«Mindlines»: patientenzentrierte Anwendung von Guidelines
Beispiel Hypertoniebehandlung

«Mindlines»: patientenzentrierte Anwendung von Guidelines

Lehren und Forschen
Ausgabe
2018/15
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01791
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(15):262-264

Affiliations
Institut für Hausarzt­medizin der Universität Zürich

Publiziert am 15.08.2018

Medizinische Leitlinien für Therapieentscheide basieren auf klinischen Studien, in denen multimorbide, komplexe, ältere Patientinnen und Patienten kaum je vertreten sind. Diese Diskrepanz erschwert das Befolgen einer «leit­liniengerechten» Therapie, weil die Evidenz dafür fehlt. Die Lösung liegt in einer patientenzentrierten Therapie. Am Beispiel der Hypertoniebehandlung lässt sich dieser Paradigmenwechsel gut aufzeigen.

Ausgangslage bei der ­Hypertonie­behandlung

Die meisten Hypertoniker werden aufgrund der hohen Prävalenz dieser Erkrankung bei uns Hausärztinnen und Hausärzten behandelt. Studien der letzten Jahre behaupten, dass 20–60% aller Hypertoniepatienten unangemessen behandelt werden [3–5]. Behandeln wir also unangemessen? Wenn wir die Studienlage betrachten, so sehen wir, dass diese Aussage für den Einsatz einer medikamen­tösen Blutdrucktherapie auf sehr strikten Leitlinien bzw. Blutdruck-Grenzwerten (140/90 mm Hg) basiert. Doch wo bleibt dabei der patientenzentrierte Ansatz? Ist vielleicht gerade der Umstand, dass Hausärztinnen und Hausärzte pa­tientenzentriert behandeln (das heisst entlang der ­Komorbiditäten und Patienten-Prioritäten) und damit die strikten Leitlinien «verletzen», der Grund für den hohen Anteil an (scheinbar) unangemessen behandelten Hypertoniepatienten?
Auch wenn dieses Thema erst in den letzten Jahren von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, so wurde doch schon vor über einem Jahrzehnt untersucht, wie Hausärzte Behandlungsentscheidungen treffen – zum Beispiel, dass Leitlinien mit der eigenen wie auch der kollektiven Erfahrung («Peers») und schliesslich mit der Haltung der Patienten abgeglichen werden: «Mindlines» statt strikte Guidelines [6].

Studienmethodik

Genau dieser Frage, nämlich wie patientenzentriert Hausärztinnen und Hausärzte behandeln, ist das Institut für Hausarzt­medizin der Universität Zürich in einer Studie zur ­Hypertonietherapie nachgegangen. Für diese Studie wurde auf Daten des FIRE-Projektes zurückgegriffen, einer Datenbank für Forschung in der Hausarztmedizin auf der Basis von medizinischen Routinedaten aus elektronischen Krankengeschichten [7]. Basierend auf diesen Daten wurde die Therapie der Hypertoniepatienten aus zwei Perspektiven untersucht. Einerseits aus der Perspektive der bisherigen rigiden ESC/ESH-Leit­linien zur Hypertonietherapie aus dem Jahr 2009 [8] und andrerseits anhand der aktuell gültigen ESC/ESH-Leitlinien zur Hypertonietherapie aus dem Jahr 2013 [9]. Letztere lässt eine Adaptation der Therapie an Risiko­faktoren bzw. Organschäden zu. Damit erlauben die 2013-ESC/ESH-Leitlinien in einem höheren Mass, die individuelle Situation und die Komorbiditäten des Patienten zu berücksichtigen.
Insgesamt konnten aus der oben genannten hausärztlichen Datenbank 22 434 Patienten eingeschlossen ­werden, die zumindest eine der folgenden drei Kriterien erfüllten: BD >140/90 mm Hg, bestehende anti­hypertensive Therapie (nach ATC-Codierung) oder ­Diagnose einer Hypertonie (nach ICPC-2-Code [7]). Ausgeschlossen wurden Patienten, bei denen nur eine Messung oder nur eine Konsultation vorlag, sowie Schwangere oder Patienten unter 18 Jahren. Die eingeschlossenen Patienten waren im Durchschnitt 66,4 Jahre alt (Abb. 1), die Geschlechterverteilung in etwa gleich. Die Patienten hatten im Schnitt 1,8 Antihypertensiva ­sowie 5,9 weitere Medikamente und 5,8 chronische ­Erkrankungen (inklusive Hypertonie).
Abbildung 1: Altersverteilung der 22 434 eingeschlossenen Patienten.

Resultate

Aus der Perspektive der 2009-ESC/ESH-Leitlinien [8], die keine individuelle Risikoadaptation zulassen, sind 23% der Hypertoniepatienten, für die eine Behandlung empfohlen wird, nicht behandelt. Aus der Perspektive der 2013-ESC/ESH-Leitlinien [9], die eine individuelle Risiko­adaptation zulassen, sind 11% der Hypertoniepatienten, für die eine Behandlung empfohlen wird, nicht behandelt (Abb. 2).
Abbildung 2: Nach ESC/ESH Leitlinien 2009 und 2013 trotz Therapieempfehlung nicht behandelte Hypertonie-Patienten.
In Blau alle Teilnehmer der Studie (22 434 = 100%). 
In Grün alle Teilnehmer, für die anhand der 2013 ESC/ESH Leitlinien eine Therapie empfohlen wird. 
In Rot alle Teilnehmer, denen eine Therapie empfohlen wurde, die aber keine medikamentöse Therapie erhalten haben.
Der Perspektivenwechsel von rigiden Leitlinien zu Leitlinien, die eine Adaptation an Risikofaktoren und somit Patientenzentrierung erlauben, verkleinert den Anteil derjenigen Patienten, die unangemessenerweise nicht behandelt werden deutlich.

Interpretation

Diese Studie konnte zeigen, dass Hausärztinnen und Hausärzte patientenzentriert behandeln, und auch bereit sind, von Leitlinien mit allzu forschen oder rigiden Grenzwerten im Interesse ihrer Patienten «begründet» abzuweichen. Wenn Leitlinien näher an der Realität der individuellen Patienten mit ihren Risiken und Komorbiditäten (oder eben deren Abwesenheit) sind, handeln Hausärzte auch konsequenter im Sinne der Leitlinien. Das eine patientenzentrierte Therapie schliesslich mit geringen Kosten verbunden ist, konnte bereits an anderer Stelle gezeigt werden [10].
Die Entwicklung von Leitlinien hin zur Patientenzentrierung, so wie sie von uns Hausärztinnen und Hausärzten bei unseren multimorbiden Patientinnen und Patienten mit ihren Wünschen und Sorgen praktiziert wird, ist interessant und lobenswert. Wir hoffen, dass wir mit dieser Arbeit zu dieser Evolution weiter beitragen können.
Zechmann S, Senn O, Valeri F, Neuner-Jehle S, Rosemann T, Djalali S. The impact of an individualized risk-adjusted approach on the appropriateness of hypertension treatment in primary care. J Clin Hypertension 2017,19:510–18.
Dr. med. Stefan Zechmann, Institut für Hausarzt­medizin,
Universität und Universitätsspital Zürich,
Pestalozzistrasse 24,
CH-8091 Zürich
stefan.zechmann[at]usz.ch
 1 Lugtenberg M, Burgers JS, Clancy C, Westert GP, Schneider EC. Current guidelines have limited applicability to patients with comorbid conditions: a systematic analysis of evidence-based guidelines. PloS one. 2011;6(10):e25987.
 2 Was bedeutet eigentlich «patientenzentrierte Medizin? https://www.rosenfluh.ch/media/congressselection/2012/11/Was_bedeutet_eigentlich_patientenzentrierte_Medizin.pdf Access Date 07 July 2018.
 3 Chow CK, Teo KK, Rangarajan S, et al. Prevalence, awareness, treatment, and control of hypertension in rural and urban communities in high-, middle-, and low-income countries. JAMA. 2013;310(9):959–68.
 4 Joffres M, Falaschetti E, Gillespie C, et al. Hypertension prevalence, awareness, treatment and control in national surveys from England, the USA and Canada, and correlation with stroke and ischaemic heart disease mortality: a cross-sectional study. BMJ open. 2013;3(8):e003423.
 5 Sarganas G, Neuhauser HK. Untreated, Uncontrolled, and Apparent Resistant Hypertension: Results of the German Health Examination Survey 2008-2011. Journal of clinical hypertension ­(Greenwich, Conn). 2016;18(11):1146–54.
 6 Gabbay J, le May A. Evidence based guidelines or collectively constructed “mindlines?” Ethnographic study of knowledge management in primary care. BMJ (Clinical research ed). 2004;329(7473):1013.
 7 Chmiel C, Bhend H, Senn O, Zoller M, Rosemann T. The FIRE project: a milestone for research in primary care in Switzerland. Swiss Med Wkly. 2011;140:w13142.
 8 Mancia G, Laurent S, Agabiti-Rosei E, et al. Reappraisal of European guidelines on hypertension management: a European Society of Hypertension Task Force document. J Hypertens. 2009;27(11):2121–58.
 9 Mancia G, Fagard R, Narkiewicz K, et al. 2013 ESH/ESC guidelines for the management of arterial hypertension: the Task Force for the Management of Arterial Hypertension of the European Society of Hypertension (ESH) and of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J. 2013;34(28):2159–2219.
10 Stewart M, Ryan BL, Bodea C. Is patient-centred care associated with lower diagnostic costs? Healthcare policy = Politiques de sante. 2011;6(4):27–31.