Artikelserie: «Gestaltung der Zukunft der Allgemeinen Inneren Medizin»

Allein mit mehr Studienplätzen gegen den Ärztemangel?

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2017/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01636
Prim Hosp Care (de). 2017;17(17):324-325

Affiliations
Projektleiterin des Joint Master Medizin-Programms der Universitäten Luzern und Zürich

Publiziert am 13.09.2017

Die Antwort auf die im Titel gestellte Frage ist klar und einfach: Nein. Ohne zusätzliche Massnahmen wird der Mangel an Ärzten* in der Grundversorgung nicht wesentlich reduziert. Was braucht es denn? In Anlehnung an das berühmte Zitat von Antoine de Saint-Exupery, dass man nur erfolgreich ein Schiff bauen kann, wenn man den Leuten die Sehnsucht nach dem Meer lehrt, müsste man wohl mehr von der Faszination des Berufs des Allrounders schwärmen.

Von unterschätzten Experten und ­verehrten Helden

Wir möchten die Studierenden für die Grundversorgung gewinnen. Grundversorger ist aber kein verlockender Ausdruck, dies im Gegensatz zum heldenhaft tönenden Spezialisten, der sich in Disziplinen wie Intensivmedizin, Kardiologie, Orthopädie usw. bewähren muss. Grundversorger tönt wie Grundschule – unterste Stufe! Obwohl die Aufgaben der Grundversorger sehr anspruchsvoll sind. Denn das sind breit weitergebildete Ärzte, die über 90 Prozent der ambulanten Probleme ihrer Patienten selber lege artis lösen können. Dank ihrer Fachkenntnisse und klinischen Skills sind sie zudem Experten für die (Langzeit-)Betreuung polymorbider Kranker. Deshalb plädiere ich für eine Namensänderung: «Hausarzt – Spezialist fürs Komplexe». So wird der anspruchsvollen Aufgabe des Hausarztes in der Namensgebung gebührend Rechnung getragen.

Der Hausarzt – Co-Pilot und Gesundheitslotse

Das Aufgabenspektrum der Hausärzte hat sich die letzten Jahrzehnte verändert. Denn die Medizin entwickelte sich weiter und damit auch die Möglichkeiten in der ambulanten Medizin. Weil die Weiterbildung aber grossmehrheitlich in den Spitälern stattfindet und Praxisvertretungen von Studierenden heutzutage wenig wahrgenommen werden, fehlt den Jungärzten der Einblick in den abwechslungsreichen Praxisalltag.
Die Ein-Organ-Probleme löst der Fachspezialist straightforward. Spezialisten, insbesondere der chirurgischen Disziplinen haben aber erkannt, dass der Outcome bei Mehr-Organ-Kranken entscheidend von der Behandlung der Co-Morbidität abhängt und nicht nur von ihrer eigenen Leistung. So erfährt der mitbetreuende Generalist eine Aufwertung als kompetenter Allrounder.
Angesichts der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung dürfte die Polymorbidität und Polypharmazie weiter zunehmen, und damit der Bedarf an «Co-Piloten» und «Gesundheitslotsen» immer wichtiger werden. Für die Mitbetreuung und Koordination medizinischer Massnahmen eignet sich der Generalist/Hausarzt am besten. Wenn die kurative Behandlung nicht mehr möglich ist, übernehmen sie auch meistens die Aufgabe der Palliation zur Verbesserung der Lebensqualität bis hin zum Tod.

Chance neuer Curricula

Der Bedarf an Ärzten steigt in der Schweiz stetig an. Je nach Region wurden deshalb in den vergangenen Jahren über ein Drittel aus dem Ausland rekrutiert. Der Bundesrat hat reagiert: Ab 2017 muss die Zahl der Studienplätze erhöht werden. Die Universitäten Luzern, St. Gallen und Tessin bieten neu ein Joint Master-Programm an. So ergibt sich die Chance, ein Curriculum entsprechend der heutigen Bedürfnisse anzupassen. Im gemeinsamen Programm der Universitäten Zürich und Luzern wird der Fokus auf die Ausbildung als Generalist gelegt. Eine kleine Kohorte von 40 Studierenden wird persönlich und patientennah ausgebildet. Dadurch erhofft man sich, das Interesse der Studierenden für die anspruchsvollen, oft detektivischen Aufgaben (Differentialdiagnose) zu wecken und die Basis für eine solide, klinische Medizin, insbesondere das clinical reasoning, legen zu können.

Personalisierter beruflicher Einsatz

Für den Grossteil der neuen Generation von Ärzten ist die Work-Life-Balance zentral und deshalb eine Teilzeitanstellung wünschenswert. Innovative Arbeitsmodelle sind darum gefragt. Dies bedeutet gleichzeitig allerdings eine Herausforderung für die Arbeitgeber, insbesondere im stationären Setting. Einzelpraxen weichen Gruppenpraxen oder Ambulatorien, die Ärzte verschiedenster Fachrichtungen mit Teilzeitpensen anstellen. In den Spitalambulatorien werden mehr und mehr Teilzeitstellen geschaffen. Hingegen im stationären Bereich ist die Kontinuität der Patientenbetreuung zentral, und entsprechend etablieren sich Teilzeitmodelle nur schwer. Auch Teilzeitprogramme beinhalten meistens Schichteinsatz, was von den jungen Müttern und ihrem Umfeld grosse Flexibilität in der Kinderbetreuung verlangt.

Digitalisierung erleichtert die Arbeit

Die Digitalisierung wird eine Erleichterung bringen. Die Datensammlung wird dank intelligenter Archivierungs- und Suchprogramme vollständig und einfach, das Diktieren mit Spracherkennung speditiv. Dies bedeutet Zeitersparnis, Zeit für andere Tätigkeiten und wohl auch eine Reduktion des Informationsverlusts in der Betreuung von polymorbiden Kranken und Polypharmazie.
Radiologen beurteilen im Lauf eines Berufslebens angeblich mehrere Millionen Bilder, Dermatologen über 200 000 Hautveränderungen. Computer sind bereits heute fähig, in kurzer Zeit und nicht erst durch Erwerb von jahrzehntelanger Erfahrung ein Röntgenbild oder einen Hautbefund korrekt zu interpretieren. Entscheidungsunterstützende Systeme werden in Zukunft dem Generalisten die Arbeit wesentlich erleichtern und bieten zudem eine Chance, sich mit den modernen Hilfsmitteln zu profilieren. Zudem öffnen sich benutzerfreundliche Fortbildungsmöglichkeiten. Deshalb sollten in der Ausbildung der Generalisten die neuen Tools eingesetzt und der Nutzen vermittelt werden.

Missverhältnis zwischen den Tarifen korrigieren

Zur Steuerung der Anzahl Studierenden in der generalistischen Medizin, insbesondere im ambulanten Bereich, sind weitere Massnahmen notwendig. Das Missverhältnis zwischen den Tarifen für Tätigkeiten der Spezialisten im Vergleich zu den Grundversorgern, obwohl Spezialisten fürs Komplexe, ist aktuell zu gross!
Prof. Verena Briner (rechts im Bild) blickt auf eine langjährige Erfahrung in der Weiterbildung von Generalisten zurück. (Foto zvg).

Zur Person

Prof. Dr. med. Verena Briner, FRCP, war viele Jahre Chefärztin und Leiterin des Departments Medizin am Luzerner Kantonsspital. Seit ihrer Pensionierung ist sie wissenschaftliche Beraterin und Projektleiterin des Joint Master Medizin-Programms der Universitäten Luzern und Zürich. Seit 2017 ist Verena Briner Mitglied des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrates.
Bruno Schmucki
Kommunikation, SGAIM, Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere ­Medizin
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