Chronic Care Management und Schoggi-Osterhasen
Chronisch Kranke lassen sich nicht in eine Form giessen

Chronic Care Management und Schoggi-Osterhasen

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Ausgabe
2018/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01726
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(06):107-108

Affiliations
Mitglied der Redaktion, Hausarzt in Ziefen BL

Publiziert am 21.03.2018

Das Ausfüllen von Formularen ist für mich eine lebenslange Plage. Meine Hirnwindungen produzieren eine assoziative und analoge Gedankenwelt, die nicht so recht in Kolonnen, Rechtecke und Tabellen passen will. Das wurde mir wieder einmal mehr bewusst beim Anhören eines an sich gut gemachten und mit Enthusiasmus vorgetragenen Referates zum Thema Chronic Care Management (CCM)! Der Kollege stellte uns vor, wie man chronisch Kranke mit Hilfe von strukturierten Programmen besser begleiten kann. Ich habe, was einem bei innerem Widerstand eben passieren kann, geistig schnell «abgehängt», imaginiere aber immer noch vorbeiflitzende Tabellen. Vielleicht hat unser Kollege recht? Vielleicht lernen wir mit dem Sammeln von Daten wirklich, wie wir es besser machen? Auch die Beteiligung der MPAs finde ich eine gute Idee. Für mich war es aber trotzdem seelenlose, kalte Materie. Dafür lief bei mir das innere Kino mit dem Hauptdarsteller «Otti Hü». Er war Kleinbauer und Wegmacher und ­geniesst jetzt seinen Lebensabend auf der Waldmatte, wo der kleine Hof steht und wo er von seinen «Jungen», der Spitex, der Physiotherapeutin und uns betreut wird. Man kennt das: Ein Patient mit Baustellen von unten bis oben, von hinten nach vorne und von aussen nach innen. ­Künstliche Gelenke, Diabetes, koronare Herzkrankheit, Bauchoperationen, Infekte, die ihn an den Rand brachten, und noch mehr. Genug, um eine halbe Kompanie seines Jahrganges auszurotten. Aber er ist noch da, seine Seele ist nach einer «Reise durch den Tunnel» wieder am Tageslicht! Er schaut mit wachen, glänzenden Augen in seine kleine Welt hinaus und geniesst die Bequemlichkeit ­einer geheizten, gut eingerichteten Wohnung. Er bekommt Besuch vom Hofhund, der ihm ums Bein streicht, und er riecht die Pferde, die Schafe, das gestapelte Brennholz, die Heuballen, all das, was ihm so viel bedeutet.
«Otti Hü», Protagonist in Edy Riesens innerem Kino und sein Patient. Die Publikation erfolgt im Einverständnis des Patienten.
Als ich das letzte Mal zu ihm auf Hausbesuch fuhr, hat mich die Szene beinahe überwältigt, und ich bin auf der kleinen Anhöhe, wo der Weg zum Hof abzweigt, mit dem Auto kurz stehen geblieben, sah plötzlich mit den Augen des «Alten» das Haus und die Scheune, die Schafe verstreut oben am Hang, als hätte sie jemand gemalt. Fast kitschig, dachte ich mir, und ich war ­plötzlich dem alten Bauern so nahe und weit weg von ­Kliniken, Daten, von der ganzen gescheiten Maschinerie, die das Leben der chronisch Kranken verbessern möchte. Ich dachte mir, gut, Du bist jetzt ein alter Hausarzt, vielleicht zu alt für diese Welt, und Deine Zeit geht zu Ende. Aber ich möchte doch noch einmal ein Plädoyer halten für das Prinzip Chaos und gegen die Übermacht von Formularen, Strukturen und ­Daten. Ich hoffe, dass die nächste Generation nicht nur Kopf-Medizin betreibt, sondern auch «das Herz und den Bauch arbeiten lässt», indem sie auf die eigene ­Erfahrung und Intuition vertraut. Ich bin durchaus einverstanden, es braucht neben den Haus- und Spe­zial­ärzten die anderen Netzwerker, also gemischte Teams, und natürlich die Familien. Aber es braucht im Epizentrum des Geschehens eine Ärztin, ­einen Arzt mit Herz, jemand, der mit dem Patienten den holperigen Weg des chronisch Kranken geht, ihn schubst, wenn es nötig ist, ihn bremst, wo es zu viel ist, ihn auch einmal konfrontiert und immer wieder sein Fürsprecher ist. Dabei kann es nicht darum gehen, den Blutdruck, das HbA1c, das Gewicht und dergleichen als alleinige Parameter für ein gutes Leben zu werten. Nein, es müssen immer wieder die wichtigen Fragen an den Patienten gestellt werden, wieviel Medizin sein soll, wo er selbst Grenzen setzen möchte, manchmal sogar, wo er sich im vollen Bewusstsein medizinisch etwas Falsches zu tun, für das Falsche entscheidet! Das meine ich mit Chaos-Prinzip: Sich auch einmal mit dem Pa­tienten zusammen trauen, gegen den medizinischen Strom zu schwimmen. Auch einmal Unordnung und eine medizinische Verschlechterung in Kauf ­nehmen – natürlich nur, wenn das Bündnis mit dem Patienten tragfähig ist. Seine ­Autonomie respektieren, seine ­Widerstände ernstnehmen, seine Macken akzeptieren, aber auch zur eigenen ärztlichen Meinung stehen, wenn es die Umstände verlangen. Dies alles geht auf keine Formulare, lässt sich nicht standardisieren. Chronisch Kranke sind nicht Schokolade, die man in eine Form giesst, damit ganze Regale von Osterhasen entstehen, von denen einer wie der andere aussieht. Und selbst älter werdend, verbitte ich mir jetzt schon «prophylaktisch», dass ich je in eine Form gegossen werde! Ich möchte dereinst ein ­alter Mensch sein, der in seiner Ganzheit wahrgenommen wird, mit all seinen Artigkeiten, Kanten und Ecken, und nicht einer, der mit Hilfe von Formularen, Tabellen und Vorschriften in seine einzelnen medizinischen Probleme «zerlegt» wird, damit irgendein Health Manager stolz seine Statistik präsentieren kann, womit er aufzuzeigen glaubt, dass es dem chronisch Kranken besser gehe.
Der idyllisch in den Hügeln des Basellands gelegene Bauernhof von «Otti Hü».
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für ­Allgemeinmedizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch