Von lebhafter und stiller Freude
Weihnachten im Spital

Von lebhafter und stiller Freude

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Ausgabe
2017/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2017.01683
Prim Hosp Care (de). 2017;17(23):452-454

Affiliations
a Psychosomatik Universitätsspital Basel, Präsident der ref. Leitungskommission Spitalseelsorge 1994–2011; b Spitalseelsorgerin am Universitätsspital Basel

Publiziert am 06.12.2017

Vorbemerkung

Zunächst muss gesagt werden, dass der Verfasser sich versteht als jemand, der letztlich in einer christlichen Tradition aufgewachsen ist, von daher ist der Blick auf Weihnachten ein spezifischer und es werden Aspekte fehlen, die jemandem ins Auge fielen, dem zum Thema Weihnachten nicht «Ich steh an deiner Krippen hier’» und der Duft von Gutzis, Bienenwachs und Tannengrün einfällt.
An Weihnachten wird es ruhiger im Spital, und auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise friedlich auf den sonst so hektischen Gängen. An Weihnachten auf die Station zu gehen und Patienten/-innen als Seelsorgerin zu besuchen, ist immer von einer besonderen Stimmung geprägt. Weihnachten berührt die innersten Sehnsüchte nach Frieden, erfülltem, sinnerfülltem Leben, nach Liebe, Freude, Gemeinschaft und Geborgenheit. Es wird spürbarer, was fehlt im Leben. Die Menschen scheinen dann noch eine Spur dünnhäutiger.
Weihnachten wird propagiert als Fest der Liebe, was neben den merkantilen Interessen derer, die etwas verkaufen wollen, was zum Geschenk taugt, einen Aspekt hervorhebt, der für das Thema Weihnachten im Spital insofern wichtig sein könnte, da die Liebe als das beste Mittel gilt, um die Leere des Alleinseins abzumildern [1]. Liebe ist allerdings ein ausgesprochen vielseitiger Begriff, dessen mögliche Tiefe gerade zum Weihnachtsfest aus meiner Sicht verstellt ist durch die Engführung auf die Freude ausschliesslich über ein Geschenk.

Die lebhafte Freude

Von daher wäre vielleicht eine Zuordnung des Weihnachtsfestes zur Freude eher hilfreich: Freude verstehe ich mit Schmitz [2] als ein Ergriffensein von einem Gefühl, das in erster Linie mit einer körperlichen Leichtigkeit verknüpft ist; der von Freude Erfasste möchte hüpfen und springen, Freude hat etwas eindeutig aufwärts Gerichtetes, etwas «Lupfiges». Das Springen auf ein Ziel hin (am Netz beim Volleyball­spielen zum Beispiel) ist anstrengend, das Hüpfen vor Freude überwindet die Schwerkraft ohne Mühe. Weiter besonders an der Freude ist das Ansteckende, daher freut es sich einfacher in Gesellschaft. Gegen das Infektiöse einer freudigen Stimmung kann man sich natürlich zur Wehr setzen, wenn man zum Beispiel findet, dass aus ­bestimmten Gründen jetzt kein Anlass zur Freude besteht. Aber man stellt dann fest, dass man sich der Freude der Mitmenschen aktiv entgegenstemmen muss.
Gerade an unserem Sprachgebrauch im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest kann man eine weitere Besonderheit feststellen: Sein Jubiläum kann man (auch) begehen, Weihnachten muss man feiern! Das Festliche an Weihnachten verweist wiederum auf das Besondere des Gemeinsamen, auf die Qualität ­einer geteilten Freude. So könnte auch grundsätzlich das Schenken seine Bedeutung erhalten: Wir schenken (hoffentlich) im Wesentlichen, um Freude zu machen und geniessen es, das Erwachen der Freude im Gesicht des Beschenkten zu sehen, wenn sich das Geschenk aus dem Papier herausschält.
In christlicher Tradition entsteht das Freudige aus der Freude über die Geburt eines Kindes. Die Weihnachtsgeschichte erzählt vor allem, wie diese Freude die himmlischen Heerscharen, die Hirten auf dem Felde und die drei Weisen aus dem Morgenland erfasst – ein grosses gemeinsames Jubilieren setzt ein.
Weihnachten im Spital ist in vieler Hinsicht das Gegenteil dieses gemeinsamen Erlebens – es ist tendenziell einsam und womöglich bitter. Wie intensiv die Bitternis des «Nicht-zu-Hause-Seins» mit der Familie ist, hängt natürlich davon ab, auf wieviel Süsse und Gemeinschaft jemand verzichten muss, wenn er im Spital bleibt; nicht bei den Anderen sein zu müssen, kann auch Erleichterung sein.
Im Verständnis der Freude als eine den ganzen Leib erfassende aufwärts gerichtete Kraft enthalten ist eine Voraussetzung zum Empfinden intensiver Freude: Die Person muss über genügend Vitalität verfügen, um diesen realen oder nur empfundenen Luftsprung vollziehen zu können. Genau diese Vitalität fehlt dem, der nicht nach Hause gehen kann über Weihnachten, weil er zu krank ist für eine Entlassung. Nicht umsonst ­sagen wir von einem Schwerkranken: «X ist so schwach, dass er sich nicht mal mehr freuen konnte.» Die Blumen des Besuchers werden mit matter Geste und ­müdem Gesichtsausdruck entgegen genommen; «Stell‘ sie nur auf den Tisch!» ist nicht ein Zeichen für das Anspringen des vitalen Antriebs des Beschenkten.
Weihnachten im Spital ist also aus mehrfacher Hinsicht problematisch. Es nimmt den Kranken aus der Umgebung heraus, die für das Erleben von Freude im günstigen Fall besonders förderlich ist: Der Kontakt zu seiner Familie. Und es stösst ihm in einem Moment zu, in dem er selber nur schlecht in der Lage ist, Freude überhaupt zu empfinden, weil ihm die Kraft fehlt, seine Lebensgeister in das Empfinden der Freude zu ­investieren.

Die Ankunft des Neuen – ein Verweis auf den Strom der Zeit

Zumindest für Patienten und Patientinnen, die sich auf die christliche Tradition der Freude am neu geborenen Kind einlassen können, liegt vielleicht ein Ausweg aus diesem doppelten Dilemma aus Einsamkeit und fehlender Lebenskraft darin, dass sie sich darauf besinnen, dass die Ankunft des immer wieder Neuen, die sich in der Geburt eines Kindes manifestiert, dem ­eigenen endlichen Leben eine Schicht des stetig Dahinströmenden unterlegt, den unendlichen Lauf der Zeit «von Ewigkeit zu Ewigkeit», auf dessen Oberfläche das ­Tagesgeschehen nur mitschwimmt. Dieser Aspekt ist einerseits tröstlich, weil er auf ein Geschehen verweist, das weit über unser Leben hinausgreift und dem wir anheimgestellt sind, er ist andererseits womöglich schwer zu ertragen, weil die Freude über das Neue versetzt ist mit der akzentuiert zu Tage tretenden Gewissheit der Zeitlichkeit des eigenen Seins. Mit diesem ­Aspekt der Zeitlichkeit meine ich: Es geht nicht um Sein oder Nicht-Sein (Leben und Tod), sondern um das Besondere unseres Seins als eines Seins auf Abruf, von der Geburt bis zum Tod.

Die stille Freude

Wenn wir davon ausgehen, dass es dem Kranken an der Kraft fehlt, sich mit lupfiger Freude zu äussern, dann stellt sich die Frage, ob vielleicht die stille Freude eine mögliche Empfindung wäre, die ihm oder ihr zur Verfügung stünde?
Wir haben Freude oben dargestellt als eine Aufwärtsbewegung am eigenen Leib, die vor allem in gemein­samen Situationen entsteht, die Freude des Anderen strahlt zurück auf den Einzelnen, das gemeinsame ­Singen (von Weihnachtsliedern) verstärkt die Intensität der gemeinsamen von freudiger Leichtigkeit erfüllten Situation.
Ich glaube, dass die Qualität der stillen Freude eine grundsätzlich andere ist als die der «typischen» Freude; sie wird durch Gemeinschaft womöglich eher gestört, bedarf der inneren Einkehr und nicht des miteinander Feierns. Sie hat eher etwas Schwebendes, und eine Langsamkeit. Anstelle der aufwärts gerichteten Bewegung des Hüpfens und Springens (oder bei Älteren des Hüpfen-Mögens …) imponiert eine seitwärts gerichtete Bewegungstendenz, wir sagen zum Beispiel: Eine stille Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus. Die Freude über ein Geschenk, über ein unerwartetes Lob entsteht schnell und hat die Tendenz, schnell wieder abzuflauen. Die unerwartete Mitteilung, man habe als lange in einem Betrieb Beschäftigter Anspruch auf Extra-­Urlaub oder Geldleistungen ist für den Moment wunderbar, sie hat jedoch meist keine lang anhaltende hebende Wirkung auf die eigene Stimmung. Stille Freude ist weniger einem besonderen Moment zuzuschreiben und daher durch einzelne Impulse nicht auszulösen.
Spitäler versuchen häufig, eine Minimalvariante der gemeinsamen Situation zu erzeugen, indem sie an ­typische Rituale anknüpfen, die sich (ausgerechnet) in den stilisierten Geschenk-Päckli zeigen, die an die Wände der Stationsflure geklebt werden, zusammen mit Sternen, Lichterketten und womöglich einem ­Tannenbaum an zentraler Stelle. Mich würde sehr interessieren, wie Patienten und Patientinnen unsere Bemühungen wahrnehmen und was sie eigentlich vermissen. Ich kenne keine entsprechenden Daten, würde aber vermuten, dass die Dekorationsbemühungen so unpersönlich sind, dass sie Patienten und Besucher nur schwach an die gemeinsame Situation im Kreise der Familie erinnern, auf die sie verzichten müssen. Wenn unsere Bemühungen positive Auswirkungen haben, dann vielleicht dadurch, dass wir im Spital widerspiegeln, was ausserhalb des Spitals stattfindet – das Spital inszeniert sich als Teil der Welt. Wenn unsere Bemühungen negative Auswirkungen haben, dann wohl vor allem dadurch, dass der Unterschied zwischen dem, was «eigentlich» Weihnachten für den Einzelnen bedeutet und dem, was wir ihm oder ihr davon bieten können, besonders drastisch ins Auge fällt.

Weihnachten im Spital für Patienten aus anderen Ländern

Vieles von dem bisher Gesagten bezieht sich auf Pa­tientinnen, die in einem christlich geprägten Land aufgewachsen sind. Ich formuliere das absichtlich so, um Menschen einzuschliessen, die in der Schweiz leben, aber zum Beispiel jüdischen Glaubens sind. Einige berichten, dass sie auch ohne den Bezug auf die Geburt Christi an der Festlichkeit und an der freudigen Stimmung partizipieren. Menschen, die in Armut leben, werden wahrscheinlich besonders deutlich spüren, dass ihnen die Möglichkeit versagt ist, durch Geschenke Anderen die Freude zu bescheren, die an den Moment des Schenkens und des Erhaltens von Geschenken geknüpft ist. Ihnen zu empfehlen, sich doch auf die stille Freude einzulassen, wirkt womöglich ­zynisch, wenn es von jemandem gesagt wird, der es sich leisten kann, lupfige Freude zu schenken.

Welche Vorschläge liessen sich für ­Fachpersonen ableiten?

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich zwei Handlungsfelder: Interventionen, die sich auf die Restitution der lupfigen Freude konzentrieren und Inter­ventionen, die darauf abzielen, eine stille Freude zu ermöglichen.
Die lebhafte Freude ist, wie wir gesehen haben, an Gemeinschaft gebunden und an eine ausreichende Vitalität. Letztere wird in dieser Situation in erster Linie von der Erkrankung bestimmt und ist daher kurzfristig nicht zu beeinflussen. Das Fehlen der Gemeinschaft, bzw. die Einsamkeit liesse sich unter Umständen durch das Angebot einer Begleitung mildern, beispielsweise durch gemeinsames Singen oder gemeinsames Erleben von Musik. Gegen den Einwand, dass die typische Weihnachtsmusik, die in einigen Spitälern von einem Chor oder einem Bläser-Ensemble angeboten wird, ihren Zauber aus dem Bezug auf kulturell geprägte Vorerfahrungen erhält, könnte man sagen: Diese Musik ist aus sich heraus so freudig, dass sie auch ohne Kenntnis der Texte oder ohne den Bezug auf das mit christlichen Texten unterlegte Weihnachtsoratorium ihre Wirkung entfaltet.
Wie könnte die Hilfe aussehen für denjenigen, der sich darauf verlassen muss, in stiller Freude Weihnachten zu feiern, weil ihm die Möglichkeiten fehlen, die geteilte aktuelle Freude zu empfinden? Diese Frage ist nach meiner Meinung ausgesprochen schwierig zu beantworten, weil die Quelle der stillen Freude wohl im Innersten einer Person zu suchen ist, sie hat eben keine Ursache (wie das Geschenk, das lupfige Freude auslöst), sondern eine Quelle. Ursachen kommen und gehen, ihre Nachwirkung ebbt ab, Quellen strömen «ewiglich». Ich glaube, dass es schwierig ist, diese Quelle ad hoc zu erschliessen, wenn eine Person überhaupt keine Neigung hat(te), sich mit dem eigenen Empfinden ­geduldig und sorgfältig auseinanderzusetzen. In meinem Verständnis hat das Empfinden stiller Freude ­etwas mit Zufriedenheit zu tun, diese aber wiederum nicht als Zufriedenheit mit etwas konkret Erreichtem, sondern eine umfassende Zufriedenheit, die dem inneren Frieden nahekommt.
Wenn wir jemanden ermutigen, nach einer Quelle der stillen Freude zu suchen, muten wir ihm zu, Bedauern, Trauer, Frustration («ich sollte Weihnachten zu Hause sein, hiess es, und jetzt lieg’ ich immer noch hier!») auf die Seite zu schieben und hinter diesen Gefühlen mit abwärts gerichteter Tendenz nach dem schwebenden (und nicht eindrücklich hüpfenden) Gefühl des «es ist gut so» zu suchen.
Zusammenfassend bleibt wohl die Erkenntnis, dass ein noch so sorgfältiges Erwägen der Möglichkeiten, Pa­tienten im Spital die Weihnachtszeit zu erleichtern, nicht darüber hinweghilft, dass sie letztlich so krank und beeinträchtigt sind, dass sie diese Zeit nicht zu Hause verbringen können – Wehmut und Sehnsucht lassen sich nicht aus der Welt schaffen, aber vielleicht hilft es, ihnen Ausdruck zu verleihen.
Prof. Dr. med.
Wolf Langewitz
Dept. Innere Medizin,
Psychosomatik
Universitätsspital Basel
Hebelstrasse 2
CH-4031 Basel
wolf.langewitz[at]usb.ch
1 Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, System der Philosophie III, Teil 2, Studienausgabe. Bouvier Verlag Bonn, 2005. S. 243.
2 Hermann Schmitz, loc. cit. S. 114ff.