«Psychische Krankheiten führen oft zu Arbeitslosigkeit»
Grosse Kluft zwischen Arbeit und Gesundheit

«Psychische Krankheiten führen oft zu Arbeitslosigkeit»

Editorial
Ausgabe
2017/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01674
Prim Hosp Care (de). 2017;17(22):0

Affiliations
Projektleiter, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)

Publiziert am 21.11.2017

Psychische Probleme sind ein wichtiges Thema, nicht nur aus medizinischer, sondern vor allem auch aus ­sozial- und arbeitsmarktpolitischer Sicht. Es ist ein Thema, das unsere Gesellschaft viel kostet – konservative Schätzungen sprechen von 4% des Bruttosozialprodukts, noch ohne Berücksichtigung der Auswirkungen auf Mitarbeiter und Familienangehörige – und ein Problem, zu dessen Lösung vor allem zwei Personengruppen einen zentralen Beitrag leisten müssen: Arbeitgeber und Ärzte. Das liegt auf der Hand, führt aber in der Realität zu grossen Problemen, weil Ärzte und Arbeitgeber oftmals nicht an einem Strang ziehen und wenig voneinander wissen und daher zu oft selbst zu problematischen Situationen anstatt zu effektiven Problemlösungen beitragen.
Die hohen wirtschaftlichen Kosten haben zwei Ursachen. Zum einen sind psychische Krankheiten weit verbreitet – einer von fünf Erwachsenen leidet ­unter einer solchen Krankheit, mehrheitlich Angst­störungen und Depressionen. Die hohe Prävalenz bedeutet, dass sich jeder Arbeit­geber mit diesen Themen beschäftigen muss. Zum anderen gelingt es uns nicht, psychisch Kranke effektiv in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Psychische Krankheiten führen oft zu Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit oder verhindern, dass Betroffenen ein Arbeitsmarkteinstieg gelingt. Jene, die einen Job haben, sind mit grossen Problemen konfrontiert, mit hohen Leistungseinbussen und häufigen, oftmals auch langen Absenzen.
Hier kommen die Arbeitgeber und Ärzte ins Spiel. Beide Seiten meinen es gut mit ihren Mitarbeitern resp. Patienten, aber das Ergebnis für die Betroffenen ist oft ernüchternd. Arbeitgeber sind überfordert, bräuchten Hilfe, die sie aber nicht bekommen und oftmals auch nicht suchen, und neigen auch bei gutem Willen dazu, Probleme durch Kündigungen loszuwerden. Ärzte wiederum, praktische Ärzte ebenso wie Psychiater, tragen durch oft sehr lange und zu leicht zu bekommende Arbeitsunfähigkeitszeugnisse dazu bei, dass ­Arbeitnehmer mit psychischen Problemen ihren Job verlieren oder den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Kontakt zwischen Arbeitgeber und Arzt besteht praktisch nicht, obwohl ein derartiger Kontakt vieles klären könnte. Das erklärt sich auch durch unterschiedliche Sichtweisen und einem von unproduktiver Suche nach Schuldigen geprägten Spannungsfeld: Macht Arbeit psychisch krank oder sind psychisch kranke Arbeitnehmer faul und schwierig?
Diese Fragen helfen nicht weiter. Wir wissen von (wenn auch viel zu wenigen) wissenschaftlichen Untersuchungen ungefähr, wie wir mit psychischen Pro­blemen umgehen sollten. Wir wissen, dass rasche, ­integrierte und begleitende Intervention nahe am ­Arbeitsplatz die beste Antwort wäre, um psychisch Erkrankte im Job zu halten oder rasch wieder dorthin zu führen. Und wir wissen, dass Absenzen, die länger als zirka sechs Monate dauern, fast sicher zu dauerhafter Erwerbslosigkeit und dem Verlust wichtiger sozialer Kontakte führen. Dieses Wissen machen wir uns in der Realität aber nicht ausreichend zunutze, weder in der Schweiz noch in anderen OECD-Ländern.
Die Kluft zwischen Arbeit und Gesundheit ist immer noch gross, obwohl die Zusammenarbeit zwischen ­Arbeitgebern und Ärzten und zwischen Gesundheits­wesen und Arbeitsmarktakteuren zentral wäre. Die handelnden Akteure haben nicht die notwendigen ­Anreize, um Probleme gemeinsam mit denselben ­Zielen anzugehen. Eine bessere «Anreizarchitektur» für Betroffene, Arbeitgeber, Ärzte, Krankenversicherer und Anbieter von Unterstützungsleistungen wäre wichtig, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Die Ausgangslage in der Schweiz ist grundsätzlich gut, weil das Thema weniger stark stigmatisiert ist als in vielen anderen Ländern, und weil es seit einigen Jahren einen neuen, vertieften Diskurs gibt, der Ärzte und Arbeit­geber einbezieht. Einzelne Betriebe gehen mit vielversprechenden Programmen voraus; jetzt ist es wichtig, ein System zu etablieren, das alle, auch kleine Betriebe, effektiv unterstützt und involviert.
Christopher Prinz
Senior Economist
Organisation for Economic Co-operation and ­Development, OECD
Paris, FR
christopher.prinz[at]oecd.org