wird, dass gemachte Fehler erkannt und in Zukunft zu verhindern versucht werden
Leider erfüllte sich der Wunsch nach einer regen Meldefrequenz nicht, woran auch wiederholte Aufrufe der Moderatoren nichts ändern konnten [2–6]. Offenbar war der Wunsch, mit dem System Aktivität nach ­aussen zu demonstrieren, auch mit ein Grund, das ­System nicht vorher schon abzuschalten. Wegen der Anonymität der Meldenden war ein Passwort-Schutz notwendig, und aus dem gleichen Grund erhielten die Meldenden keine Rückmeldung über einen eingegangenen Kommentar. Es wurde auch versucht, eine ­Brücke von der Qualitätszirkel(QZ)-Arbeit, wo der ­Austausch meist problemlos funktioniert, zu unserem Meldesystem zu schlagen, leider erfolglos [4]. Ab 2014 durfte der Erstautor im Auftrag des KHM das System moderieren, aber auch sein Aufruf blieb ohne Erfolg [6]. Am 23. März 2017 beschloss das KHM, die Unterstützung für das Meldesystem einzustellen.

Auswertung der bisherigen Meldungen

Während der Laufzeit des Systems seit Ende 2002 wurden 75 Meldungen gemacht; von 2003 bis 2012 waren dies etwa sechs Meldungen pro Jahr, danach halbierte sich die Frequenz auf etwa drei Berichte pro Jahr. 10,7% der Meldungen waren in französischer Sprache verfasst, die restlichen auf Deutsch. 49,3% der Patienten waren männlich, 38,7% weiblich; bei 8,0% war dem Fall kein bestimmter Patient zugeordnet oder die Angabe fehlte. Die Altersverteilung ist in Tabelle 1 dargestellt. Der Kontext der Fälle ist in Tabelle 2 aufgelistet. In 30,7% handelte es sich um einen Zwischenfall im Notfalldienst oder bei einer Ferienvertretung, bei 64,0% trat dieser während des Normalbetriebs auf (5,3% fehlende Angaben). Die mutmassliche Häufigkeit ähnlich gelagerter Zwischenfälle wurde erst ab 2013 erhoben, dreimal wurde eine ungefähr jährliche Häufigkeit geschätzt, elfmal ein selteneres Auftreten. Der vermutete Gefährdungsgrad des Patienten ist in Tabelle 3 zusammengestellt. Die mutmasslichen Trigger für die Zwischenfälle werden in Tabelle 4 dargelegt. Das Beispiel eines Falls ist im Kasten 2 geschildert.
Tabelle 1: Altersverteilung.
AltersklasseAnzahlProzent
0–20 6  8,0
21–6027 36,0
>6040 53,3
Unklar / nichtzutreffend 2  2,7
Total75100,0
Tabelle 2: Kontext der Zwischenfälle.
Kontext des ZwischenfallsAnzahlProzent
Analyse 5  6,6
Diagnostik13 17,3
Invasive Prozeduren15 20,0
Monitoring / Pflege 9 12,0
Medikation11 14,7
Information20 26,7
Andere 2  2,7
Total75100,0
Tabelle 3: Gefährdungsgrad des Patienten.
GefährdungsgradAnzahlProzent
Minimal, keine Massnahmen nötig 2  2,7
Gering, kaum Schaden, aber ­Vertrauensverlust29 38,7
Mittelschwer, therapeutische Inter­vention und/oder Überwachung nötig31 41,2
Schwer, potenziell lebensbedrohlich11 14,7
Unklar / nichtzutreffend 2  2,7
Total75100,0
Tabelle 4: Mutmassliche Trigger für das Ereignis.
TriggerAnzahlProzent
der ­Antworten
Prozent der Fälle
Kommunikation  7  5,0  9,5
Ausbildung   4  2,9  5,4
Mitarbeiterfaktoren 53 37,9 71,6
Teamfaktoren 30 21,4 40,5
Praxisorganisation 33 23,3 44,6
Patientenfaktoren  3  2,1  4,1
Praxistechnik  1  0,7  1,4
Medikation  2  1,4  2,7
Andere  7  5,0  9,5
Total140100,0189,2
1 Fall ohne Antwort. Es handelte sich um eine Mehrfachantwort-Frage, weshalb das Total mehr als 75 Antworten beträgt. Die Antworten 1, 2, 6–9 wurden erst ab 2013 angeboten.

Kasten 2: Beispiel einer CIRS-Meldung (gekürzt).

Ein Patient wollte kurzfristig in die Ferien reisen und brauchte eine Hepatitis A-Impfung. Der Arzt stellte fest, dass keine Impfung vorrätig war und «lieh» sich deshalb eine für einen anderen Patienten reservierte Impfung aus. Nach der Verabreichung stellte er fest, dass der Impfstoff seit sechs Monaten abgelaufen war.
Lösungsmöglichkeiten: Reservierte Impfstoffe sind mit dem geplanten Impfdatum zu versehen, so ist erkenntlich, dass die Verabreichung angemahnt werden sollte. Auch reservierte Impfungen sind bei der sechsmonatlichen Kontrolle einzuschliessen.

Diskussion der Resultate

Kürzlich durfte der Erstautor eine Studie im Sentinella-Meldesystems des Bundes leiten. Dieses dient zur Erhebung von Gesundheitsdaten in der hausärztlichen und pädiatrischen Praxis. Wir hatten dort etwa eine Meldung pro Arzt und Jahr [7]. Das Melde­kriterium lautete: Jeder durch einen Fehler bedingte Zwischenfall (definiert durch den Meldearzt), der ­einen Bezug zur medikamentösen Therapie und den üblichen Behandlungsverlauf gestört hat. Allerdings bezog sich die Erhebung nur auf Medikations-Zwischenfälle, die etwa ein Drittel aller Zwischenfälle ausmachen dürften. ­Somit wären etwa drei Zwischenfälle pro Arzt und Jahr meldefähig. Dies ergäbe bei etwa 7000 Schweizer Haus- und Kinderärzten ein Potenzial von ca. 20 000 Zwischenfall-Meldungen pro Jahr. Dem stehen die jährlich drei bis sechs eingegangenen Meldungen in unserem CIRS-System entgegen. Nur jeder 5000-ste Zwischenfall ist im Meldesystem angekommen! Wo könnten die Gründe dafür liegen?
Einerseits war das Meldesystem trotz der wiederholten Aufrufe [1–4, 6] wohl zu wenig in unseren Köpfen präsent. Dann war die Eingabe der Meldung mit dem Abholen des Passworts beim Verbandssekretariat kompliziert. Zudem war die Eingabeschablone nicht sehr ansprechend ausgestaltet. Wegen der Anonymität des Meldesystems war es den Moderatoren nicht möglich, dem Meldenden einen direkten Kommentar zukommen zu lassen. Für «Zaungäste» war das System ebenfalls schwer zugänglich, da man sich auch zum reinen Schnuppern in den Fällen zuerst ein Passwort verschaffen musste. Die Tatsache, dass in den letzten Jahren jährlich etwa 20 Personen das Passwort verlangten, aber nur vier Fälle gemeldet wurden, spricht dafür, dass nicht nur der Weg über das Verbandssekretariat kompliziert war, sondern dass die potenziellen Meldenden durch die optisch wenig ansprechende Meldeschablone abgeschreckt worden sein könnten. Alternativ könnte es auch so gewesen sein, dass viele Anfragen von QZ-Leitern kamen, die als Vorbereitung für den CIRS-QZ etwas in den alten Fällen herumschnuppern wollten. Der Hauptgrund für die tiefe Meldefrequenz dürfte aber wohl darin liegen, dass es unserer Mentalität besser entspricht, einen Fall frisch von der Leber weg den interessierten Kollegen am QZ zu schildern als ihn in ein anonymes Meldesystem einzugeben. Trotzdem können die Fallschilderung im Forum und die Diskussionsbeiträge der Forumsmitglieder eine gewisse psychologische Aufarbeitung der emotional oftmals belastenden Fälle darstellen.
Interessant ist auch der Kontrast bei der Gefährdung des Patienten (Tab. 5). Es ist offensichtlich, dass im CIRS-System schwerer wiegende Fälle eingegeben wurden, als bei der systematischen Erfassung im Sentinella-System. Dies spricht neben den oben erwähnten Zugangsschwierigkeiten auch für einen Melde-Bias zugunsten gravierenderen Fällen.
Tabelle 5: Gefährdung des Patienten.
 Sentinella-StudieCIRS-Meldungen
minimal20,3% 2,7%
leicht43,2%38,7%
mittelschwer26,6%41,2%
schwer 9,9%14,7%
unklar 0,0% 2,7%

Ausblick

Die Gründe, die für ein nationales System von auswertbaren CIRS-Meldungen sprechen, sind auch nach dem Stopp der Unterstützung durch das KHM vorhanden (Kasten 1). Im Sinne eines Versuchs mit offenem Ausgang haben wir im geschützten Bereich des Forums für Hausarztmedizin (www.forum-hausarztmedizin.ch) ein neues Unterforum mit dem Titel «CIRS» eröffnet. Dort können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen neu ebenfalls anonym CIRS-Fälle eingeben. Unser Forum ist zwar Passwort-geschützt; dieses entspricht aber ­jenem für den allgemeinen Forumzugang, und Sie können das Einloggen automatisieren, so dass das Passwort keine Hürde sein dürfte. Die Eingabeschablone wurde neu mit der Fragebogen-Software SurveyMonkey programmiert und ist damit wesentlich ansprechender als die frühere Eingabemaske. Die Fälle ­werden vom Moderator gesichtet und anonymisiert. Anschliessend wird durch den Moderator für jeden Fall ein neuer Themenstrang eröffnet und ein Kommentar platziert. Die Fälle können von allen Haus- und Kinderärzten, die im Forum registriert sind, eingesehen und kommentiert werden. Die statistische Auswertung der Fälle ist problemlos möglich, und es sind regelmässige Berichte in dieser Zeitschrift vorgesehen. Im Gegensatz zu vorher ist die Moderationsarbeit einfacher, und die Software erzeugt nur geringe Kosten.
Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen sind Sie dran! Falls Sie in der Probephase bis Juni 2018 den ­einen oder anderen Fall (siehe Kasten 3) eingeben und das System seine Funktionstüchtigkeit beweist, fahren wir so weiter. Sonst wird die Übung abgebrochen, und Sie werden nicht mehr mit CIRS behelligt (zumindest nicht mehr unsererseits) …

Kasten 3: Zwischenfalldefinition.

Bitte melden Sie Fälle, bei denen aufgrund einer fehlerhaften Handlung oder Unterlassung der normale Praxisablauf gestört worden ist. Bitte melden Sie keine Fälle mit strafrechtlicher Relevanz.
Dr. med. Markus Gnädinger
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Birkenweg 8
CH-9323 Steinach
markus.gnaedinger[at]hin.ch
1 Brun A. CIRS Medical für Grundversorger. PrimaryCare. 2003;3:125–6.
2 Brun A. Fehlerkultur und Fehlermeldungen – CIRSmedical1 der SGAM. PrimaryCare. 2004;4:536.
3 Brun A. Wo stehen wir Hausärzte mit unserer Fehlerkultur? PrimaryCare. 2007;7(7-8):132–3.
4 Brun A. CIR für Grundversorger – der Qualitätszirkel als geeignetes Forum. PrimaryCare. 2008;8(8):139.
5 Brun A. Kritische Ereignisse anonym melden. PrimaryCare. 2013;13(6):112.
6 Gnädinger M. CIRS n’existe pas! PrimaryCare. 2014;14(4):65.
7 Markus Gnädinger, Dieter Conen, Lilli Herzig, et al. Medication incidents in primary care medicine: a prospective study in the Swiss Sentinel Surveillance Network (Sentinella). BMJ open http://bmjopen.bmj.com/content/7/7/e013658