«Der Tod von Digital Health sind Lücken im System»
Interview mit Prof. Dr. David Schwappach, Patientensicherheit Schweiz

«Der Tod von Digital Health sind Lücken im System»

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2018/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01825
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(17):295-297

Affiliations
Leiterin Kommunikation Patientensicherheit Schweiz

Publiziert am 12.09.2018

Die Digitale Transformation verändert den Berufsalltag und die Arbeitwelt der Gesundheitsarbeitenden grundlegend. David Schwappach, wissenschaftlicher Leiter bei der Stiftung Patientensicherheit Schweiz, erklärt die Risiken und Chancen der technologischen Entwicklung im Gesundheitswesen und äussert sich zu den Vor- und Nachteilen des elektronischen Patientendossiers.

Herr Schwappach, Sie sind wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Patientensicherheit Schweiz. Ziel der nationalen Experten- und Netzwerkorganisation für Fachpersonen und Einrichtungen im Gesundheitswesen ist höchste Qualität und Sicherheit zugunsten der Patientinnen und Patienten. Wie definieren Sie Patientensicherheit?
Patientensicherheit wird traditionell als die Abwesenheit von oder Bemühungen zur Vermeidung von Schädigungen definiert, die durch die medizinische und pflegerische Behandlung bedingt sind. Etwas erweitert gehört das Erkennen, Monitorisieren und Handhaben von Risiken für Patienten dazu.
Wo stehen wir in Bezug auf die Patientensicherheit im europäischen Vergleich?
Die Daten, die uns heute zur Verfügung stehen, zeigen, dass es um die Sicherheit der Patienten in der Schweiz ähnlich steht wie in den umliegenden Ländern. Allerdings könnten wir noch viel mehr tun, weshalb der Bund in seiner Strategie das Thema Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen nachhaltig stärken will.
Warum soll ich als Hausärztin oder Pädiater das elektronische Patientendossier1 einführen?
Weil es eine wesentliche Arbeitshilfe sein kann, um die eigenen Informationen sowie den Informationsaustausch mit anderen Fachleuten und -instanzen in der oftmals komplexen «Versorgungskette» von Patienten in eine systematische und strukturierte Form zu bringen. Im besten Fall agiert der Hausarzt auch als Informationsmanager. Beherrscht er das digitale System, ist
es vermutlich auch für ihn von grossem Nutzen.
Wie ist Ihre Einschätzung der digitalen Patientenakte?
Das elektronische Dossier ist aus Sicht der Patienten­sicherheit grundsätzlich eine grosse Chance. So hilft es zum Beispiel, das wichtige Thema der Medikations­sicherheit in den Griff zu bekommen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Hausarzt hat eine ältere multimorbide Patientin, die zehn unterschiedliche Medikamente erhält. Kein Mensch kann alle möglichen Interaktionen zwischen diesen Arzneimitteln im Kopf behalten. Eine benutzerfreundliche IT-Software kann problemlos aufzeigen, welche Sicherheitsrisiken eine solche Medikation bedeuten kann. Trotzdem braucht es natürlich weiterhin die Fachexpertise des Arztes oder der Ärztin: Denn sie sind in der Regel die Vertrauenspersonen der Patienten, sie gewichten die gesammelten Daten und wägen die Chancen und Risiken ab – das kann kein digitales System leisten.
Wo sehen Sie Probleme bei der digitalen Krankenakte?
Es wäre aus Sicht der Patientensicherheit wünschenswert, wenn sämtliche Leistungserbringer im schweizerischen Gesundheitssystem das elektronische Patientendossier freiwillig einsetzen würden.
Die Papierakte wird über längere Zeit parallel zum digitalen Dossier verlaufen. Das hat eine grosse Unsicherheit zulasten der Patienten und ihrer Sicherheit zur Folge. Ein digitales System ist ein grosser Gewinn, ein schlechtes digitales System mit Datenlücken ein grosses Risiko.
«Ein digitales System ist ein grosser Gewinn, ein schlechtes digitales System mit Datenlücken ein grosses Risiko», sagt David Schwappach, wissenschaftlicher Leiter bei der Stiftung Patientensicherheit Schweiz.
Ein weiteres Defizit entsteht, wenn das digitale Tool nicht benutzerfreundlich ist. Nehmen wir das Beispiel von vorhin: Der betagten Patientin wird ein elftes Medikament verschrieben. Dabei entstehen neue Interaktionen. Diese werden jedoch nicht speziell ausgewiesen im Dossier, sondern automatisch zuunterst auf der bisherigen Liste mit den Interaktionen hinzugefügt. Für den Arzt bedeutet dies, dass er die ganze Liste durchgehen muss, um neue Interaktion zu erkennen – das ist äusserst unpraktisch.
Wir wissen aus einer Studie unter Schweizer Hausärzten und Medizinischen Praxisassistenten (MPA), dass die Themen elektronischer Interaktionen-Check, Medikationsliste und das Management von externen und internen Informationen zentrale Hotspots der Patientensicherheit in diesem Setting sind. Das sagen die Ärztinnen und Ärzte und MPAs selber, sie sind oft besorgt darüber.
Ein weiterer kritischer Punkt bei der Einführung der digitalen Krankenakte ist: Es verändert die Arbeitsweise in der Praxis oder im Spital, und zwar auch kulturell. Wenn ich zur Ärztin gehe, liegt meine Akte nicht mehr auf dem Tisch, sondern die Ärztin sitzt vielleicht hinter dem Bildschirm. Das empfinden manche Patienten als unangenehm und viele Ärzte fühlen sich auch unwohl damit, weil sie dies als Trennung erleben.
Welchen Hürden orten Sie bei der teilweise weit fortgeschrittenen Digitalisierung in den Spitälern?
Oft sind die neuen Arbeitsprozesse und -instrumente noch zu wenig andwenderorientiert. Man gibt zwar die Patientendaten in den Computer ein und handelt gemäss spitalinterner elektronischer Verordnungen. Aber die Mitarbeitenden stöhnen, weil die digitalen Systeme nicht ihre Bedürfnisse abdecken und die Arbeitsprozesse nicht widerspiegeln.
Weshalb ist das so?
Es hapert mit der Kommunikation zwischen dem Spital einerseits und dem externen Software-Entwickler andererseits. Leider haben selbst die grossen Universitätsspitäler oft zu wenig eigene IT-Ressourcen. Da sie zudem meist alleine handeln und nicht im Verbund, können sie zu wenig Druck auf die externen Anbieter ausüben, damit diese benutzergerechte IT-Lösungen entwickeln. Würden sämtliche Spitäler in der Schweiz zusammenspannen, wäre man ein starker Businesspartner. Stattdessen erarbeitet man eigene Lösungen, das schadet der Sicherheit der Patienten.
Der Tod von Digital Health sind Lücken im System. Dem gegenüber sind Schnittstellen im Alltag von Gesundheitsarbeitenden Normalität: Spitäler, Heime oder Haus- und Kinderarztpraxen sind mit vielen verschiedenen Stellen im Kontakt, von der Apotheke über die Fachärztin bis zur Spitex. Es ist nicht einfach, diese vielen ineinander verwobenen Workflows während der Behandlung in einem digitalen Produkt oder einer Dienstleistung abzubilden. Doch die Lösung liegt auf der Hand: Bei der Entwicklung einer elektronischen Arbeitshilfe muss man jene aufsuchen und mit jenen reden, die anschliessend damit arbeiten sollen.
Was unternimmt die Stiftung Patientensicherheit Schweiz, um den Wissenstransfer hinsichtlich digitaler Arbeitsinstrumente zu stärken?
Mit der diesjährigen «Aktionswoche Patientensicherheit» wollen wir den interprofessionellen Austausch fördern, sowie die Öffentlichkeit und damit auch die Patienten und ihre Angehörigen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen sensibilisieren. Im Bereich der Forschung und Entwicklung erfassen wir aktuell Patientensicherheitsprobleme bei der Nutzung von ­Informationstechnologien in der Versorgung von Krebspatienten. Dabei untersuchen wir auch, welche Sicherheitslücken bei der Anwendung von Health Information Technology (HIT) entstehen. Eine Erkenntnis ist: Lücken entstehen nicht durch die Digitalisierung an sich, sondern durch Tools, die ihren Zweck im Berufsalltag von Gesundheitsarbeitenden nicht erfüllen.

Aktionswoche Patientensicherheit

Die «Aktionswoche Patientensicherheit» ist eine Initiative von Patientensicherheit Schweiz. Die diesjährige Aktionswoche dauert vom 17. bis 23. September und wird in Zusammenarbeit mit Spitälern aus der ganzen Schweiz, mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz und der Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen, eHealth Suisse, durchgeführt. Sie rückt die Digitalisierung im Gesundheitswesen anhand des elektronischen Patientendossiers in den Fokus. Weitere Informationen unter www.patientensicherheit.ch/aktionswoche
Was muss geschehen, damit digitale Lösungen die Patientensicherheit stärken oder sogar verbessern?
Es braucht eine viel engere Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten, von der Allgemeinpraktikerin über den Qualitätsmanager im Spital bis zum externen Software-Entwickler. In diese Richtung wird bereits gearbeitet. So hat zum Beispiel die Fachhochschule in Biel ein Living Lab entwickelt, ein Labor, in dem Studierende und Entwickler neue Technologien in einer realitätsnahen Umgebung ausprobieren und verbessern können.
Technisch ist sehr viel möglich. Die Kunst liegt darin, es in die Anforderungen und Prozesse der medizinischen Versorgung zu integrieren. Insgesamt stecken wir in der Schweiz diesbezüglich noch in den Kinderschuhen und das Ganze ist ja auch sehr komplex. Ich bin mir sicher: Im Zusammenspiel des Digitalen mit der direkten, persönlichen Behandlung von Patientinnen und Patienten liegt das Forschungsfeld der Zukunft für eine nachhaltige Patientensicherheit.

Zur Person

Prof. Dr. David Schwappach ist seit 2008 wissenschaftlicher Leiter bei der Stiftung Patientensicherheit Schweiz und Professor für Patientensicherheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern. Er hat in Public Health promoviert und habilitiert.
Sandra Hügli-Jost
Kommunikationsbeauftragte mfe Haus- und ­Kinderärzte Schweiz
Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
sandra.huegli[at]hausaerzteschweiz.ch