Warum die gesamte Medizin von der Psychosomatik viel lernen kann
Der Arbeitsmodus des reflexiven Vorgehens

Warum die gesamte Medizin von der Psychosomatik viel lernen kann

Reflektieren
Ausgabe
2018/22
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.01858
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(22):408-410

Affiliations
Lehrstuhl für Medizinethik, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Freiburg i. Br., Deutschland

Publiziert am 20.11.2018

Wir leben in einer Zeit der Überformung der medizinischen Rationalität durch eine betriebswirtschaftliche Logik, durch die sich eine vereinfachende Vorstellung von ärztlich-psychotherapeutischer Behandlung etabliert, dergestalt, dass sie immer mehr reduziert wird auf das Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen.

Wir leben in einer Zeit der Überformung der medizinischen Rationalität durch eine betriebswirtschaftliche Logik, durch die sich eine vereinfachende Vorstellung von ärztlich-psychotherapeutischer Behandlung etabliert, dergestalt, dass sie immer mehr reduziert wird auf das Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen. In einer Zeit, in der Wirtschaftsprinzipien die Deutungshoheit über die Ausgestaltung der Medizin übernehmen, etabliert sich eine Denkart, die ihre Normen aus der industriellen Massenproduktion übernimmt und unreflektiert auf die Medizin überträgt. Das ist der Hintergrund, vor dem eine numerische Wirklichkeitskonstruktion stattfindet, innerhalb derer es sukzessive zu einem radikalen Umbau der Legitimationsstrukturen der Medizin kommt, dergestalt, dass nicht soziale Werte, sondern nackte Zahlen als einzige Legitimation ärztlich-psychotherapeutischen Handelns gelten. Nicht die Verwirklichung einer verständigungsorientierten Praxis der Zwischenmenschlichkeit gilt als Rechtfertigung des Handelns, sondern allein die Maximierung der Zahl – und was nicht gezählt werden kann, gilt als wertlos. Das hängt damit zusammen, dass die Ökonomisierung der Medizin unversehens in eine Bürokratisierungsspirale mündet.

Überbürokratisierung als Gefährdung der psychosomatischen Identität

Im durchbürokratisierten System wird die detaillierte Regulierung an die Stelle der tentativen Lösung gesetzt, und das deduktive Ableiten an die Stelle des induktiven Denkens. Die von den Leitungsstrukturen verinnerlichte Wut des Messens geht unweigerlich ­einher mit der Geringschätzung analytischen, hermeneutischen Vorgehens. Man kann aber Vieles in der Medizin nicht einfach messen, sondern nur ermessen. Weil das Ermessen eine intensive Beschäftigung mit dem Inhalt des Gesprochenen erfordert, einen Abwägungsprozess, eine Reflexivität, und auch Erfahrung, hat es etwas Unwägbares, und genau aus diesem Grund gilt es in einem verbürokratisierten System nicht als ­Lösungsweg, sondern als Störvariable. Dass es zu einer solchen nicht-reflexiven Bürokratisierungsspirale kommen konnte, liegt an einem fatalen Gedankenfehler: So hat man aus der richtigen Erkenntnis, dass die Dokumentation des Messbaren etwas Sinnvolles ist, kurzerhand geschlossen, dass alles Sinnvolle auch dokumentierbar sein muss. Dass dies aber einer mechanistischen Verengung des Denkens entspringt, wird einfach übersehen.
Vor diesem beschriebenen Hintergrund aber gerät gerade die Identität der Psychosomatik in die Gefahr, vereinnahmt und umprogrammiert zu werden. Während nämlich Ökonomisierung und Bürokratisierung das Verhalten von Menschen durch strikte Regulierung zu steuern versucht, ist gerade die Psychosomatik in ihrem Kern kommunikativ strukturiert. Ihre möglichen Wirkungen werden über kommunikativen Austausch und Verständigung erzielt und setzen eine Vertrauensbeziehung voraus, die eben nicht ersetzt werden kann durch eine verbürokratisierte Vertragsbeziehung. ­Psychosomatik verwirklicht sich eben nicht durch ein Abarbeiten eines vorgegebenen vertraglichen Solls in Form einer Checkliste, sondern sie kann nicht anders realisiert werden als durch ein Arbeiten in der Begegnung. Psychosomatik verwirklicht sich eben nicht durch das Abheben auf Prozessqualität, sondern vor ­allen Dingen durch das Ermöglichen einer Beziehungsqualität.

Psychosomatik als verständigungs­orientierte Praxis

Die Professionalität in der Psychosomatik besteht eben darin, dass gerade hier nicht primär technisch, sondern vor allen Dingen hermeneutisch gearbeitet wird. Es geht in der Psychosomatik immer um eine diskursive Auslegung, weil das jeweilige Problem, das der Patient* mitbringt, eben nicht ein generalisierbares ­Problem ist, sondern immer ein Problem in einer ganz spezifischen Situation bleiben wird. Deswegen ist in der Psychosomatik die situative Anpassung so entscheidend, ein reflexives Vorgehen so unabdingbar. Ein schematisches Vorgehen ginge nur um den Preis, den Patienten damit zu überfahren, seine eigene Welt zu ­ignorieren, ihn zum Objekt zu erklären, zur technisierbaren Sache. Gerade in der Psychosomatik aber kann es keine erfolgsgarantierenden Programme zur Steuerung therapeutischen Handelns geben, weil das Handeln in der Psychosomatik nicht restlos technisierbar ist; das Handeln in der Psychosomatik obliegt bis zu ­einem gewissen Grad einer strukturellen Nichttechnisierbarkeit. Die Therapie ist nicht technisierbar, weil sie eben unweigerlich mit Interpretation, mit Hypothesenbildung, mit untilgbaren Unbestimmtheitsmomenten und mit situativer Kreativität verbunden ist.

Psychosomatik als nicht-technisierbare Problemlösungskompetenz

Zentrale Aufgabe der Psychosomatik und Kern ihrer Arbeitsweise als Profession ist es, das Problem des Pa­tienten in gewisser Weise so zu definieren, dass sowohl die Betroffenheit des Patienten zur Geltung kommt als auch das abstrakte Wissenssystem der Medizin; die Kunst der Psychosomatik besteht darin, das Problem des Patienten so zu redefinieren, dass der Patient dadurch neue Orientierung erhält, ohne aber sich einem entfremdeten System ausgesetzt zu sehen. Redefinition unter Vermeidung der Entfremdung – das ist die Aufgabe der Psychosomatik. Die Psychosomatik hat also die Herausforderung zu meistern, das Alltags­verständnis des Patienten ernst zu nehmen und es ­zugleich zu übersteigen. Im Grunde greift die Professionalität der Psychosomatik genau dort, wo es um Probleme geht, die gerade nicht einfach formalisiert und einer bloss technischen Lösung zugeführt werden ­können.
Das ökonomisierte System versucht, aus lebenswelt­lichen Problemen technisierbare Probleme zu machen, gerade weil die Technisierung der Probleme die grösste Effizienz verspricht. Die ökonomische Affinität zur Technisierung und Überformalisierung ergibt sich aus dem hohen Effektivitätsgrad der technischen Lösung. Das ökonomisierte System ist also inhärent bestrebt, lebensweltliche Probleme in technische Probleme zu überführen, weil durch den Umweg über die Technisierung eine maximale Steuerung der Problemlösung erreicht werden kann. Die Beachtung des Lebenswelt­lichen erscheint in einem solchen System eher als ein zu minimierender Störfaktor. Und genau gegen diesen Trend muss sich die Psychosomatik zur Wehr setzen, um ihrer eigenen Professionalität treu bleiben zu ­können. Für die Psychosomatik ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass ihre eigentliche Leistung gerade nicht in einer algorithmischen Umsetzung einer vorgegebenen Regel besteht, sondern ihre Leistung ist eine geistige. Um zum richtigen Vollzug zu kommen, muss die Psychosomatik eine gedankliche Synthese leisten, und durch dieses integrative Denken er­möglicht sie eine Lösungsstrategie, die nur induktiv erschlossen und nicht unilinear deduktiv aus dem ­blossen Befund abgeleitet werden kann. Der in der Psychosomatik professionell Handelnde leistet daher nicht weniger als die Erarbeitung einer Idee, wie man das Problem des Patienten lösen kann. Die Idee ist die Leistung, nicht die Ausführung einer Gebrauchsanweisung. Die Bürokratisierung sorgt dafür, dass aus der zentralen Problemlösungskompetenz des Arztes und Therapeuten eine technische Ausführungskompetenz gemacht wird, aus der Komplexität des Patienten ein standardisierter Symptomträger, aus der medizinischen Praxis ein technischer Herstellungsprozess.

Gekonnter Umgang mit Unwägbarkeit als eigentliche Kompetenz

Mit diesen Gedanken soll verdeutlicht werden, dass die Herausforderungen der Psychosomatik nicht restlos routinisierbar sind; die eigentliche Kompetenz des Psychosomatikers kann nicht in Routinen aufgehen. So ist ja die Handlungssituation in der Psychosomatik charakterisiert durch vier Elemente, die sich einer restlosen Formalisierung grundlegend widersetzen:
1. Der Psychosomatiker handelt immer im Kontext ­einer nicht ganz eliminierbaren Restunsicherheit;
2. Der Psychosomatiker handelt immer im Kontext ­einer unvermeidbaren Überkomplexität, weil jeder Einzelfall anders ist und facettenreicher als jede Leitlinie, jede Studie;
3. Der Psychosomatiker handelt meist im Kontext ­einer situativ bedingten Wandelbarkeit der Herausforderung, weil sich Situationen sehr schnell ändern können, und ein Arzt unweigerlich in einer Situation des Übergangs handelt und nie ganz auf sicherem Terrain sich bewegt; er ist eben in einem Krisenberuf tätig, der ihn in Situationen bringt, die man nicht einfach festzurren und ein für allemal determinieren kann;
4. Der Psychosomatiker handelt im Kontext eines immanenten Handlungsdrucks. Er ist oft gezwungen zu handeln, gezwungen zu entscheiden, kann sich schlichtweg nicht aus der Verantwortung herausziehen.
Das sind vier Charakteristika psychosomatischen Arbeitens, die nicht hinlänglich reflektiert worden sind. Denn nur weil zu wenig darüber nachgedacht wird, kommt man auf die Idee, die ärztliche und psycho­therapeutische Tätigkeit so zu organisieren, als sei sie durch eine algorithmische Anwendung von Handlungsrichtlinien zu meistern. Erst wenn man sich diese Charakteristika vor Augen führt, wird deutlich, dass zur Meisterung der erwähnten Herausforderungen ein algorithmisches stromlinienförmiges Abarbeiten von Checklisten nicht die richtige Methode sein kann.

Reflexivität als Grundhaltung der ­Psychosomatik

Statt dem schematischen routinisierten Abarbeiten ist ein anderer Arbeitsmodus unabdingbar, und das ist der Modus des reflexiven Vorgehens. Professionalität erfüllt sich in der Psychosomatik eben nicht durch das Ziehen der richtigen Schublade, sondern durch einen reflektierten Umgang mit Restunsicherheit und Unwägbarkeit, durch einen abwägenden Prozess des ­Sich-Herantastenkönnens. Der Professionelle muss kompetent handeln, und das heisst, er darf sich durch Unsicherheiten nicht lähmen lassen, er darf aber auch nicht in Aktionismus verfallen. Kompetent handeln heisst für den Professionellen, die Fähigkeit erwerben, die situativen Beschränkungen und epistemologischen Defizite als Normalität anzuerkennen und sie durch eine akzeptierende Einstellung umzumünzen in zukunftsgerichtete Hilfe zur Bewältigung. Hilfe zur Bewältigung, das ist letztlich das Ziel psychosomatischen Handelns. Dieses Ziel in einem Arbeitsumfeld nicht aus dem Blick zu verlieren, wo die Quantifizierung um der Quantifizierung willen gepriesen wird, ist nicht einfach, aber es fällt leichter, dieses Ziel im Auge zu ­behalten, wenn man sich klarmacht, dass es eine reduktionistische Vorstellung von Psychosomatik ist, wenn man einer Wirklichkeitskonstruktion aufsitzt, die allein das Numerische als Wahrheit anerkennt.
In einer auf Effizienzsteigerung und totalisierender ­Betriebsamkeit ausgerichteten Medizin werden die Heilberufe systematisch dazu angehalten, den Patienten so früh wie möglich in eine vorgehaltene Schublade zu stecken, um dann so schnell wie möglich das Programm, das für diese Schublade vorgesehen ist, einfach abspulen zu lassen. Stromlinienförmigkeit ist das versteckte Ideal einer industrialisierten Medizin. Das unverwechselbare, weil zu entdeckende Individuum passt nicht in das Konzept einer Medizin als stromlinienförmige Abfertigung.

Schlussfolgerungen

Die gegenwärtige Ära der gesamten Medizin zementiert durch die Übernahme produktionslogischer Denkmuster nicht nur bestimmte Handlungsweisen, sondern bestimmte Wertemuster. Sie begünstigt und fördert Werte wie Stromlinienförmigkeit, Reibungs­losigkeit, Schnelligkeit, Planbarkeit, Vorhersagbarkeit, Messbarkeit, Sichtbarkeit, Eindeutigkeit und Einfachheit. Die Identität der Psychosomatik aber kann innerhalb diese Werte nicht wirklich entfaltet werden, weil die Psychosomatik eigentlich angetreten ist mit dem Anspruch, diese Werte nicht zu ersetzen, aber sie doch zu ergänzen. Um eine angemessene Antwort auf die bedrängenden Fragen des leidenden Menschen zu ­finden, ist man unweigerlich auf beziehungsstabilisierende Werte angewiesen, die da wären: Singularität, Kreativität, Tentativität, Sensibilität, Ambiguitäts­toleranz, Behutsamkeit, Resonanzfähigkeit und Ganzheitlichkeit. Diese Werte sollte sich die Psychosomatik nicht ausreden lassen, sondern sie muss neu für die Wiederbelebung dieser Werte kämpfen. Denn die ­Psychosomatik ist das Ohr der Medizin, und von ihr kann die gesamte Medizin viel lernen, heute mehr denn je.
Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. phil.
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik und
Geschichte der Medizin
Stefan-Meier-Straße 26
D-79104 Freiburg i.Br.
Maio[at]ethik.uni-freiburg.de