Von grossen und kleinen Lügen
Eine Hilfe, um das Leben besser zu bewältigen?

Von grossen und kleinen Lügen

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Ausgabe
2018/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01811
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(16):287-288

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt in Ziefen BL

Publiziert am 29.08.2018

Um das Leben besser zu bewältigen, mag es für manche Menschen einen Sinn machen, Teile der Biografie «umzuschreiben» und dabei Traumen zu verdrängen, Feigheit zu verneinen, Tapferkeit hochzuspielen, interessant sein zu wollen.

Spätestens seit den Skandalen um Raiffeisen und Postauto wissen wir – was wir eigentlich schon immer wussten und immer wieder verdrängen –, dass die Lüge auch in der braven Schweiz zu den grossen Konstanten gehört. Wir kennen auch den wissenschaftlichen Betrug, der manchmal in Fälschungen, vor allem aber im Weglassen von ungünstigen Resultaten besteht. Und doch schauen wir auf die Länder herab, wo die Korruption wuchert, wo man nichts bekommt, wenn man nicht lügt, wo man im schlimmsten Fall ums Überleben ­lügen muss, wo nur Dummköpfe ehrlich sind. Hochmut sollten wir tunlichst vermeiden. Im Grunde sind wir nicht besser, es geht uns einfach so gut, dass wir wenig lügen müssen. Neben den grossen Lügnern, den Staatschefs, den Diktatoren und Generalen, den ­Finanzmenschen und Spekulanten gibt es uns alle mit unseren kleinen Lebenslügen. Zumindest behauptete das ein gelehrter Mann, oder war es eine weise Frau? Wir sehen unser Leben nicht gerne so unverblümt banal oder so schmerzlich belastet, wie es halt auch sein kann. Um das Leben besser zu bewältigen, mag es für manche Menschen einen Sinn machen, Teile der Biografie «umzuschreiben» und dabei Traumen zu verdrängen, Feigheit zu verneinen, Tapferkeit hochzuspielen, interessant sein zu wollen. So gehen vielleicht viele (oder alle?) Menschen durch die Welt als Konstrukte ihrer selbst.
In der Sprechstunde sind wir uns wohl alle wenig bewusst, dass wir Subjekten gegenübersitzen, im wahrsten Sinn des Wortes. Sie sind nicht objektiv diese Menschen, sie sind das, was sie von sich glauben. Und das ist nicht immer der wahre Befund. Darum gibt es ab und zu Überraschungen, nicht nur böse. Plötzlich zeigt sich eine Facette eines Menschen, die man nie kannte, etwas, das offensichtlich einmal verschüttet wurde. Ein typisches, positives Beispiel ist der Umgang mit ­einer plötzlich auftretenden ernsthaften Krankheit oder mit dem Tod. Hypochonder werden zu gelassenen Menschen, nun haben sie endlich etwas Fassbares. ­Unglückliche Menschen erleben in der Krankheit ein spätes Glück, weil sie eine Befreiung erfahren, plötzlich alles dürfen und nichts mehr müssen. Umgekehrt kollabieren aufgeblasene Menschen zu einem Häufchen Elend. Natürlich waren das alles keine bewussten Lügner, aber was heisst schon bewusst. Auch die grossen Schnorrer und Schmarotzer sind sich ihrer Lüge nie bewusst und behaupten, immer nur das Beste gewollt und die reine Wahrheit verkündet zu haben. Damit kommen wir zu einer wichtigen Unterscheidung im Umgang mit unseren Patienten. Wenn jemand aus Verzweiflung, Not, Scham oder um andere zu schonen lügt, gilt es zu verzeihen. Die vorsätzliche Lüge, mit der man anderen schadet, ist das echte Problem. Dagegen hatte und habe ich kein gutes Rezept und ich werde richtig wütend, wenn ich darauf stosse. Ich habe dabei selten sogar die Regeln des guten Anstandes verletzt, habe den Patienten vor die Türe gestellt und bin einmal prompt beim Ombudsmann gelandet, der mich ­allerdings verstanden hat. Entschuldigen musste ich mich trotzdem, aus juristischen Gründen.
Wenn also Menschen Dir ins Gesicht hinein lügen, was dann? Behandlungsvertrag künden, eine letzte Chance geben? Passiert zum Glück selten. Ich plädiere für eine Auflösung des Behandlungsvertrages, mit der Begründung, dass das gestörte Vertrauensverhältnis eine ­weitere Behandlung verunmögliche, sie sogar problematisch mache, weil Fehler möglich würden, blinde Flecken entstehen könnten.
Ganz aktuell ist die Lügendiskussion natürlich auch wegen der (gesetzlich) angedrohten Bespitzelung von Rentenbezügern, die weit übers Ziel hinausschiesst. Darum stelle ich jetzt die heikle Gegenfrage, wieviel Lügen in den ärztlichen IV-Gutachten enthalten sein könnten? Um dem entsetzten Aufschrei vorzubeugen, spreche ich nicht von vorsätzlicher Lüge, sondern von einer verzerrten Optik des Arztes, der plötzlich nicht mehr im Dienste des Patienten, sondern der Sozial­versicherung arbeitet und alle Gründe zu suchen hat, ­damit der Patient keine Rente erhält. Wie bewusst ist ­dieser Arzt sich seiner Wortwahl, wie sehr steuert er seine Argumentation mit «subtiler Lüge» zugunsten der Versicherung, wie stark steht er unter «politischem» Druck, weniger Renten auszusprechen? Natürlich läuft alles unter der Prämisse «gesetzlich» und «vorschriftsgemäss», aber wir alten Ärztinnen und Ärzte wissen, dass sich die Praxis der Gutachter in den letzten 30 Jahren stark zu ungunsten der Patienten verschoben hat. Wenn schon von Objektivität geredet wird, dann war diese 1990 wesentlich anders als 2018!
Ich habe einen gewagten Sprung versucht vom grossen Skandal über die Lügen der kleinen Leute, dabei die ­Betrüger gestreift und habe mich erfrecht die Frage zu stellen, wieviel Lüge in Gutachten enthalten sein könnte. Vielleicht ist dies unzulässig, aber darüber nachzudenken ist erlaubt. Wie so oft hat ein Buch das Schreiben ausgelöst. Andrè Kaminski (1923–1991) erzählt seine Familiensaga «Nächstes Jahr in Jerusalem» kunst- und humorvoll in der Tradition der grossen jüdischen Erzähler [1]. Seine Lieblinge sind die charmanten Lügner, die alle um den Finger wickeln. Damit geht sein Appell an uns alle, der Lüge mit Aufrichtigkeit und Deutlichkeit aber je nach Situation auch mit Humor und Schalk zu begegnen – immer noch das beste Mittel gegen Verbitterung.
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für ­Allgemein­medizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch
1 André Kaminski, Nächstes Jahr in Jerusalem, Taschenbuch, 392 ­Seiten, Suhrkamp, 25. April 1988.