Medizin-ethische Richtlinien der SAMW - Teil 2: Zwangsmassnahmen in der Medizin
Medizin-ethische Richtlinien der SAMW

Medizin-ethische Richtlinien der SAMW - Teil 2: Zwangsmassnahmen in der Medizin

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Ausgabe
2018/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01738
Prim Hosp Care (de). 2018;18(10):180-182

Affiliations
a Stellvertretende Generalsekretärin Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW); b Vizepräsidentin der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der SAMW; c Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel und Mitglied ZEK der SAMW

Publiziert am 30.05.2018

Seit über 40 Jahren erarbeitet und veröffentlicht die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizin-ethische Richtlinien. Die Redaktion von Primary and Hospital Care hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem Jahr in lockerer Folge den Inhalt einzelner SAMW-Richtlinien vorzustellen.

Aus der Praxis: Zwangsmassnahmen bei hyperaktivem Delir

Frau D. C. lebt im Pflegeheim und leidet unter einer ­diabetischen Polyneuropathie sowie einer Alzheimer-Demenz leichten Ausmasses. Bei einem Sturz im Badezimmer zieht sie sich eine Hüftfraktur zu. Zur Osteosynthese mit einem Gammanagel bleibt sie drei Tage im Spital und wird anschliessend zur Rehabilitation ins Pflegeheim zurückverlegt. Kurz nach der Rückkehr ins Pflegeheim entwickelt sie ein hyperaktives Delir mit ­einer ausgeprägten psychomotorischen Unruhe. Sie droht über die vom Pflegepersonal angebrachten Bettgitter zu steigen, und ihr anhaltendes und lautes Rufen wird von den Mitpensionären und dem Pflegepersonal als enorm störend wahrgenommen. Jegliche Medikamenteneinnahme lehnt sie strikte ab. Es stellt sich die Frage, ob gegen ihren Willen Zwangsmassnahmen, etwa eine Fixation mit Bauchgurt am Bett oder die Verabreichung psychoaktiv wirksamer Medikamente zur Ruhigstellung, durchgeführt werden dürfen.

Was sagen die SAMW-Richtlinien dazu? [2]

Als Zwangsmassnahme gilt jede im medizinischen Kontext angewandte Massnahme, die gegen den selbstbestimmten Willen oder den Widerstand einer Patientin durchgeführt wird. Hierzu gehören das Anbringen von Bettgittern oder das Fixieren mit einem Bauchgurt (bewegungseinschränkende Massnahmen), aber auch die Verabreichung von Medikamenten (Zwangsbehandlung) gegen den Willen der Patientin. Werden Medikamente in kaschierter Form in Nahrungsmitteln, z.B. Joghurt, verabreicht, weil die Patientin die Einnahme ablehnen würde, gilt dies ebenfalls als Zwangsbehandlung [3].
Bewegungseinschränkende Massnahmen sind nur dann zulässig, wenn weniger einschränkende Massnahmen nicht genügen oder von vornherein nicht ­ausreichen, um eine ernsthafte Selbstgefährdung oder eine schwerwiegende Störung des Gemeinschafts­lebens zu beseitigen. Ist eine Patientin urteilsfähig, ist eine medikamentöse Zwangsbehandlung nicht erlaubt. Während die verbindliche konkrete Regelung bezüglich der Anordnung, Durchführung und Dokumentation von bewegungseinschränkenden Mass­nahmen in den Kompetenzbereich der einzelnen Institution gehört (Art. 383 ZGB), erfordert eine Zwangsbehandlung die Zustimmung der vertretungsberechtigten Person (Art. 378 ZGB). In Notfallsitua­tionen darf hiervon für eine befristete Zeit eine ­Ausnahme gemacht werden (vorübergehende Nichtverfügbarkeit des gesetzlichen Vertreters).
Die SAMW-Richtlinien thematisieren darüber hinaus Präventionsmöglichkeiten, um den Einsatz von Zwangsmassnahmen zu minimieren. Im konkreten Beispiel müssten vorbeugend alle Mittel eingesetzt werden, die das Risiko eines Delirs vermindern. Dies umfasst alle Massnahmen vom Schaffen einer möglichst ruhigen Umgebung über eine ausreichende ­Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr bis hin zu einer sorgfältigen Medikation und insbesondere einer adäquaten Schmerztherapie. Kausal behandelbare Ursachen wie zum Beispiel eine Obstipation oder ein Harnwegsinfekt müssen ausgeschlossen werden.
Wenn die Selbstgefährdung bzw. die schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens trotz präventiver und therapeutischer Massnahmen, die keinen Zwang beinhalten, bestehen bleibt und die Urteilsunfähigkeit der Patientin festgestellt wurde, dürfen bewegungseinschränkende Massnahmen oder eine Zwangsmedikation in Erwägung gezogen werden. Keinesfalls aber darf eine Zwangsmassnahme nur deshalb angeordnet werden, weil Frau D. C. die Klinikroutine stört, oder zur Erleichterung der Arbeit der Betreuungspersonen. Die eingesetzte Zwangsmassnahme muss notwendig und verhältnismässig sein. Grundsätzlich ist diejenige Zwangsmassnahme zu wählen, die von Frau D. C. als am wenigsten belastend empfunden wird. Relevant für diese Beurteilung ist ihr mutmasslicher Wille, der sich aus früheren mündlichen oder schriftlichen Äusserungen oder aus den Berichten ihr nahestehender Personen ergibt.
Alle getroffenen Zwangsmassnahmen müssen Frau D. C. erklärt und mit ihrer Vertretungsperson besprochen werden. Ziel und Zweck der Massnahmen, die Evaluation der Urteilsfähigkeit, Art und Dauer der Massnahmen, die notwendige Überwachung, die Intervalle der Evaluation und die Verantwortlichkeiten (entscheidungsbefugte Person resp. Instanz) müssen schriftlich festgehalten werden. Nach der Aufhebung der Zwangsmassnahmen soll eine Nachbesprechung mit Frau D. C., der vertretungsberechtigten Person und dem Pflegepersonal stattfinden.

Schlussfolgerungerungen

Frau D. C. ist aufgrund des Delirs urteilsunfähig und lehnt jede Art von Bewegungseinschränkung oder medikamentöser Behandlung ihres Unruhezustandes ab. Durch ihr Verhalten gefährdet sie sich selbst erheblich (Sturzgefahr). Gleichzeitig stört sie durch ihr herausforderndes Verhalten die Mitpensionäre und das Pflege­team. Präventive Massnahmen zur Vermeidung des Delirs wurden vergeblich eingesetzt. In dieser Situation sind eine Fixation oder – mit Zustimmung der Vertretungsperson – die Verabreichung von Psychopharmaka als ultima ratio und unter Beachtung der geschilderten prozeduralen Vorgaben zulässig.
Das Betreuungspersonal im Pflegeheim muss sich bewusst sein, dass jede Zwangsmassnahme, auch wenn sie alle prozeduralen Vorgaben einhält, einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Patientin darstellt und einer Rechtfertigung bedarf.
PD Dr. med. Klaus Bally
Facharzt für
Allgemeine Medizin FMH
Universitäres Zentrum
für Hausarztmedizin beider
Basel / uniham-bb
St. Johanns-Parkweg 2
CH-4056 Basel
klaus.bally[at]unibas.ch
1 Pfister E. Die Rezeption und Implementierung der SAMW-Richt­linien im medizinischen und pflegerischen Alltag. Schweizerische Ärztezeitung 2010;91:13/14.
2 Zwangsmassnahmen in der Medizin. Medizin-ethische Richtlinien der SAMW, 2015. Die Broschüre ist online verfügbar und kann in gedruckter Form kostenlos bezogen werden, www.samw.ch/richtlinien.
3 Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz. Medizin-ethische Richtlinien der SAMW, 2017, Kap. 5.3.2.