Mehr ist nicht immer ein Plus. Gemeinsam entscheiden.
smarter medicine lanciert eine Informationskampagne für Patientinnen und Patienten

Mehr ist nicht immer ein Plus. Gemeinsam entscheiden.

Offizielle Mitteilungen
Ausgabe
2018/20
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01844
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(20):356-357

Affiliations
Verantwortlicher Administration und Kommunikation der SGAIM

Publiziert am 24.10.2018

Über die Hälfte Bevölkerung in der Schweiz hat das Gefühl, sie selbst oder Personen in ihrem Umfeld hätten schon einmal eine unnötige medizinische Behandlung erhalten.

Der Verein smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland beauftragte das Meinungsforschungsinstitut GfK, eine repräsentative Umfrage zu medizinischer Fehl- und Überversorgung durchzuführen1. Das sind die wichtigsten Resultate:
– 40 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass in der Schweiz in der medizinischen Versorgung zu viel oder das Falsche gemacht wird.
– Über 50 Prozent der Befragten bestätigen, dass sie das Gefühl haben, sie selbst oder Personen in ihrem Umfeld hätten schon einmal eine unnötige Behandlung erhalten.
– Fast die Hälfte der Befragten gibt zudem an, dass sie beim Arztbesuch das Gefühl hatte, nicht alles verstanden zu haben.
Was hilft gegen Über- und Fehlversorgung in der Medizin? Folgende Massnahmen stehen für die Befragten im Vordergrund:
1. Eine Zweitmeinung bei einem anderen Arzt, einer anderen Ärztin einholen.
2. Mehr Zeit für das Gespräch bei der Ärztin, beim Arzt.
3. Bessere Informationen über die Behandlungs- und Diagnosemethoden.
4. Sanktionen gegen Ärztinnen und Ärzte, die aus Kostengründen mehr verschreiben oder therapieren als notwendig wäre.
«Es gibt in der Schweiz eine medizinische Überversorgung, und dies ist den Leuten auch wirklich bewusst», fasste Antoine Casabianca, Vertreter der Konsumenten­organisationen im Vorstand des Vereins smarter medicine die Resultate der Umfrage an der Tagung in Zürich zusammen. Insbesondere, so Casabianca, möchte die Bevölkerung besser und verständlicher informiert werden, um die Entscheidungen der medizinischen Fachleute nachvollziehen und kritisch überprüfen zu können. «Mit der Aufbereitung von glaubwürdigen und nachprüfbaren Informationen entspricht die Kampagne von smarter medicine einem wichtigen Bedürfnis in der Bevölkerung», stellte er fest.
Die Vorstandsmitglieder von smarter medicine lancieren in Zürich eine breit angelegte Informationskampagne für Patient/-innen. Vlnr: Jean-Michel Gaspoz, Brida von ­Castelberg, Bernadette Häfliger Berger, Erika Ziltener, Antoine Casabianca (Foto: Bruno Schmucki/SGAIM)

Gute Verankerung bei Fachgesellschaften und Spitälern

Für Jean-Michel Gaspoz, Präsident von smarter medicine und ehemaliger Chefarzt an den Universitätsspitälern in Genf, ist der Zeitpunkt für die Informationsoffensive bei den Patient/-innen richtig. Denn im vergangenen Jahr sei es gelungen, immer mehr ärztliche Fachgesellschaften für die Publikation von Listen mit unnötigen Behandlungen zu motivieren. «Heute verfügen wir über fast 50 konkrete Empfehlungen von acht Fachgesellschaften, von der Allgemeinen Inneren Medizin bis zu den Radioonkologen, die fachlich und wissenschaftlich fundiert sind. Es zeigt, dass die Ärztinnen und Ärzte sich der Problematik bewusst sind», sagte Gaspoz. Auf der Basis dieser Empfehlungen könne nun die Information und vor allem auch der Dialog mit Patientinnen und Patienten verstärkt werden.
Gaspoz stellte in Aussicht, dass in den kommenden Monaten noch weitere Listen publiziert werden.
Zudem wies er auf eine neue Initiative von verschiedenen Spitälern hin, die unter dem Namen «Smarter ­Hospital» die Implementierung der Empfehlungen im medizinischen Alltag anstreben. «Das ist eine aktive Massnahme, um die Qualität der Behandlung zu verbessern und der Verschwendung von Ressourcen in der Medizin entgegenzuwirken», betonte er.

Umfrage zu smarter medicine

Vielleicht haben Sie selbst Erfahrung mit weiteren diagnostischen oder therapeutischen Interventionen gemacht, die in Ihrer täglichen Praxis relevant sind und die Sie als unangemessen empfinden? Ein Forschungsteam des Instituts für Hausarztmedizin in Zürich möchte den praktizierenden Kolleginnen/Kollegen diesbezüglich «den Puls fühlen» und Empfehlungen direkt von der Basis einholen. 
Sie werden also in den nächsten Wochen Post dazu erhalten. Die SGAIM unterstützt diese kurz gehaltene Umfrage und bittet Sie um Beachtung sowie um rege Teilnahme! Besten Dank.

Informieren und sensibilisieren

Die Empfehlungen der Fachgesellschaften spielen eine zentrale Rolle in der Kampagne von smarter medicine. «Wir wollen aber, dass die Patientinnen und Patienten besser verstehen, was ihnen die Fach-Experten vorschlagen. Und wir wollen, dass medizinische Fachpersonen mit dem Behandelten auf Augenhöhe diskutieren können, welche Diagnose- und Therapiemethode für sie die richtige ist», bemerkte die ehemalige ­Chefärztin Brida von Castelberg, Vizepräsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz und Vorstandsmitglied von smarter medicine. Darum hat der Verein die bestehenden Empfehlungen, die sich an Fachpersonen richten, in eine Sprache übersetzen ­lassen, die auch für medizinische Laien verständlich ist. Alle Empfehlungen sind auf der Plattform www.smartermedicine.ch in Deutsch und Französisch abrufbar.
Brida von Castelberg fügt hinzu: «Die Leute sollen auch merken, dass mehr nicht immer ein Plus, neu nicht immer besser und teurer nicht immer wirkungsvoller ist. Es geht darum, für sich zu bestimmen, wie die eigene Gesundheit und die Lebensqualität am besten erhalten werden kann.» Mit einer Social-Media-Kampagne möchte man die breite Bevölkerung für diese Botschaft sensibilisieren.

Gemeinsam entscheiden

Für Erika Ziltener, Präsidentin des Dachverbandes der Schweizerischen Patientenstellen (DVSP) und Mitglied im Vorstand von smarter medicine, ist das Gespräch zwischen Behandelnden und Behandelten entscheidend. Das Prinzip des «Shared Decision Making» sei ein offener Dialog, der zu einem partizipativen Entscheid führe. «Dabei ist jede Frage an die Ärztin oder den Arzt erlaubt – ja sogar erwünscht. Wichtig ist, dass die Pa­tientinnen und Patienten eine eigene Risiko-Kompetenz erlernen.» Allerdings: «Auch wenn die Entscheidung für oder gegen eine Therapie beziehungsweise eine Abklärung in einem gemeinsamen Gespräch getroffen wird, wird die Verantwortung nicht auf die ­Betroffenen abgeschoben. Die Behandelnden tragen immer die Verantwortung für die Therapie», so Ziltener. Das Informationsangebot von smarter medicine sei eine gute Ergänzung zum Beratungs- und Informationsangebot der Patientenorganisationen und führe dazu, dass die Behandelten mündige und selbstbestimmte Entscheidungen fällen könnten.

«Wie fördern wir eine smarte Medizin in der Schweiz?»

Die öffentliche Tagung des Vereins smarter medicine am 1. Oktober 2018 in Zürich stiess auf ein reges Interesse bei einem interessierten Fachpublikum. Rund 150 Personen verfolgten die Vorträge der verschiedenen Referent/-innen – darunter Thomas Christen (Vizedirektor Bundesamt für Gesundheit), Jürg Schlup (Präsident FMH), Claudia Galli (Präsidentin svbg), Matthias Schwenkglenks (NFP 74) und Wendy Levinson (Vorsitzende von Choosing Wisely Canada). Zudem nutzten die Teilnehmenden auch die Gelegenheit, die Ansätze der Initiative und die Umsetzung der Kampagne im Alltag intensiv und teilweise kontrovers zu diskutieren.
Die Präsentationen können heruntergeladen werden unter www.smartermedicine.ch/tagung2018.
Bruno Schmucki
Kommunikation, SGAIM
Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine ­Innere ­Medizin
Monbijoustrasse 43
Postfach
CH-3001 Bern
bruno.schmucki[at]sgaim.ch