Metamizol / Novaminsulfon
Das Skalpell des Internisten

Metamizol / Novaminsulfon

Lernen
Ausgabe
2018/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01842
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(23):424

Affiliations
a Mitglied der Redaktion; Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital Bern, Harvard Medical School, Boston, MA; b Pharmacie interhospita-lière de la Côte, Morges, Faculté de médecine, Université de Genève; c Klinische Pharmakologie, Inselspital Bern

Publiziert am 05.12.2018

Das Medikament ist für den Internisten das, was dem Chirurgen das Skalpell ist: Ein unabdingbares Instrument zur Behandlung, das ­jedoch einen präzisen Einsatz erfordert.

BezeichnungNovalgin® und Generika: Tabletten 500 mg, Zäpfchen 1 g, Tropfen 0,5 g/ml, Injektionslösung 1 g/2 ml und 2,5 g/5 ml (i.v.; i.m.).
EigAntiphlogistisch durch unselektive Hemmung von COX-1 und 2. Möglicherweise sind andere Wirkmechanismen, etwa die Stimulierung der Cannabinoid-Rezeptoren, an der analgetischen Wirkung beteiligt.
PharmNovaminsulfon ist ein Prodrug, das in einen aktiven, für die Hemmung der Cyclooxygenasen verantwortlichen Metaboliten (4-Methylaminoantipyrin, MAA) umgewandelt wird. Die Halbwertszeit von MAA beträgt 6 h.
IndikSchmerzen und Fieber, die auf andere NSAR schlecht ansprechen.
DosOral: 0,5–1 g 3–4×/Tag (max. 4 g/Tag); rektal: 1 g 3–4×/Tag (max. 4 g/Tag).
AnpasAnpassung bei Niereninsuffizienz: Wenige Daten verfügbar. Dieselben Vorsichtsmassnahmen wie bei anderen NSAR anwenden.
Anpassung bei Leberinsuffizienz: Wenige Daten verfügbar.
KIHypotonie, Bronchospasmus nach Einnahme von NSAR, schwerwiegende unerwünschte Wirkungen nach ­Einnahme von NSAR (gastrointestinale Beschwerden, Niereninsuffizienz).
NWHypotension (i.v.-Gabe: langsame Injektion), Niereninsuffizienz, Agranulozytose. Die absolute Häufigkeit der Agranulozytose ist nicht genau bekannt (1:3000–1:1 000 000). Sie tritt im Allgemeinen innerhalb von sieben ­Tagen auf. Vor allem bei Frauen zu beobachten.
InterNovaminsulfon ist ein Induktor von CYP3A4 und 2B6. Bei gleichzeitiger Behandlung mit Arzneistoffen, die von diesen Enzymen metabolisiert werden, verringert sich möglicherweise deren Wirkung. Beispielsweise wird im Rahmen einer Rivaroxaban-Therapie das Thromboserisiko erhöht (aufgrund der verringerten gerinnungs­hemmenden Wirkung).
Novaminsulfon schwächt den thrombozytenaggregationshemmenden Effekt von Acetylsalicylsäure ab.
Gleichzeitige Behandlung mit Methotrexat (höheres Risiko von Agranulozytose).
AnmDieser Wirkstoff ist in zahlreichen Ländern aufgrund des Agranulozytose-Risikos nicht zugelassen (USA, ­England, Australien, Japan). Seitdem er auf den Markt kam, wurden der WHO bereits über 1400 Fälle gemeldet. ­Novaminsulfon ist weiterhin ein sehr häufig verwendeter Wirkstoff, ungeachtet dessen, dass die Daten zur ­Anwendungssicherheit sehr lückenhaft sind. Es ist nicht erwiesen, dass Novaminsulfon im Hinblick auf den ­Magen-Darm-Trakt, die Nieren und das Herz-Kreislauf-System sicherer als andere NSAR ist.
Kann eine Rotverfärbung des Urins bewirken.
Gastkommentar
Prof. Dr. med. Manuel Haschke, Chefarzt Klinische Pharmakologie, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital Bern
Metamizol ist ein Nichtopioid-Analgetikum, das in der Schweiz zugelassen ist zur Behandlung von starken Schmerzen und hohem Fieber, die auf andere Massnahmen nicht ansprechen. In einigen Teilen der Welt ist Metamizol wegen des Agranulozytose-Risikos nicht zugelassen. In der Schweiz und Deutschland sind die Verbrauchszahlen hingegen stark zunehmend.
Metamizol ist ein effektives Analgetikum mit schwacher anti-inflammatorischer Wirkung. Bei akuten Schmerzen (z.B. postoperativ) ist Metamizol etwa vergleichbar wirksam wie NSAR (nicht-steroidale Antirheumatika) oder schwache Opioide. Bezüglich Nutzen und Risiken von Metamizol bei den häufigen chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates fehlen im Gegensatz zu NSAR aber Studiendaten.
Der genaue Wirkmechanismus von Metamizol ist nicht bekannt. Es werden verschiedene Mechanismen diskutiert, unter anderem eine vermutlich indirekte Hemmung der Cyclooxygenasen (COX). Da unter ­Metamizol kaum klinisch relevante Blutungen beobachtet werden, scheint die COX-1 nur in geringem Mass gehemmt zu werden. Warum die Nierenfunktion im Gegensatz zu NSAR kaum beeinträchtigt wird, bleibt unklar. Experimentelle Daten weisen auf einen relaxierenden Effekt auf die glatte Muskulatur hin, es ist aber nicht klar, in welchem Mass dies bei der Behandlung von Kolikschmerzen relevant ist. Bei zu rascher intravenöser Gabe oder dehydrierten Patienten kann es zu einem gefährlichen Blutdruckabfall kommen, weshalb die orale Gabe zu bevorzugen ist.
Bei kurzfristiger Anwendung (<14 Tage) wurden in klinischen Studien unter Metamizol etwa gleich viele ­unerwünschte Wirkungen registriert wie unter Paracetamol oder NSAR, jedoch deutlich weniger als unter Opioiden. Diese Studien waren aber zu klein, um das Risiko von seltenen, schwerwiegenden Ereignissen wie Agranulozytose, klinisch relevante Gastrointestinal­blutungen oder Todesfälle zu untersuchen. Bezüglich Agranulozytose divergieren die auf epidemiologischen Studien basierenden Schätzungen beachtlich. Die relativ hohen Inzidenzschätzungen aus den schwedischen Studien, die zum Marktrückzug von Metamizol in einigen Ländern geführt haben, konnten in neueren Analysen mit höheren Fallzahlen nicht bestätigt werden. Mit einer geschätzten Inzidenz von etwa einer Agranulozytose pro eine Million ambulanter Tagesbehandlungen dürfte das Risiko sogar tiefer sein als das für schwere gastrointestinale Blutungen oder kardiovaskuläre Komplikationen nach NSAR-Einnahme. Eine Agranulozytose tritt in den meisten Fällen rasch, innerhalb der ersten Behandlungstage oder -wochen auf. Bei den erfassten Fällen traten über 90% der Agranulozytosen innerhalb der ersten zwei Behandlungsmonaten auf, danach sank das Risiko stark ab.
Zusammenfassend ist Metamizol ein Schmerzmittel mit vergleichbarer Wirksamkeit bei akuten Schmerzen wie die NSAR. Im Vergleich zu den NSAR ist das Risiko für eine Nierenfunktionsstörung oder gastrointestinale Komplikationen geringer. Aufgrund der Seltenheit der Agranulozytose sind regelmässige Blutbildkontrollen nicht gerechtfertigt. Patienten müssen aber über Symptome einer Agranulozytose informiert werden. Bei Auftreten von Halsschmerzen oder Schleimhautläsionen im Mund mit oder ohne Fieber muss das Medikament sofort abgesetzt und das Blutbild kontrolliert werden.
Auszug aus dem «Brevimed», ­erschienen 2017 bei Editions Médecine et Hygiène, www.medhyg.ch . 
Nur auf Französisch erhältlich.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Médecine et Hygiène.
Prof. Dr. med. Jacques Donzé
Universitätsklinik für ­Allgemeine
Innere Medizin
Inselspital
CH-3010 Bern
jacques.donze[at]insel.ch