Interview: Das Problem der zunehmend antibiotikaresistenten Bakterien
Interview mit Stefan Neuner-Jehle, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, und Offizinapotheker Florian Sarkar

Interview: Das Problem der zunehmend antibiotikaresistenten Bakterien

Lernen
Ausgabe
2018/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01757
Prim Hosp Care (de). 2018;18(10):173-175

Affiliations
a Leiterin Abteilung Public Health, FMH; b wissenschaftliche Mitarbeiterin Abteilung Public Health, FMH

Publiziert am 30.05.2018

Im Interview sprechen Stefan Neuner-Jehle, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, und Offizinapotheker Florian Sarkar über das Problem von zunehmend antibiotikaresistenten Bakterien, die Herausforderungen bei der Abgabe resp. Nicht-Abgabe von Antibiotika in der Apotheke und in der Arztpraxis sowie über den Einsatz des neu lancierten Faktenblatts «Antibiotika richtig einsetzen».

Faktenblatt zum Umgang mit Antibiotika.
Sind Sie direkt mit dem Problem von zunehmend antibiotikaresistenten Bakterien konfrontiert?
Stefan Neuner-Jehle: Hin und wieder sehe ich resistente Harnwegsinfektionen oder Wundinfekte. In meinem klinischen Alltag bin ich jedoch selten mit resistenten bakteriellen Infektionen konfrontiert. Die meisten Infektionen unserer ambulanten Patienten können mit einer Erstlinientherapie beherrscht werden. Die Einzelfallbeobachtung in der Praxis ist aber naturgemäss nicht aussagekräftig genug. Ich bin mir sehr bewusst, dass Resistenzen in der erweiterten Versorgung, zum Beispiel bei schwierigen oder rezidivierenden Verläufen und im stationären Bereich, ein Problem sind. Hausärztinnen und Hausärzte sind deshalb bemüht, indikationsgerecht Antibiotika einzusetzen, das heisst möglichst nur bei einer hohen Wahrscheinlichkeit für eine bakterielle Ursache und mit Zurückhaltung bezüglich Breitbandantibiotika.
Florian Sarkar: Mit Resistenzen direkt bin ich nicht so häufig konfrontiert. Ich sehe eher, dass oft nicht nach den Richtlinien verordnet wird. Ab und zu haben wir Patientinnen mit Blasenentzündung, die auf Antibiotika der ersten Wahl nicht mehr ansprechen und daher ein anderes Präparat benötigen.
Was sind für Sie die grössten Herausforderungen bei der Abgabe bzw. Nicht-Abgabe von Antibiotika?
FS: Es gibt sowohl Menschen, die Antibiotika banalisieren als auch solche, die ihnen sehr kritisch gegenüberstehen. Bei der Rezeptvalidierung muss man daher immer gut auf den Informationsbedarf eingehen. Ich stelle ausserdem immer wieder fest, dass Patienten mit Restantibiotika zu Hause eine Selbsttherapie machen. Dass Antibiotika zunehmend illegal über das Internet importiert werden, ist ein weiterer Grund zur Sorge.
SNJ: Eine Herausforderung ist die nur lückenhafte Kenntnis von früheren Unverträglichkeiten oder Allergien auf Antibiotika des Patienten. Beim begründeten Abraten von einem Antibiotikum ist die Herausforderung, dies mit der Erwartungshaltung des Patienten in Einklang zu bringen. Das ist zwar in meiner Praxis eher die Ausnahme als die Regel. Hier braucht es eine Diskussion zu Nutzen und Schaden sowie eine Sensibilisierung der Patienten mittels verständlicher Informationen. Ein Kompromiss bei Grenzfällen kann sein, dem Patienten für den Fall einer fehlenden Besserung oder einer Verschlechterung innert definierter Frist ein Antibiotikum (oder ein Rezept dafür) mitzugeben, das er im Falle des Nichtgebrauchs zurückbringen kann. Ein solches Vorgehen dient als eine Art Rück­versicherung. Und die Erfahrung zeigt: Die meisten bringen es unbenutzt wieder zurück.
Im November 2017 lancierte die FMH in Zusammen­arbeit mit pharmasuisse und dem BAG ein Faktenblatt zu Antibiotikaresistenzen, das bei der Abgabe bzw. Nicht-Abgabe von Antibiotika verwendet werden kann. Haben Sie dieses Faktenblatt schon eingesetzt?
SNJ: Sie liegen in meinem Sprechzimmer bereit und erinnern mich immer daran, dass ich das Thema «angemessener Antibiotika-Einsatz» mit meinen Patienten anspreche. Die wichtigsten Inhalte bespreche ich sowieso mit den behandelten oder nicht-behandelnden Patienten, um mein Vorgehen zu erklären und mich ihrer Kooperation zu versichern. Insofern führen die Faktenblätter nicht zu zeitkonsumierendem zusätz­lichem Gesprächsbedarf. Ich gebe sie vor allem dann ab, wenn die Patienten noch mehr dazu wissen wollen. Übrigens mag ich solche Diskussionen mit den ­Patienten gern: Ich versuche wahrzunehmen, wie sie ­«ticken», und sehe es als Herausforderung für mich, ­einen guten Draht zu ihnen zu finden. Schliesslich wollen wir zu einer Entscheidung kommen, die für beide stimmt.
FS: Ja, ich versuche das Team regelmässig daran zu ­erinnern, das Faktenblatt einzusetzen. Ich gebe es in möglichst allen Fällen ab, und teils erkläre ich gewisse Punkte noch explizit dazu.
Was gefällt Ihnen am Faktenblatt gut und wo finden Sie, gäbe es Verbesserungspotenzial?
SNJ: Positiv finde ich die kurz gehaltenen, prägnanten Botschaften und vor allem die Erklärungen beim begründeten Verzicht auf ein Antibiotikum. Das Verzichten ist psychologisch schwieriger für Patienten und benötigt eine besonders sorgfältige Kommunikation. Mittels eines aufklärenden Filmes oder Plakates im Wartezimmer könnten die Patienten schon vor der Konsultation für das Thema sensibilisiert werden, und zwar für beide Fälle: Die Einnahme wie auch den Verzicht auf ein Antibiotikum.
Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Faktenblatt gemacht? Gibt es Reaktionen oder Rückfragen auf das Faktenblatt?
SNJ: Die Reihenfolge ist bei mir meistens umgekehrt: im Gespräch verweise ich für vertiefte Informationen auf das Blatt. Eine Rückfrage nach der Lektüre stellen Patienten selten.
FS: Die einen sind interessiert und stellen direkt Fragen, andere stecken es ein und vergessen es vermutlich. Im Moment ist es schade, dass das Faktenblatt nicht in mehr Fremdsprachen verfügbar ist, da besonders Fremdsprachige von einer Stärkung der Gesundheitskompetenz profitieren würden.
Auf der Webseite www.antibiotika-richtig-einsetzen.ch ist neu ein Erklärungs-Film zum Faktenblatt aufgeschaltet. Was halten Sie davon?
FS: Er ist gut gelungen. Er fasst die wichtigsten Aspekte gut zusammen und erklärt das Thema unaufgeregt und in kurzer Zeit. Ausserdem kann ich den Film auf unserer Facebook-Seite und unserem Blog verlinken.
Kennen Sie die Situation, dass Antibiotika verlangt werden, obwohl aus Ihrer Sicht keine Verschreibung notwendig ist?
FS: Manche Patienten sind aufgrund früherer Arztbesuche darauf konditioniert, ein Antibiotikum zu erhalten. Die glaubwürdige Vermittlung bei einer Nicht-Abgabe kann schwierig sein. Ich biete den Patienten stets eine Beratung nach dem Netcare-System an. In den Fällen, wo es dann wirklich notwendig ist, mache ich auch von der Notfallabgabe Gebrauch.
Wie schätzen Sie den Wissensstand der Bevölkerungen im Zusammenhang mit antibiotikaresistenten Bakterien ein und wo sehen Sie die grössten Wissenslücken?
SNJ: Viele Personen haben schon davon gehört, kennen aber die Einzelheiten nicht und wissen auch nicht, wie sie selbst durch ihr Verhalten einen Beitrag leisten können, damit sich das Problem nicht ausweitet. Hier gilt es die Gesundheitskompetenz zu stärken. Insofern leistet das Faktenblatt einen nützlichen Beitrag, die Bevölkerung über die Zusammenhänge zu informieren.
FS: Die wichtigste Botschaft ist, dass die meisten Infektionen ohne Antibiotika abheilen. Bei der Beurteilung, ob ein Antibiotikum nötig ist, sollte den Fachpersonen vertraut werden. Weiter werden die Risiken von Resistenzen und ihren Folgen unterschätzt.

Zur Person

Stefan Neuner-Jehle ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und führt seit 1996 eine Praxis in Zug. Seit einigen Jahren ist er ausserdem am Institut für Hausarztmedizin Zürich in Lehre und Forschung tätig und leitet dort die Abteilung Chronic Care. Er ist Mitglied der Begleitgruppe zur Entwicklung des Faktenblatts bei Antibiotikaabgabe im Rahmen von StAR.
Stefan Neuner-Jehle ist Chefredaktor von Primary and Hospital Care.

Zur Person

Florian Sarkar hat Pharmazie an der Universität Basel studiert und 2009 mit dem eidgenössischen Apothekerdiplom abgeschlossen. Er arbeitet in der Jura-Apotheke in Balsthal und ist seit 2017 Mitglied der Begleitgruppe zur Entwicklung des Faktenblatts bei Antibiotikaabgabe im Rahmen von StAR.
Ende 2015 verabschiedete der Bundesrat die Nationale Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR), um national koordiniert und themenübergreifend gegen die zunehmende Verbreitung von antibiotikaresistenten Bakterien vorzugehen. Als Teil der Umsetzung dieser Strategie haben die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, der Schweizerische Apothekerverband pharmaSuisse und das Bundesamt für Gesundheit BAG gemeinsam Materialien entwickelt. Es handelt sich dabei um ein Poster für den Warteberich in der Praxis, einen Erklärfilm zur Verbreitung über soziale Medien sowie ein Faktenblatt zum Umgang mit Antibiotika. Das praktische Faktenblatt im A5-Format kann Patientinnen und Patienten mitgegeben werden. Alle Materialien enthalten sowohl Informationen und Empfehlungen rund um die Antibiotikaeinnahme als auch Gründe, warum bei gewissen Infektionen kein Antibiotikum notwendig ist. Bestellen können Sie diese kostenlos auf der Website: