Standespolitische Arbeit von mfe zeigt Wirkung

Tarifeingriff – Ziel bleibt die partnerschaftliche Gesamtrevision

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2017/21
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01668
Prim Hosp Care (de). 2017;17(21):402-404

Affiliations
a Geschäftstelle mfe, b Vorstand mfe

Publiziert am 08.11.2017

Nun ist er also in seinen Details bekannt, dieser zweite sogenannte Tarifeingriff des Bundes. Er wurde dieser Tage erwartet, war seit langem angekündigt und seit noch längerem angedroht, weil die Tarifpartner sich nicht einigen konnten, weder auf die bei der Ein­führung eigentlich vorgesehenen schrittweisen An­passungen noch auf eine Gesamtrevision des von ­Anbeginn an schiefen Tarifwerks Tarmed. Keine Überraschung also. Obschon die Behörden im Nachgang zur Vernehm­lassung noch einzelne Korrekturen am ­Vorschlag vorgenommen haben und der Ärzteschaft in manchen Teilen entgegengekommen sind, fallen die Reaktionen auf das «Diktat aus Bern» fast unisono kritisch bis empört aus. Auch keine Überraschung.
Die Erhöhung der Produktivität der OP-Sparten, die Senkung der Kostensätze in gewissen Sparten und die Korrektur (nach unten) der Minutagen zahlreicher Handlungsleistungen treffen einzelne Fachrichtungen auch tatsächlich empfindlich, das steht ausser Frage. Aber liegt der Bundesrat damit auch zwangsläufig falsch? Auch wenn er in vielen Fällen stichhaltige Begründungen und genaue Zahlen für die Korrekturen vermissen lässt: Grundsätzlich daneben liegt er mit seinen Korrekturen gewiss nicht.
Der Eingriff ist insgesamt nicht sachgerecht, wir sehen das auch so. Er hat zahlreiche Fehler, auch die haben wir an verschiedenen Stellen ausführlich dargelegt [1]. Den Tarif macht er aber an einigen Stellen sach­gerechter.
mfe hat seit Jahren auf Fehler im Tarif hingewiesen und unter anderem die Überprüfung von Minutagen und Spartenkalkulationen verlangt – die Finanz­kontrolle des Bundes übrigens ebenfalls –, und auch die Tarifpartner sind sich schon lange einig, dass der Tarmed nicht mehr stimmt. Wenn jetzt einzelne Fachrichtungen, ihnen zugehörige Kolleginnen und Kollegen und auch Versicherer laut protestieren, ist das aus ihrer Sicht zwar verständlich. Was der Bundesrat jetzt hingegen präsentiert, ist aber doch auch und vor allem das Resultat jahrelanger Blockaden. Und dieser Bundesrat schlägt einige tarifpolitische Pflöcke ein. Aus Sicht der in der Praxis tätigen Haus- und Kinderärzte ist einer zentral: Die Vereinheitlichung der quantitativen Dignitäten.

Dignitätsfaktor aller Leistungen wird ­vereinheitlicht

Nicht jede ärztliche Leistung ist heute im Tarmed gleich viel Wert. Für Grundleistungen mit der Dignität FMH 5 (Konsultation, Beratung, Telefon, Berichte) werden die hinterlegten Taxpunkte mit 0,905 (sog. Quantitative Dignität) multipliziert, während FMH-12-Leistungen mit einem Faktor von 2,5 gewichtet werden. Nun hebt der Bundesrat diese unsachgerechten Unterschiede also auf. Er setzt für alle ärztlichen Leistungen den gleichen Faktor ein. Dieser liegt ab 1. Januar 2018 bei 0,985. Während Leistungen mit den Dignitäten FMH 6 und darüber künftig also tiefer bewertet werden als heute, werden dank der Nivellierung alle FMH-5-Leistungen (Grundleistungen) um 8,8 % aufgewertet. Zum zweiten Mal nach 2014 («Hausarztzuschlag») bringt diese Massnahme eine spürbare Verbesserung der haus- und kinderärztlichen Einkommen. Die Angleichung der quantitativen Dignitäten hatte mfe seit Einführung des Tarmed verlangt. Die Anpassung war überfällig, weil die zur Begründung der Unterschiede seiner Zeit angeführten Hungerjahre längst der Vergangenheit angehören. Während der Paradigmenwechsel hin zur Gleichwertigkeit aller ärztlichen ­Leistungen richtig und wichtig ist, ist hingegen nicht einzusehen – und mfe hat das wiederholt kritisiert – dass der Bundesrat den Faktor nicht auf dem rechnerisch korrekten Wert von 1,0 festlegt. Er liefert dafür keine nachvollziehbare Begründung. mfe hält deshalb weiterhin an seiner Forderung nach der Einebnung der Dignitäten bei 1,0 fest.
Andere Eingriffe betreffen auch die Grundversorger negativ; insbesondere die Limitationen, die, wir haben es immer wieder betont, in einem Tarifwerk nichts verloren haben.

Limitationen gelten auch für elektronisch abrechnende Fachärzte

Der Bundesrat hält an seinem Konzept der Limitationen fest, wie er es bereits anlässlich der Vernehm­lassung vorgestellt hatte. Vorauszuschicken ist, dass ­Limitationen nichts Neues sind. Sie sind im Tarmed hinterlegt, nur waren die elektronisch Abrechnenden bisher davon befreit. Ab 1. Januar 2018 werden also die Limitationen im Tarmed aktiviert, zum Teil verschärft, zum Teil gelockert. Die massive Kritik aus der Ärzteschaft, unter anderem von mfe, hat den Bundesrat dazu bewogen, die Verschärfung der Limitationen für Kinder unter sechs und ältere Menschen über 75 Jahren sowie für alle Patienten mit erhöhtem Bedarf ­rück­gängig zu machen und gegenüber Tarmed sogar zu ­lockern (Konsultation, Besuch, Telefon, kleiner ­Untersuch, Beratung, Information, Instruktion, Über­wachung). Die Konsultation darf in diesen Fällen bis 
30 Minuten dauern, die Leistung in Abwesenheit gleich lang wie heute. Bei Patienten mit erhöhtem Bedarf wird einzig verlangt, dass die «Leistungserbringer dies in der Patientenakte eintragen und gegenüber dem Versicherer begründen können» müssen, auf die ­Einholung einer Kostengutsprache wird verzichtet. Aufgrund der uns vorliegenden Statistiken geht mfe davon aus, dass die in unseren Augen unsinnigen Limitationen unsere Arbeit in vielen Fällen erschwe­ren und sinnvolles interprofessionelles Zusammenar­beiten verhindern, die meisten Patienten aber davon nicht betroffen sein werden.
Hausärzte Schweiz

Leistungen in Abwesenheit werden limitiert

Die Position «Leistung in Abwesenheit des Patienten» wird, wie vom Bundesrat geplant und angekündigt, aufgeteilt auf mehrere separate und genauer umschriebene Positionen. Damit will der Bundesrat erreichen, dass die Leistungserbringer transparent ausweisen, was sie gemacht haben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, stossend ist, dass der Bundesrat die – ebenfalls schon alte – Forderung von mfe nicht berücksichtigt hat, ausdrücklich auch vom Versicherer verursachte Leistungen abzubilden. Nebst mehr Transparenz wollen die Bundesbehörden die Abrechnung von Leistungen in Abwesenheiten aber auch begrenzen. Sie argumentieren hier mit der insbesondere nach dem ersten Tarifeingriff 2014 festgestellten Volumenzunahme bei Leistungen in Abwesenheit. Die Massnahme: Die heute (sprich im jetzigen Tarmed) hinterlegte Limitation von 60 Minuten für Leistungen in Abwesenheit pro Quartal und Patient wird halbiert auf 30 Minuten. Dass der Bundesrat hier einen Hebel zur Korrektur ausgemacht hat, ist nicht weiter erstaunlich, dass er dabei aber mit dem Rasenmäher und ungeachtet jeglicher Verursacherlogik alle Fachbereiche gleichermassen «bestraft», ist störend. Auch hier hat sich mfe nach Kräften gewehrt. Immerhin hat der Bundesrat analog zur Limitatio bei den Konsultationen die Anwendungsregeln gelockert: Sowohl für Kinder unter sechs wie für Ältere über 75 Jahren und in begründeten anderen Fällen stehen 60 Minuten pro Quartal für Leistungen in Abwesenheit zur Verfügung. Die Begründungen müssen auch hier in der Patientenakte festgehalten werden, so will es die Verordnung.

Die Interpretation der Notfallzuschläge wird präzisiert

Die bis anhin geltenden Kriterien für die Notfall-Inkonvenienzpauschale A (Mo-Fr 7–19, Sa 7–12) werden ergänzt um ein weiteres Notfallkriterium. Es besagt, dass ein Notfall dann vorliegt, wenn «eine Störung der vitalen Funktionen vorhanden, zu befürchten bzw. nicht auszuschliessen» ist. Und weiter: «Die Position ist auch abrechenbar bei Patienten, bei denen eine akute Erkrankung, ein Trauma oder eine Vergiftung eine ­Organschädigung hervorrufen oder zu Folge haben können.» Der Bundesrat hält explizit fest, dass die ­Kriterien nicht an der Diagnose, sondern an der ersten Beurteilung durch den Arzt festzumachen ist, also ex ante. Schon die geltenden Definitionen («Der Facharzt erachtet die Konsultation als dringend nötig und widmet sich ohne Verzug dem Patienten») lassen einen ­gewissen Interpretationsspielraum zu, was nach ­Angaben von Versicherern und BAG zu einem sehr gross­zügigen Gebrauch dieser Pauschalen durch ­Insti­tutionen, die sich speziell auf Notfälle und Walk-in-Patienten ausrichten, geführt habe, denen durch Notfälle gar keine Inkonvenienz erwächst, ganz im ­Gegensatz zur laufenden Praxis. Der Bundesrat wollte diesen Notfallzentren ursprünglich den Notfallzuschlag verwehren, was bekanntermassen zu massiven Protesten geführt hat, deren Folge die jetzt vorliegende Neudefinition des Notfalls ist. Schlussendlich obliegt die Definition des Notfalls weiterhin dem ­betreuenden Arzt. Mit der neuen Definition ist mit ­vermehrten Nachfragen von den Versicherern zu ­rechnen. Wir werden wahrscheinlich öfters als bisher eine Begründung für die Anwendung der Pauschale liefern müssen.

An der partnerschaftlichen ­Gesamtrevision führt kein Weg vorbei

Eine Änderung betrifft auch die Handlungsleistungen (Untersuchung durch den Facharzt für Grundver­sorgung bzw. Kinder- und Jugendmedizin). Sie werden durch Zeitleistungen pro 5 Minuten ersetzt. Für die Haus- und Kinderärzte bringt dieser Tarifeingriff also einige Veränderungen mit sich. Die Auswirkungen des Eingriffs sind im Einzelnen aber noch nicht ­abschätzbar und hängen auch stark von der Praxis­struktur und dem bisherigen Abrechnungsverhalten ab. Da werden also der Praxisalltag und die Erfahrungen zeigen müssen, wie mit den neuen Rahmenbedingungen umzugehen ist. Fest steht jedoch, dass die ­allermeisten Leistungen, die von Haus- und Kinderärzten erbracht und abgerechnet werden, dank der ­Anhebung der quantitativen Dignität um 8,8% höher entschädigt werden. Bereits heute können wir also feststellen, dass sich der Bundesrat zum zweiten Mal nach der Einführung des Hausärztezuschlags 2014 für eine spürbare Aufwertung der Grundversorgung ausgesprochen hat – und das notabene in einer gesundheitspolitischen Grosswetterlage, in der die Narrative von Kostenexplosion und Spardruck dominieren.
Dahinter steckt harte standespolitische Arbeit, jahrelang geleistet auf ganz unterschiedlichen Ebenen, in fachtechnischen wie in politischen Gremien, auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene, mit Behörden und Stakeholdern unterschiedlicher Couleur. ­Dabei ist es offenbar ganz ordentlich gelungen, den vielfältigen Wert einer qualitativ hochstehenden und flächendeckenden haus- und kinderärztlichen Versorgung ebenso aufzuzeigen wie die negativen Folgen von ­deren jahrelanger tarifarischer Benachteiligung, auch und gerade für die Nachwuchsarbeit. Diese gute Positionierung gibt der Hausarztmedizin auch für die weiteren Aufgaben und die noch immer offenen Forderungen den nötigen Rückhalt. Den wird es brauchen, denn noch sind wir von den eigentlichen Zielen ein gutes Stück entfernt. Die lauten auch für mfe: Erstens ­sachgerechte Revision des gesamten Tarifs, zweitens raschestmögliche Zurückgewinnung der Tarifautonomie.
Aktuell überwiegt das Positive: Der Bundesrat hat mit dem Tarifeingriff einen Paradigmenwechsel bei der Bewertung ärztlicher Arbeit statuiert. Jede fachärzt­liche Arbeit ist gleich viel wert. Die Haus- und Kinderärzte tun aber gut daran, sich nicht auf teilweise ungewissen und kurzfristigen Erfolgen auszuruhen und stattdessen mit der nötigen Portion Selbstbewusstsein und dem nüchternen Blick fürs Ganze das Revisionsprojekt Tarco zusammen mit der gesamten Ärzteschaft nach Kräften zu unterstützen.
Alle Details zum Tarifeingriff finden Sie im Faktenblatt des BAG: www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/versicherungen/­krankenversicherung/krankenversicherung-leistungen-tarife/Aerztliche-Leistungen-in-der-Krankenversicherung/Tarifsystem-Tarmed.html. Die FMH hat ebenfalls eine Zusammenfassung der wesentlichen Punkte des Eingriffs zusammengestellt.
Sandra Hügli-Jost
Kommunikations­beauftragte mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz, Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
Sandra.huegli[at]hausaerzteschweiz.ch
Rielle Y. Jetzt liegt der Ball wieder bei uns. Prim Hosp Care. 2017;17(16):304–5. Internet: www.primary-hospital-care.ch/de/article/doi/phc-d.2017.01633