Dosisanpassung bei Eliminationsstörungen – Teil 1: Niereninsuffizienz
Renale oder hepatische Elimination?

Dosisanpassung bei Eliminationsstörungen – Teil 1: Niereninsuffizienz

Lernen
Ausgabe
2018/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01730
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(07):122-124

Affiliations
a Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
b Institut für Pharmakologie, Universität Bern

Publiziert am 11.04.2018

Niereninsuffizienz ist ein häufiges Problem im klinischen Alltag. Fehlende Anpassung der Medikamentendosierung bei Eliminationsstörungen kann zu Akkumulation und Toxizitätserscheinungen führen. Kenntnisse über die Prinzipien der Dosis­anpassung, aber auch über die Eigenschaften der entsprechenden Substanzen sind deswegen essenziell für eine optimale Patientenbetreuung und zur Vermeidung von unerwünschten Medikamentenwirkungen.

Einleitung

Die Niere und die Leber sind die zwei wichtigsten Eliminationsorgane für Medikamente im menschlichen Körper. Bei Störungen bzw. Abnahme der Funktion kann es entsprechend zu Eliminationsstörungen und Akkumulation der betroffenen Substanzen mit gegebenenfalls schwerwiegenden Konsequenzen kommen.
Ob eine Substanz renal und/oder hepatisch metabolisiert bzw. eliminiert wird, kann mit dem Q0-Wert, der extrarenalen Dosisfraktion angegeben werden. Der Q0-Wert beschreibt den Anteil der Dosis, der nicht als intakter Wirkstoff renal ausgeschieden wird (deshalb auch als Q-extrarenal bezeichnet). Die Q0-Werte der verschiedenen Arzneistoffe sind in der Arzneimittelfachinformation und auf pharmakologischen Web­seiten wie www.dosing.de zu finden. Ein Q0-Wert von 0,3 bedeutet zum Beispiel, dass 30% des Arzneistoffes nicht unverändert renal eliminiert wird. Anders formuliert heisst es, dass 30% (in der Regel in der Leber) metabolisiert und 70% als unveränderte Substanz renal eliminiert werden. Die Elimination dieses Dosisanteils wäre also bei einer Nierenfunktionsstörung betroffen. Klinisch bedeutet ein Q0-Wert <0,5 (Substanz vor­wiegend renal eliminiert) somit, dass an eine Dosis­anpassung bei Niereninsuffizienz zu denken ist, wobei umgekehrt bei Q0>0,5 (Substanz vorwiegend metabolisiert) die Leberfunktion der wichtigste Faktor bezüglich einer möglichen Dosisanpassung ist.
Nachfolgend werden die wichtigsten Prinzipien zur ­Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz präsentiert. Die Prinzipien zur Dosisanpassung bei Leberinsuffizienz werden in Teil 2 des Artikels, der in der nächsten Ausgabe von Primary and Hospital Care erscheinen wird, aufgeführt.

Niereninsuffizienz

Die Niereninsuffizienz ist ein häufiges Problem im ­klinischen Alltag; die Prävalenz beträgt bei hospitalisierten Patienten ca. 15% [1] und steigt bei Patienten in der Intensivstation auf bis zu ca. 50% [2]. Ausserdem kommt es im Alter physiologischerweise zu einer kontinuierlichen Abnahme der Nierenfunktion [3].
Für Medikamente, die praktisch vollständig renal eliminiert werden (z.B. Gentamicin), ist die renale Clearance der Substanz direkt proportional zur Kreatinin-Clearance. Damit kann auch eine Dosisanpassung proportional zum Schweregrad der Niereninsuffizienz erfolgen (z.B. 50%-ige Dosisreduktion bei 50%-iger Abnahme der Kreatinin-Clearance). Für Medikamente hingegen, die praktisch vollständig metabolisiert (und nicht unverändert renal eliminiert werden, z.B. Phenytoin) ist bei Niereninsuffizienz in der Regel keine Dosisanpassung notwendig [4]. Für Medikamente, die über beide Wege (hepatisch und renal) eliminiert werden, ist die Berechnung einer Dosisanpassung etwas aufwendiger, da bei einer Nierenfunktionsstörung nur der renal eliminierte Anteil angepasst werden muss. Der hepatisch eliminierte Anteil der Dosis hingegen benötigt in der Regel keine Dosisanpassung. Für die Einschätzung der Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz kann die individuelle Eliminationsfraktion Q (nicht zu verwechseln mit Q0) berechnet werden, welche die individuelle Ausscheidungskapazität für ein bestimmtes Arzneimittel bei einem bestimmten Pa­tienten mit Niereninsuffizienz zeigt:
Q = Q0 + (1-Q0) x (Kreatinin-Clearance/100 ml/min)
wobei Q0 die extrarenale Dosisfraktion und (1-Q0) die renale (und entsprechend anzupassende) Dosisfraktion darstellt. Die Kreatinin-Clearance kann anhand der Plasma-Kreatininkonzentration mit verschiedenen Näherungsformeln wie zum Beispiel die Cockcroft-Gault-Formel [5] (die jedoch die tubuläre Sekretion nicht ­berücksichtigt und die glomeruläre Filtrationsrate GFR bei eingeschränkter Nierenfunktion damit überschätzt) bestimmt werden. Die Zahl 100 bzw. 100 ml/min in der Formel entspricht einer normalen Nierenfunktion. Entsprechend sollte im folgenden Beispiel die Gesamtdosis des Faktor Xa-Hemmers Edoxaban, der etwa zur Hälfte unverändert renal eliminiert wird (Q0=0,5) bei einer starken Abnahme der Nierenfunktion auf 50% der normalen Dosis reduziert werden (Q≈Q0, ­renal eliminierter Anteil entfällt).
Sobald die individuelle Eliminationsfraktion Q bekannt ist, kann bei einem Q <0,8 eine Anpassung anhand der Dettli-Regel [6] erfolgen. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, die Dosis zu reduzieren (neue Dosis = normale Dosis × Q), das Zeitintervall zwischen den Gaben zu verlängern (neues Intervall = normales Intervall / Q), oder eine Kombination der zwei Methoden. Wenn beispielsweise die normale Dosierung 600 mg alle 6 Stunden beträgt, könnte bei einem Q von 0,5 eine Dosisreduktion entweder mit Gabe von 300 mg alle 6 Stunden, oder 600 mg alle 12 Stunden, oder 400 mg alle 8 Stunden erfolgen. Welches Verfahren gewählt wird, hängt von der Eigenschaft des Arzneistoffes und der klinischen Situation ab. Für Medikamente mit konzentrationsabhängiger Wirkung (z.B. Aminoglykoside) kann eine Dosisreduktion zu subtherapeutischen Konzentrationen führen, und eine Verlängerung des Zeitintervalls ist vorzuziehen. Auf der anderen Seite sind für Medikamente mit einem engen therapeutischen Bereich (z.B. Digoxin) grosse Schwankungen zwischen Spitzen- und Talspiegel zu vermeiden, somit ist in solchen Fällen meist eine Reduktion der Dosis sinnvoller. Ein weiterer Faktor, der die Entscheidung beeinflussen kann, ist die Patienten-Compliance, die bei ungewohntem Dosier­intervall (z.B. 36 Stunden) abnimmt.
Eine Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz ist vor ­allem für Medikamente, die zu mindestens 70% renal eliminiert werden (Q0<0,3) wichtig. Eine Auswahl solcher häufig verwendeten Arzneistoffe ist in Tabelle 1 aufgeführt.
Tabelle 1: Auswahl von Substanzen, die zu >70% renal eliminiert werden (Q0 <0,3).
Antimykotika Fluconazol (nicht aber die anderen Azol-Antimykotika)
AntiviraliaAcyclovir, Gancyclovir
Kardiale MedikamenteDigoxin
Hydrophile Betablocker: Atenolol, Sotalol
ZytostatikaMethotrexat, Cisplatin, Carboplatin
AntibiotikaPenicilline, Cephalosporine, Imipenem, Vancomycin, ­Daptomycin, Aminoglykoside
AndereLithium
Metformin
Für Arzneistoffe mit einem engen therapeutischen Bereich kann jedoch eine Anpassung bereits ab einem Q0<0,5 indiziert sein, da in solchen Fällen bereits eine leichte Zunahme der Plasmakonzentration zu Toxizitätszeichen führen kann.
Neben diesen Grundprinzipien sind noch ein paar weitere wichtige Faktoren bei Dosisanpassungen aufgrund von Niereninsuffizienz zu berücksichtigen: Der in der Fachliteratur angegebene Q0-Wert bezieht sich nur auf die Muttersubstanz, es ist also möglich, dass manche Substanzen mit einem hohen Q0-Wert (d.h. vorwiegend metabolisiert) aktive bzw. toxische Metaboliten haben, die renal eliminiert werden. Im Fall von Morphin z.B. wird die Muttersubstanz in der ­Leber glukuronidiert (Q0=0,9), die Elimination der ­aktiven Glukoronide erfolgt jedoch renal (Q0=0,25); bei Niereninsuffizienz muss die Dosis reduziert oder auf ein anderes Opiat (z.B. Oxycodon) gewechselt werden. Weiter wird bei den oben erwähnten Berechnungen davon ausgegangen, dass die hepatische Clearance bei Niereninsuffizienz unverändert bleibt, was aber nicht immer der Fall ist, da auch die Aktivität der verschiedenen CYP-Enzyme bei ausgeprägter Niereninsuffizienz abnimmt [7]. Ausserdem kann die Niereninsuffizienz weitere pharmakokinetische Parameter beeinflussen, was klinisch relevante Auswirkungen haben kann (z.B. Hypalbuminämie oder Verdrängung aus der Albuminbindung durch «nephrogene Toxine», das heisst akkumulierende, saure Substanzen, mit ­Zunahme der freien Fraktion von hochgradig proteingebundenen Arzneistoffen wie Valproinsäure und Phenytoin, Zunahme des ­Verteilungsvolumens hydrophiler Substanzen bei ­Ödemen). Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass eine Aufsättigungsdosis, die oft zum Beispiel bei Digoxin gegeben wird, aufgrund einer eingeschränkten renalen Clearance allein keine Anpassung benötigt (Aufsättigungsdosis = Zielkonzentration × Verteilungsvolumen). Eine Anpassung der Aufsättigungs­dosis ist somit nur bei Veränderungen des Verteilungsvolumens indiziert, nicht aber wegen einer Veränderung der Clearance.
In Zusammenhang mit dem Verteilungsvolumen ist des Weiteren zu bemerken, dass eine Abnahme der Clearance nicht unbedingt zu einer Verlängerung der Halbwertszeit führt. Die Halbwertszeit einer Substanz wird anhand der Formel
Halbwertszeit = ln2 × Verteilungsvolumen / Clearance
berechnet. Bei stabiler Clearance verhält sich die Halbwertszeit somit proportional zum Verteilungsvolumen (und umgekehrt proportional zur Clearance). Verhalten sich Verteilungsvolumen und Clearance gegenläufig (z.B. Zunahme des Verteilungsvolumens und Abnahme der Clearance bei Niereninsuffizienz mit Ödem), so hat dies einen ausgeprägten Effekt auf die Halbwertszeit ­einer wasserlöslichen, renal eliminierten Substanz. Bei paralleler Zu- oder Abnahme von Verteilungsvolumen und Clearance kann die Auswirkung auf die Halbwertszeit hingegen vernachlässigbar sein. Zuletzt sollte auch erwähnt werden, dass auch eine übervorsichtige Dosierung eventuell gefährlich sein kann (Therapieversagen).

Zusammenfassung

Zusammenfassend sollte bei Niereninsuffizienz (bereits ab einer Kreatinin-Clearance <50 ml/min) an eine Anpassung der Dosis für vorwiegend unverändert renal eliminierte Substanzen (Q0-Wert<0,3–0,5) oder Substanzen mit einem renal eliminierten aktiven oder toxischen Metaboliten gedacht werden. Besonders wichtig ist das für Substanzen mit einem engen therapeutischen Bereich, wie zum Beispiel Aminoglykoside oder Digoxin. Die Anpassung kann gemäss der Dettli-Regel als Dosisreduktion oder Verlängerung des Dosierintervalls (oder eine Kombination der beiden) erfolgen. Im Gegensatz zu der Erhaltungsdosis, die bei abnehmender Clearance angepasst werden muss, ist eine Anpassung der Aufsättigungsdosis nur bei Veränderung des Verteilungsvolumens nötig. Neben Kreatinin-Clearance bzw. GFR sollten auch andere Faktoren berücksichtig werden, welche die Pharmakokinetik beeinflussen (z.B. Hypalbuminämie, Ödeme). In speziellen/komplexen ­Situationen ist je nach Substanz eine Spiegelbestimmung empfehlenswert.

Fazit für die Praxis

Der Q0-Wert eines Medikamentes gibt Auskunft darüber, ob dieses vorwiegend renal oder hepatisch eliminiert wird. Bei Einschränkung der Nierenfunktion erfolgt die Dosisanpassung von vorwiegend renal eliminierten Medikamenten nach Berechnung der individuellen Eliminationsfraktion Q anhand der Dettli-Regel (Dosisreduktion, Verlängerung des Dosierintervalls oder Kombination).
Dr. med. Evangelia Liakoni
Freiburgstrasse 8
CH-3010 Bern
evangelia.liakoni[at]insel.ch
1 Chertow GM, Lee J, Kuperman GJ, Burdick E, Horsky J, Seger DL, et al. Guided medication dosing for inpatients with renal insufficiency. JAMA. 2001;286(22):2839–44.
2 Bertsche T, Fleischer M, Pfaff J, Encke J, Czock D, Haefeli WE. Pro-active provision of drug information as a technique to address overdosing in intensive-care patients with renal insufficiency. European journal of clinical pharmacology. 2009;65(8):823–9.
3 Ng BL, Anpalahan M. Management of chronic kidney disease in the elderly. Internal medicine journal. 2011;41(11):761–8.
4 Begg EJ. Instant Clinical Pharmacology. 1. Auflage. 2003.
5 Cockcroft DW, Gault MH. Prediciton of creatinine clearance from serum creatinine. Nephron. 1976;16(1):31–41.
6 Dettli LC. Drug dosage in patients with renal disease. Clin ­Pharmacol Ther. 1974;16(1):274–80.
7 Atkinson AJ, Huang S, Lertora JJL, Markey SP. Principles of Clinical Pharmacology. 3. Auflage. 2012.