Als ich das letzte Mal zu ihm auf Hausbesuch fuhr, hat mich die Szene beinahe überwältigt, und ich bin auf der kleinen Anhöhe, wo der Weg zum Hof abzweigt, mit dem Auto kurz stehen geblieben, sah plötzlich mit den Augen des «Alten» das Haus und die Scheune, die Schafe verstreut oben am Hang, als hätte sie jemand gemalt. Fast kitschig, dachte ich mir, und ich war plötzlich dem alten Bauern so nahe und weit weg von Kliniken, Daten, von der ganzen gescheiten Maschinerie, die das Leben der chronisch Kranken verbessern möchte. Ich dachte mir, gut, Du bist jetzt ein alter Hausarzt, vielleicht zu alt für diese Welt, und Deine Zeit geht zu Ende. Aber ich möchte doch noch einmal ein Plädoyer halten für das Prinzip Chaos und gegen die Übermacht von Formularen, Strukturen und Daten. Ich hoffe, dass die nächste Generation nicht nur Kopf-Medizin betreibt, sondern auch «das Herz und den Bauch arbeiten lässt», indem sie auf die eigene Erfahrung und Intuition vertraut. Ich bin durchaus einverstanden, es braucht neben den Haus- und Spezialärzten die anderen Netzwerker, also gemischte Teams, und natürlich die Familien. Aber es braucht im Epizentrum des Geschehens eine Ärztin, einen Arzt mit Herz, jemand, der mit dem Patienten den holperigen Weg des chronisch Kranken geht, ihn schubst, wenn es nötig ist, ihn bremst, wo es zu viel ist, ihn auch einmal konfrontiert und immer wieder sein Fürsprecher ist. Dabei kann es nicht darum gehen, den Blutdruck, das HbA1c, das Gewicht und dergleichen als alleinige Parameter für ein gutes Leben zu werten. Nein, es müssen immer wieder die wichtigen Fragen an den Patienten gestellt werden, wieviel Medizin sein soll, wo er selbst Grenzen setzen möchte, manchmal sogar, wo er sich im vollen Bewusstsein medizinisch etwas Falsches zu tun, für das Falsche entscheidet! Das meine ich mit Chaos-Prinzip: Sich auch einmal mit dem Patienten zusammen trauen, gegen den medizinischen Strom zu schwimmen. Auch einmal Unordnung und eine medizinische Verschlechterung in Kauf nehmen – natürlich nur, wenn das Bündnis mit dem Patienten tragfähig ist. Seine Autonomie respektieren, seine Widerstände ernstnehmen, seine Macken akzeptieren, aber auch zur eigenen ärztlichen Meinung stehen, wenn es die Umstände verlangen. Dies alles geht auf keine Formulare, lässt sich nicht standardisieren. Chronisch Kranke sind nicht Schokolade, die man in eine Form giesst, damit ganze Regale von Osterhasen entstehen, von denen einer wie der andere aussieht. Und selbst älter werdend, verbitte ich mir jetzt schon «prophylaktisch», dass ich je in eine Form gegossen werde! Ich möchte dereinst ein alter Mensch sein, der in seiner Ganzheit wahrgenommen wird, mit all seinen Artigkeiten, Kanten und Ecken, und nicht einer, der mit Hilfe von Formularen, Tabellen und Vorschriften in seine einzelnen medizinischen Probleme «zerlegt» wird, damit irgendein Health Manager stolz seine Statistik präsentieren kann, womit er aufzuzeigen glaubt, dass es dem chronisch Kranken besser gehe.