«Eine Frühdiagnose verbessert das Überleben»
Interview mit Professor Dr. med. Daniel Betticher, Chefarzt der Klinik für Onkologie, Freiburger Spital HFR, Fribourg

«Eine Frühdiagnose verbessert das Überleben»

Lernen
Ausgabe
2018/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01758
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(14):248-249

Affiliations
Managing Editorin, Primary and Hospital Care

Publiziert am 24.07.2018

«Krebserkrankungen – Frühdiagnose, was, wie, wann?» lautete der Titel des zweiten Hauptreferats am Kongress 2018 der Jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz JHaS.

Professor Betticher, Sie beschrieben in Ihrem Referat am JHaS-Kongress 2018 den interessanten Fakt, dass ein Paradox besteht zwischen Krebserkrankungen bei grossen Tieren und Menschen. Tiere erkranken sehr selten an einem Karzinom, beim Menschen hingegen ist in den Industrieländern Krebs die häufigste Todesursache vor dem 65. Lebensjahr. Können Sie uns dies erläutern?
Man hat beobachtet, dass grössere Menschen häufiger an Krebs erkranken als kleine. Das Krebsrisiko ist demnach assoziiert mit der Körpergrösse. Dies wurde in Lancet Onclology publiziert. Das ist eigentlich auch ­logisch, denn je grösser ein Körper, desto mehr Zellen gibt es, die entarten können. Somit kann man statistisch für den Blauwal, der 1500 kg schwer ist und 70 Jahre lebt, ausrechnen, dass er mit 99,999%iger Wahrscheinlichkeit ein Karzinom entwickeln wird – das tut er aber nicht! Bisher hat man noch keinen einzigen Blauwal mit Krebs gesehen. Das ist das sogenannte Peto-Paradox. Die Erklärung dafür könnte ein natür­licher Schutz vor Krebs sein, das TP53, ein Tumorsuppressor-Gen. Der Mensch zum Beispiel hat nur ein Paar dieser Gene, der Elefant hingegen 20. Beim Wal hat man noch nicht herausgefunden, was der Mechanismus für sein geringes Risiko, an Krebs zu erkranken, ist, denn er hat keine erhöhte Zahl an TP53-Genen.
Weshalb ist die frühe Diagnose bei Krebs so wichtig, gleichzeitig aber auch so schwierig?
Jede/r zweite bis dritte Schweizer/-in entwickelt Krebs. Die Diagnose ist sehr häufig und wird aufgrund der Überalterung der Bevölkerung immer häufiger. Der wichtigste Risikofaktor für Krebs ist «zu leben»! Wir wissen aber auch, je früher wir Krebs diagnostizieren – also in einem frühen Stadium ohne Fernmetastasen – desto besser kann man ihn heilen. Das Problem dabei ist, dass die Karzinomerkrankungen häufig nur un­spezifische Symptome machen, wie zum Beispiel ­Müdigkeit, Appetitverlust und Gewichtsabnahme. Es gibt aber auch sogenannte «Red flags» wie Hämoptysen, wachsender Mammaknoten, Meläna, Blut im Urin oder eine Anämie, die man nicht verpassen sollte. Da muss man unbedingt weitere Abklärungen einleiten. Früher die Krebsdiagnose zu stellen, verbessert das Überleben. Das wurde in einer dänischen Studie beim Kolonkarzinom gezeigt, in der bei typischen Symptomen wie alternierender Diarrhoe/Obstipation das Überleben verbessert werden konnte, indem die Diagnose sofort gestellt wurde.
Was bringt eine frühe Diagnose und welche Tumoren eignen sich gut zur Früherkennung?
Die besten Resultate erreicht man bei denjenigen Tumoren, bei denen mit der Früherkennung eine Vorstufe des Krebses diagnostiziert wird. Das ist bei der Zervix und beim Kolon der Fall. Eine Krebsvorsorge lohnt sich grundsätzlich dann, wenn der Tumor häufig, im frühen (Vor-)Stadium heilbar und ein frühes Entwicklungsstadium nachweisbar ist sowie wenn der Test sensitiv und spezifisch, verbunden mit wenig ­Nebenwirkungen, akzeptabel und günstig ist.
Beim Kolonkarzinom wird allen ab 50 Jahren eine ­Kolonoskopie empfohlen. Da jedoch nur etwa 17% der über 50-Jährigen dies befolgen, macht man mit den ­anderen einen Test, um Blut im Stuhl nachzuweisen – das ist immer noch besser, als gar nichts.
Für die Früherkennung des Mammakarzinoms wird allen Frauen im Alter zwischen 50 und 75 Jahren alle zwei Jahre eine Mammografie empfohlen. Obwohl diese Empfehlung auf wissenschaftlichen Daten fusst, wird diese oft kritisch diskutiert, dies wegen der Überdiagnostik (Diagnose eines Karzinoms, das nie zur Krankheit geführt hätte).
Welche Tumoren eignen sich eher nicht für eine Früherkennung, und weshalb nicht?
Beim Bronchialkarzinom gibt es noch zahlreiche offene Fragen. Da geht es erstmal nur um die Risiko­population der Raucher. Das Screening findet mittels einer low-dose-CT-Untersuchung statt. Das Problem dabei ist die relativ hohe Zahl falsch positiver Befunde. Deshalb müssen wir hier noch viel lernen, zum Beispiel, wie gross muss der Knoten sein oder ob es noch andere prädiktive Faktoren gibt, um genauere Voraussagen machen zu können, wer sich nach dem Screening mittels CT weiteren Abklärungen (Biopsie, Thorakoskopie usw.) unterziehen sollte. Hier sind wir also noch nicht soweit, dass wir sagen könnten, allen Rauchern wird ein CT-Screening empfohlen – dafür sollten prospektive Studien durchgeführt werden.
Beim Prostatakarzinom ist die Sache nochmals komplizierter. Schaut man sich 80-jährige Männer an, so haben 70–80% Krebszellen in der Prostata. Dass sie aber an einem Prostatakarzinom erkranken, ist überhaupt nicht gesagt. Die Frühdiagnostik mittels PSA-Messung wird demnach sehr kontrovers diskutiert. Ein erhöhter PSA-Wert erlaubt ein Prostatakarzinom zu diagnostizieren, obwohl häufig ein erhöhter Wert auch mit anderen Erkrankungen wie Prostatahypertrophie oder Prostatitis verbunden sein kann. Daneben steht die Überdiagnostik, also die Diagnose eines Karzinoms, das klinisch nie manifest geworden wäre, so im Vordergrund, dass von einem Massenscreening zurzeit abgeraten wird.
Wie wird sich die Onkologie in den nächsten Jahren entwickeln?
Wir Onkologen arbeiten auf vielen Ebenen. Die erste Ebene ist die der Prävention, das heisst nicht mehr Rauchen, sich gesund ernähren etc., die zweite die, welche wir hier gerade besprochen haben, die der Früherfassungsprogramme. Dann folgt die Ebene des kurativen Konzepts mit der Frage, können wir den Patienten heilen. Dies ist immer ein multidisziplinärer Ansatz. Leider können wir 50% aller Patientinnen und Patienten nicht heilen. Das ist dann die Ebene der palliativen Therapie. Das heisst, gesund, also ohne Beschwerden, psychisch im Gleichgewicht und sozial integriert mit dem Krebs leben zu können. Das erreichen wir ganz gut mit neuen Therapien und Entwicklungen von neuen Medikamenten im Bereich der Immun- und der zielgerichteten Therapie, die den aktuellen Standard neu definieren. Da spielt auch die Onko-Rehabilitation eine immer wichtigere Rolle. Die fünfte Ebene ist die der gesamthaften Unterstützung der Erkrankten, aber auch der Angehörigen und Familien durch verschiedene Akteure wie Pflege, Psychoonkologie und Krebs­ligen.
Prof. Betticher, vielen Dank für dieses Gespräch.

Zur Person

Professor Dr. med. Daniel Betticher ist Facharzt für medizinische Onkologie und Hämatologie sowie für Allgemeine Innere Medizin und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Onkologie am Freiburger Spital HFR. Er ist Präsident der Krebsliga Freiburg, Präsident der Swiss Academy of Multidisciplinary Oncology (SAMO), Mitglied der Projektgruppe Lungenkrebs der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsforschung (SAKK) und Vorstandsmitglied der Krebsliga Schweiz.

Take home message

Zervixkarzinom: Bei allen Frauen ab 20 Jahren, die ersten drei Jahre jährlich, darauf dreijährlich ein Zervixabstrich bis zum 65. Lebensjahr.
Mammakarzinom: Bei allen Frauen ab 50 Jahren alle zwei Jahre (im ­Rahmen eines Screening-Programms) eine Mammographie bis zum 75. Lebensjahr.
Kolonkarzinom: Bei allen Frauen und Männern ab 50 bis 70 Jahren eine Kolonoskopie, mindestens alle zehn Jahre (je nach Befund), oder eine Suche nach okkultem Blut im Stuhl alle zwei Jahre.
Prostatakarzinom: PSA-Bestimmung nur bei Risiken (Prostatakarzinom bei Vater/Bruder, schwarze Hautfarbe) oder bei klarem Wunsch (nach detaillierter Information des Risikos einer Überdiagnose).
Bronchuskarzinom: Im Rahmen von prospektiven Studien. Der Nutzen des Screenings wird in Abhängigkeit der europäischen Studienresultate evaluiert werden.
Es wird geschätzt, dass bei gesundem Lebensstil und Teilnahme an Früh­erfassungsprogrammen die Krebsmortalität um 40% reduziert wird.
Prof. Dr. med. ­Daniel ­Betticher
Chefarzt der Klinik für Innere Medizin des HFR
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und ­medizinische Onkologie
HFR Freiburg – ­Kantonsspital
CH-1708 Freiburg