Medizin-ethische Richtlinien der SAMW - Teil 3: Palliative Care
Medizin-ethische Richtlinien der SAMW

Medizin-ethische Richtlinien der SAMW - Teil 3: Palliative Care

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Ausgabe
2018/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01832
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(20):368-370

Affiliations
a Stellvertretende Generalsekretärin Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW); b Vizepräsidentin der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der SAMW; c Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel und Mitglied ZEK der SAMW

Publiziert am 24.10.2018

Seit über 40 Jahren erarbeitet und veröffentlicht die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizin-ethische Richtlinien. Die Redaktion von Primary and Hospital Care hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem Jahr in lockerer Folge den Inhalt einzelner SAMW-Richtlinien vorzustellen.

Aus der Praxis: Hoffnung auf vollständige Genesung

Herr Ü.K., 75 Jahre alt, reiste vor 45 Jahren aus Ostanatolien in die Schweiz und war bis zu seiner Pensionierung im Gastgewerbe berufstätig. Seine Ehefrau zog fünf Jahre nach ihm in die Schweiz. Die drei gemein­samen Kinder sind hier geboren und haben alle eine Berufslehre absolviert. Herr Ü.K. spricht recht gut deutsch. Seit drei Jahren leidet er unter einem nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom; eine Operation brachte keine Heilung des Tumorleidens. Mittlerweile sind auch die chemo- und radiotherapeutischen Massnahmen ausgeschöpft. Der Patient leidet unter Husten und bei geringsten Anstrengungen unter Atemnot. Der Hausarzt bespricht mit Herrn Ü.K., welche Massnahmen zur Symptomkontrolle ergriffen werden könnten. Er informiert ihn darüber, was eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes bedeuten kann und fragt, ob der Patient nochmals in ein Spital eingewiesen werden möchte oder eine Betreuung im häuslichen Umfeld vorbereitet werden soll. Der Patient bittet darum, seine Hoffnung auf eine vollständige Genesung nicht zu zerstören, nochmals eine Chemotherapie in die Wege zu leiten und die weiteren anstehenden Entscheidungen mit seinem Sohn zu besprechen. Auch der Sohn wünscht, dass der Hausarzt dem Vater die Hoffnung auf Genesung nicht nimmt – nur so könne dieser die schwierige Situation aushalten.

Was sagen die SAMW-Richtlinien dazu? [2]

«Zur palliativen Behandlung und Betreuung gehört ganz zentral der Aspekt der offenen, adäquaten und einfühlsamen Kommunikation mit dem Patienten und auf dessen Wunsch mit seinen Angehörigen. Eine verständliche und wiederholte, stufenweise Aufklärung versetzt den Patienten in die Lage, realistische ­Erwartungen zu entwickeln und ermöglicht eine eigenständige Willensbildung und Entscheidung. Grundvoraussetzungen dazu sind Empathie und Wahrhaftigkeit gegenüber dem Patienten und die Bereitschaft, Möglichkeiten und Grenzen der kurativen wie der ­palliativen Behandlung offen zu legen.
Manchmal möchte sich ein Patient nicht realistisch mit seiner Krankheit auseinandersetzen. Diese Haltung ist zu respektieren. Sie erlaubt dem Kranken, Hoffnungen zu hegen, die ihm helfen können, eine schwierige Situation besser auszuhalten. Hoffnung hat einen eigenständigen Wert, der palliative Wirkung entfalten kann.
Drücken Angehörige den Wunsch aus, den Kranken vor schlechten Nachrichten zu schonen, oder umgekehrt die Verleugnung der Krankheit durch den Pa­tienten nicht zu berücksichtigen, müssen die Hintergründe für solche Wünsche thematisiert werden. Das Recht des Patienten auf Aufklärung bzw. Nicht-Wissen steht jedoch über den Wünschen der Angehörigen. Die Angehörigen sollen aber im Umgang mit dieser schwierigen Situation unterstützt werden. [...]
Auch wenn in einer bestimmten Situation für alle ­Beteiligten palliative Massnahmen im Vordergrund stehen müssten, kann die Schwierigkeit im Umgang mit der Unvermeidlichkeit von Sterben und Tod behandelnde Ärzte und Patienten dazu verleiten, dennoch eine kaum erfolgversprechende Tumortherapie durchzuführen.
Es besteht dann die Gefahr, dass therapeutischer ­Übereifer zu einer Vernachlässigung der palliativen Aspekte führt. Der wichtigste Teil eines solchen Therapieangebots besteht oft darin, die Hilflosigkeit erträglicher zu machen.»

Ethische Konfliktsituation

Der Hausarzt von Herrn Ü.K. gerät in einem ethischen Konflikt zwischen den allgemein anerkannten Werten und Haltungen «Wahrhaftigkeit» und «nicht Schaden» einerseits und «Respektierung des Patientenwillens» andererseits. Er möchte den möglichen Krankheits­verlauf antizipieren und das weitere Vorgehen offen besprechen können. Gemeinsam mit dem Patienten möchte er analysieren, wie dessen Lebensqualität am besten erhalten und gefördert werden könnte. Vom Patienten selbst und dessen Sohn wird er jedoch aufgefordert, die unrealistische Hoffnung auf vollständige Genesung aufrecht zu erhalten und eine weitere – aus medizinischer Sicht aussichtslose – Chemotherapie durchzuführen. Anstehende Behandlungsentscheide solle er nur mit dem Sohn besprechen. Dass behandelnde Fachpersonen gebeten werden, anstehende Entscheide stellvertretend für einen urteilsfähigen Pa­tienten mit einem Angehörigen zu besprechen, ist nicht selten, und wird unter anderem bei Patienten aus Südeuropa, dem Balkan, der Türkei und arabischen Ländern beobachtet [3].
Immer wieder erwarten schwer kranke Menschen oder deren Angehörige aufgrund religiöser oder kultureller Prägung, dass ein kurativer Behandlungsansatz bis zum Lebensende aufrechterhalten und die Hoffnung auf eine vollständige Genesung nicht aufgegeben wird. Ob eine Behandlung dem Wohl des Patienten dient oder schadet, bemisst sich zum einen an der Erkrankung und deren Prognose, zum anderen an den Vorstellungen des Patienten, unter welchen Bedingungen er am Leben erhalten werden möchte. Situationen, in denen Patienten und/oder Angehörige medizinische Behandlungen verlangen, die aufgrund ihrer Aussichtslosigkeit medizinisch nicht mehr indiziert sind, stellen kommunikativ und zwischenmenschlich eine grosse Herausforderung für das Behandlungs- und Betreuungsteam dar. Aus rechtlicher und ethischer Perspektive besteht kein Anspruch auf die Durchführung medizinisch nicht indizierter Behandlungen. Darüber hinaus dürfen Massnahmen, die dem Patienten Schaden zufügen, nicht ergriffen werden.

Schlussfolgerungen

Grundsätzlich sind urteilsfähige Patientinnen und Patienten – und auf deren Wunsch auch Angehörige – über die Natur ihrer Erkrankung, die Prognose und ­Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären. Eine solche Aufklärung ist notwendig, damit die Betroffenen selbstbestimmte Entscheidungen fällen können. Lehnt ein Patient ein solches Gespräch deutlich ab, muss ­dieser Wunsch respektiert werden. Aus ethischer und rechtlicher Sicht gibt es ein «Recht auf Nicht-Wissen». Dieses ist nachvollziehbar, zum Beispiel wenn der Eindruck besteht, dass ein Patient die Wahrheit über seinen Zustand nicht ertragen kann. Wenn auf Wunsch des Pa­tienten Gespräche über die Prognose einer ernsten Erkrankung und deren Behandlung stellvertretend mit einem Angehörigen geführt werden sollen, muss immer bedacht werden, dass die Wünsche des Patienten Vorrang vor denen der Angehörigen haben. Wichtig ist auch, soweit als möglich, die Motive für Patientenwünsche und -entscheide zu verstehen.
In der vorliegenden Situation sollten Herr Ü.K. und dessen Sohn, der auf Wunsch des Patienten in den Entscheidungsprozess involviert ist, gefragt werden, aus welchen Gründen die Prognose nicht offen angesprochen werden soll. Der behandelnde Arzt darf auch seine Haltung und Werte, an die er als Arzt gebunden ist, klar kommunizieren. Er sollte zum Beispiel mitteilen, dass er eine unwirksame und belastende Chemotherapie nicht als «Hoffnungsträger» anbieten kann, weil er damit dem Patienten körperlich einen Schaden zufügen würde, ohne dass dies vom medizinischen Standpunkt aus zu rechtfertigen wäre. In diesem Spannungsfeld müssen das weitere Vorgehen zwischen Arzt, Patient und Sohn ausgehandelt und Grundregeln für die künftige Behandlung festgelegt werden. Dafür braucht es in der Regel Zeit für mehrere Gespräche und eine ein­fühlsame, offene und klare Kommunikation. Dieses Vorgehen und die Grundregeln sollen dem Pa­tienten mitgeteilt werden [4]. Tragen religiöse oder kulturelle Überzeugungen dazu bei, dass der Patient oder die Angehörigen Mühe haben, den medizinischen Entscheid zu akzeptieren, kann es hilfreich sein, einen Funktionsträger der religiösen Gemeinschaft oder eine Gesundheitsfachperson aus dem Herkunftsland des Patienten mit entsprechender transkultureller Kompetenz zur Unterstützung beizuziehen.
Die Autoren des Textes bedanken sich bei Herrn Dr. med. Roland Kunz, dem Vorsitzenden der Subkommission, die für die Ausarbeitung der entsprechenden SAMW-Richtlinie verantwortlich war, sowie bei den Subkommissionsmitgliedern Frau PD Dr. med. Eva Bergsträsser und Herrn Dr. med. Hans Neuenschwander für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
PD Dr. med. Klaus Bally
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel und Mitglied ZEK der SAMW
Rheinstrasse 26
CH-4410 Liestal
klaus.bally[at]unibas.ch
1 Pfister E. Die Rezeption und Implementierung der SAMW-Richt­linien im medizinischen und pflegerischen Alltag. Schweizerische Ärztezeitung 2010;91:13/14.
2 Palliative Care. Medizin-ethische Richtlinien der SAMW 2006; 2012 der in der Schweiz ab 1.1.2013 gültigen Rechtslage angepasst (Schweizerisches Zivilgesetzbuch; Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht, Art. 360 ff.; Änderung vom 19. Dezember 2008).
3 de Graaff FM, et al. “Palliative care”: a contradiction in terms? A qualitative study of cancer patients with a Turkish or Maroccan background, their relatives and care providers. BMC Palliat Care. 2010;9:19.
4 Hallenbeck JL. Intercultural differences and ­communication at the end of life. Prim Care. 2001;28(2):401–13.