Beachten Sie auch die subjektive Befindlichkeit, nicht nur die medizinischen Probleme

Medical Humanities, down to earth

Editorial
Ausgabe
2018/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01689
Prim Hosp Care (de). 2018;18(04):59

Affiliations
Chefredaktor; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich; Hausarzt in Zug

Publiziert am 21.02.2018

Die Romandie macht es vor, indem sie ihre medizinischen Curricula in Neuchâtel und Fribourg mit Fächern der Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften anreichert. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften machte schon 2012 die Medical Humanities zum Thema [1]. An deutschen Hochschulen sind ­interdisziplinäre Seminare fest im Ausbildungsplan verankert, wo die Studierenden des Rechtswesens, der Medizin, Wirtschaft, Kunst, Psychologie und Soziologie miteinander ein Thema aus ihren jeweiligen Berufs­perspektiven diskutieren und so ihren Horizont für ­andere Denkweisen öffnen [2]. Die Bedeutung dieser ­Humanities-Fächer für den medizinischen Alltag ist unschwer erkennbar: Ethische Entscheidungen beschäftigen uns häufig; die Reflexion des eigenen Tuns (und der eigenen Rolle) hilft uns, Erfahrungen einzuordnen; die soziale Welt der Patienten in ihrer Erkrankung und deren Bedeutung in der Behandlung ist eminent wichtig.
Soweit so schön. Diese Entwicklung ist wichtig und zukunftsorientiert, und darum visionär. Wir brauchen Leuchttürme für unsere Orientierung. Aber hilft uns diese Weiterentwicklung der Wissenschaften für den Arbeitsalltag? Wie können Sie Ihren Patienten1 «humaner» begegnen? Es folgen einige Vorschläge dazu, gedankensplitterartig.
Stellen Sie Zeit zur Verfügung, trotz Tarif- und Spardruck. Sprechen Sie subjektive Befindlichkeit bewusst an, nicht nur medizinische Probleme. Wie steht der Patient gerade im Leben – im Lot, in Schräglage, instabil? Ein bewusst freundlicher Empfang durch die MPA, das heisst auch mal ein Schwätzchen trotz Zeitdruck beim Verabschieden, kann Wunder wirken. Schon klar, die Tarife belohnen solches Verhalten nicht. Aber die Patienten, die schon.
Springen Sie über den eigenen Schatten und versuchen Sie, die Haltung des Patienten, besonders bei «unbequemen» Präferenzen, zu verstehen und zu akzeptieren. Dafür braucht es immer wieder kritisches Nachdenken über die eigene Rolle und das eigene Handeln. Ein urteilsfähiger Patient darf sich gegen unsere Empfehlung entscheiden, ohne dass wir betupft sind und uns von der Betreuung zurückziehen. Unterstützen heisst nicht nur, Position zu beziehen, sondern auch, sich manchmal zurückzunehmen.
Blenden Sie für einen Moment in der Sprechstunde ­Ihren medizinischen Sachverstand aus, und fragen Sie nach dem aktuell wichtigsten Leiden und den schlimmsten Beschwerden. Versetzen Sie sich in die Lage des Patienten: Was wünschten Sie sich am meisten von Ihrem Arzt? Wie könnten Sie dem Patienten Linderung verschaffen, auch wenn es mit anderen medizinischen Behandlungszielen Konflikte gibt? Dementsprechend: Was wiegt für den Patienten schwerer? Ein Klassiker der patientenzentrierten Medizin bei der Betreuung multimorbider, älterer Patienten.
Schöne Modelle sind nur so gut, wie wir sie in unserer kleinen Welt zum Leben erwecken. Humanity übersetzt als menschliche Zuwendung. Primary and Hospital Care wird in diesem Jahr wiederholt auf solche Themen wie oben skizziert eingehen, mit Bezug auf die praktischen Aspekte in unserer Arbeit.
Ihr guter Vorsatz fürs 2018 könnte lauten, Medical Humanities für Ihre Patienten und sich selbst spürbar zu machen.
Dr. med. Stefan Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
sneuner[at]bluewin.ch