Medizinische Versorgung von jugendlichen LSBTQI

Aufbau eines koordinierten Netzwerks zwischen den Akteuren: Welche Hürden bestehen?

Lehren und Forschen
Ausgabe
2018/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01741
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(08):132-133

Affiliations
Studierende im dritten Jahr, Bachelor, der Fakultät für Biologie und Medizin der Universität Lausanne

Publiziert am 25.04.2018

Einführung

Der Missstand der jugendlichen LSBTQI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queers und Inter­sexuelle) gegenüber dem Gesundheitssystem ist in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben und Realität [1]. Die erhöhte Suizidalität [1] und das fehlende Bewusstsein für Risiken, die über den Bereich sexuell übertragbarer Infektionen hinausgehen [2], sind Folge eines nicht angepassten Gesundheitswesens. Lösungen (Richtlinien, Grundlagen) existierten, dennoch ­besteht die Ungleichheit fort [3].
Auch wenn mit der Abkürzung LSBTQI sehr unterschiedliche Kategorien erfasst werden, so verwenden wir sie doch, um Personen mit einer sogenannten ­atypischen sexuellen Orientierung und/oder einer atypischen Geschlechtsidentität1 zu beschreiben. Wir untersuchten die junge Bevölkerung (15–24 Jahre gemäss WHO), da die Veränderungen während der ­Adoleszenz diese Personengruppe noch verletzbarer machen.

Methode

Untersucht haben wir die Betreuung jugendlicher LSBTQI durch das Waadtländer Gesundheitssystem. Wir führten semi-strukturierte Interviews mit verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens durch: Mit einem Gynäkologen, einem Allgemeinmediziner, einem Psychologen von Agnodice2, einem Arzt der Division interdisciplinaire de santé des adolescents (CHUV), einem Beauftragten von CheckPoint3, drei Schulkrankenschwestern, einem Anthropologen des Institut ­universitaire d’histoire de la médecine et de la santé ­publique (Lausanne) und einem transsexuellen, jungen Erwachsenen.

Ergebnisse

Der Mangel an Schulung und Sensibilisierung der ­involvierten Gesundheitsakteure bezüglich dieser Minderheit resultiert in einer Unkenntnis ihrer Ungleichheiten und führt zu Lücken in ihrer Betreuung. Als Problematik erwähnten alle unsere Gesprächspartner den Mangel an Sichtbarkeit von Strukturen, die ­jedoch vorhanden wären. Gegenüber der Bevölkerung plädieren sie für mehr Aufklärung, um die wenig ­bekannten und unterschätzten Schwierigkeiten unter LSBTQI-Personen bekannt zu machen. Für eine effektive, gesellschaftliche Lösung sind zudem die Unterstützung durch Führungskräfte (Abteilungsleiter/-in oder Klinikdirektor-/in) oder entsprechende Gesundheitsrichtlinien notwendig.

Diskussion

Unsere Ergebnisse legen die Idee eines Circulus vitiosus, eines Teufelskreises nahe (Abb. 1). LSBTQI-Personen scheuen sich, ihre Fragen zur Geschlechtsidentität und/oder sexueller Orientierung zu äussern. Das führt zu einer geringen Sichtbarkeit dieser Problematik, weshalb sie zu Unrecht von den Akteuren des Gesundheitssystems als unwesentlich betrachtet wird. Daher fehlen auch entsprechende Massnahmen zur Schliessung diesbezüglicher ­Lücken. Der Mangel an entsprechenden Dispositiven hält die LSBTQI-Minderheit davon ab, Fragen zu äussern. Zudem, und dies trotz eines allgemeinen Wohlwollens, erweist sich der heteronormative Rahmen, das heisst, der Gesprächspartner wird standardmässig als heterosexuell und cisgender4 betrachtet, als ein Hindernis für die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses. Hervorzuheben ist auch die Schwierigkeit, Massnahmen zur Verhinderung der Marginalisierung von LSBTQI-Personen in einem Gesundheitssystem durchzusetzen, in dem dieses Thema nicht prioritär ist.
Abbildung 1: Circulus vitiosus, der die Herstellung eines ­Vertrauensverhältnisses zwischen LSBTQI-Jugendlichen und den Gesundheitsakteuren hemmt.
Das Gesundheitssystem des Kantons Waadt scheint mit entsprechenden Diensten ausgestattet zu sein, um auf die Bedürfnisse der LSBTQI-Bevölkerung eingehen zu können. Es gibt jedoch Unterschiede in der Betreuung, und nur durch die Verbesserung des Netzwerks, das für dieses Thema sensibilisiert ist, werden wir Ungleichheiten abbauen können. Um dies zu erreichen, bedürfte es der Unterstützung durch Führungskräfte und der Priorisierung des Themas, auf dass eine Verbesserung der Sichtbarkeit, Zusammenarbeit im Netzwerk, wertfreien Einstellung und Ausbildung von Fachkräften eintritt.
Unser aufrichtiger Dank geht an unsere Tutorin, Dr. Martine Jacot-Guillarmod, und an alle, die wertvolle Zeit für die Umsetzung unserer Arbeit zur Verfügung gestellt haben, besonders an die, die bereit ­waren, uns während der Interviews ihre Erfahrungen mitzuteilen.
Dr phil. Jacques Gaume
Responsable de recherche
Coordinateur du module
B3.6 – Immersion
communautaire
Département universitaire
de médecine et santé communautaires
CHUV
Avenue de Beaumont 21 bis,
Bâtiment P2
CH-1011 Lausanne
Jacques.Gaume[at]chuv.ch
1 Bize R, Volkmar E, Berrut S, Medico D, Balthasar H, Bodenmann P, Makadon HJ. Vers un accès à des soins de qualité pour les personnes lesbiennes, gays, bisexuelles et transgenres. Rev Med Suisse. 2011;7:1712.
2 Groupe de travail santé PREOS. Vers l’égalité des chances en matière de santé pour les personnes LGBT: le rôle du système de santé: état des lieux et recommandations. Lausanne; 2012.
3 Soldati L, Hischier M, Aubry JM. Réseau de soins pour patients souffrant de dysphorie de genre. Rev Med Suisse. 2016;12:1557–60.