Notfälle im Flugzeug
Wie Vorgehen bei einer prekären Situation über den Wolken?

Notfälle im Flugzeug

Lernen
Ausgabe
2018/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.10005
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(23):416-418

Affiliations
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fliegerärztliches Institut FAI, Dübendorf

Publiziert am 05.12.2018

Medizinische Notfälle erfordern stets ein rasches Handeln, eine gute Zusammenarbeit der Hilfskräfte und adäquates medizinisches Material. Solche Situationen sind bereits am Boden eine Herausforderung. Doch wie sieht es aus, wenn es auf über 10 000 m ü. M. zu einem Ernstfall kommt?

Medical Case – aus Sicht der Cabin Crew

Die Cabin Crew, bestehend aus Flight Attendants (FA) und einer/m Maître de Cabine (MC), absolviert jährlich einen Nothelferkurs, bei dem das Vorgehen in ­einem medizinischen Notfall geübt wird und die medizinischen Utensilien an Bord studiert werden.
Im Flugzeug stehen mehrere First Aid Kits, ein AED und ein Notarztkoffer (Doctor’s Kit) zur Verfügung (Abb. 1).
Abbildung 1: Inhalt des Doctor’s Kit der Lufthansa-Flotte [2]. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen ­Lufthansa AG.
Bei einem medizinischen Notfall kümmert sich die ­Cabin Crew um das Wohl des Patienten. Ein FA spricht dabei einen «Medical Case» über das Bord-Telefon aus, sodass auch die Cockpit-Besatzung informiert ist, dass eventuell ein Notfall-Prozedere zum Einsatz kommen wird. In den meisten Fällen handelt es sich um harmlose medizinische Ursachen, wie zum Beispiel leichte Herz-Kreislauf-Störungen, die mittels glukosehaltigem Getränk wieder behoben werden können. Ist ein Passagier bewusstlos, so wird er von den Flugbegleiter/-innen in Seitenlage auf den Boden gelegt. Hier kommt die Schwierigkeit dazu, dass im Flugzeug stets Platzmangel herrscht. Wenn möglich, wird der Patient in die Bordküche – Galley genannt – gelegt, da so die Abschirmung gegenüber den Mitreisenden besser ist und ebenfalls grössere Platzverhältnisse vorherrschen.
Laut dem medizinischen Dienst der Deutschen Lufthansa AG ereignet sich pro 10 000 bis 40 000 Passagiere ein medizinischer Zwischenfall.
In den Jahren 2000–2011 wurden mehr als 20 000 medizinische Notfälle dokumentiert (Abb. 2) [1]:
Abbildung 2: Verteilung der medizinischen Notfälle [1].Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Ärzteblatts.

Medical Case – aus Sicht der Cockpit Crew

Seit dem 11. September 2001 muss die Cockpit-Türe geschlossen bleiben und kann nur unter bestimmten Umständen geöffnet werden. Die Pilot/-innen hören jedoch über das Kommunikationssystem des Flugzeuges die Durchsagen der Cabin Crew und werden so über das Geschehen in der Kabine informiert. In lebens­bedrohlichen Situationen entscheidet der Captain – in Absprache mit einem anwesenden Arzt oder MedAire – ob die Flugroute planmässig fortgeführt werden kann oder ob ein naheliegender Flughafen angesteuert werden muss. Den Piloten steht in solchen Fällen ein Entscheidungsfindungs-Tool, das sogenannte SPORDEC, zur Verfügung. Dieses wird bereits in der Ausbildung gelernt und kommt im Ernstfall zum Tragen:
Situation Catch – Erfassung der Situation;
Prelimenary Actions – Lage prüfen (Wetter, momentaner Spielraum);
Options – zur Verfügung stehende Optionen (Ausweichflughafen vs. Route weiterverfolgen);
Rating – Situation beurteilen (Abwägung des Risikos für gesamtes Flugzeug);
Decision – Entscheidung wird mit den Crewmitgliedern diskutiert;
Execution – Ausführung der vorher getroffenen Entscheidung;
Controlling – Kontrolle der ausgeführten Massnahmen.
Falls ein Ausweichplatz angeflogen werden muss, so wird per Funk ein «Medical Emergency» deklariert, die dem betreffenden Flugzeug auf dem Flughafen Landepriorität gewährt. Über Funk kann zudem ein Medical Assistant angefordert werden, der am Boden den Pa­tienten gleich nach der Landung aus dem Flugzeug holt, weiter medizinisch versorgt und je nach Situation in ein nahegelegenes Krankenhaus bringt.

Arzt an Bord

Bei der SWISS, Lufthansa und Austrian Airlines können sich Ärztinnen und Ärzte einmalig registrieren und von verschiedenen Vorteilen profitieren (s. Infobox). Somit können die Flugbegleiter in einem medizinischen Notfall direkt auf den Arzt zugehen, ohne diesen vorgängig ausrufen zu müssen. Obschon diese Registrations-Möglichkeit bereits bekannt ist, scheuen sich noch viele Ärztinnen und Ärzte davor, sich dem Programm anzuschliessen, aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Die Deutsche Lufthansa schreibt zu diesem Thema auf ihrer Internetseite:
«Die rechtliche Situation für den behandelnden Arzt ist abgesichert: Im Rahmen einer Haftpflichtversicherung, die die Deutsche Lufthansa AG für solche Fälle abgeschlossen hat, sind die Ärzte an Bord gegen eventuelle Regressansprüche des behandelten Fluggastes abgesichert. Vorsatz ist hiervon selbstverständlich ausgenommen. Diese Enthaftung gilt für Ärzte und fachkundige Laienhelfer.» [2]
Bei den meisten Airlines wird der helfenden Ärztin eine solche Enthaftungserklärung des Bordpersonals ausgehändigt, die sie bei der Hilfestellung versichert, ausgenommen sie handelt mit grober Fahrlässigkeit oder unter Vorsatz.
Der Crew und der helfenden medizinischen Fachperson steht bei einem Medical Case im Flugzeug zusätzlich medizinische Hilfe vom Boden zur Verfügung. Zum Beispiel arbeitet die Fluggesellschaft SWISS mit Med­Aire zusammen, bei der die Cabin Crew, der Arzt oder die Pilotin jederzeit über Funk oder Satellitentelefon Hilfe anfordern kann. Die Fachkräfte der MedAire unterstützen beim weiteren medizinischen Vorgehen und liefern Entscheidungsgrundlagen betreffend den möglichen Ausweichflughäfen und Spitälern [3].

Medizinische und andere Zwischenfälle

Nicht nur akute medizinische Notfälle testen die Belastbarkeit der Besatzung im Flugzeug. Alkoholisierte Passagiere werden bereits beim Boarding abgefangen, woraufhin der Captain und die Maître de Cabine informiert werden. Sie entscheiden gemeinsam, nachdem sie mit dem Passagier direkt gesprochen haben, ob sie es verantworten können, ihn mitzunehmen, oder ob er am Abflugort bleiben muss. Verhält sich ein Passagier jedoch erst während des Fluges aggressiv und auffällig, so gestaltet sich die Situation schwieriger. Die Flight Attendants werden darauf geschult, solche Situationen zu deeskalieren. Misslingt dieses Unterfangen jedoch, so bleibt dem Captain noch die Möglichkeit, dem Passagier eine schriftliche Verwarnung zukommen zu lassen. In dieser wird erklärt, dass nach der Landung die Polizei eingeschaltet wird, sollte sich die Lage nicht umgehend beruhigen.
Seit dem Absturz des Germanwings-Fluges wird in der zivilen Luftfahrt der psychischen Gesundheit der ­Pilotinnen und Piloten eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Aus Angst, bei der Konsultierung des Fliegerarztes die Fluglizenz zu verlieren, könnten die Piloten allenfalls vermeiden, fachliche Hilfe zu beanspruchen. Die Schweizer Fluggesellschaften SWISS und Edelweiss sind sich dieser Problematik bewusst und ­haben deshalb zusammen mit der Airline Pilots Association AEROPERS ein Programm ins Leben gerufen. Bei dieser unabhängigen Beratungsstelle erhalten freiwillige Pilotinnen und Piloten eine von Experten begleitete Ausbildung für die vertrauliche Erstbetreuung ­ihrer Kollegen. Eine allfällige weiterführende Therapie wird von Experten übernommen.
Da dieser Beruf sehr anspruchsvoll ist und viel Verantwortung mit sich trägt, wird der Gesundheit der Pilotinnen und Piloten grosse Beachtung geschenkt. Nicht nur der jähr­liche obligatorische Check bei der Fliegerärztin, sondern auch die Tatsache, dass sie sich ohne Begründung krankmelden dürfen, spricht für diese Fürsorge. Aufgrund der Tatsache, dass das Steuern eines Flugzeuges 100-prozentige Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert, wäre es zu gefährlich und verantwortungslos, wenn die Pilotinnen und Piloten trotz Krankheit oder Schlafmangel arbeiten würden.
Für den Fall eines medizinischen Notfalls eines Cockpit-Crewmitglieds während des Fluges, wird jährlich im Flugsimulator-Training geübt, wie das Flugzeug ­alleine gesteuert werden kann. In einer solchen Situation wird in jedem Fall ein Mayday per Funk abgesetzt und der nächstmögliche Flughafen angesteuert.

Kurioses

Bei einem sehr seltenen Ereignis eines Todesfalles im Flugzeug (die Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls liegt bei ca. 1:2 Millionen Passagiere [4]), wird der Flug planmässig fortgeführt und die verstorbene Person in einen Bodybag gelegt. Nur ein an Bord anwesender Arzt darf den Tod eines Passagiers feststellen, wobei der Captain aber in jedem Fall die Koordinaten des Flugzeuges zum Zeitpunkt des Todes aufschreiben muss.
Die Koordinaten müssen auch im Falle einer Geburt (1 pro Jahr, laut der Lufthansa [2]) angegeben werden. Die Bestimmung der Nationalitäten des Neugeborenen ist dann von Fall zu Fall unterschiedlich, wobei in ­jedem Fall die Nationalität der Eltern zum Tragen kommt. Befindet sich das Flugzeug jedoch zum Zeitpunkt der Geburt zum Beispiel über Kanada, so erhält das Baby auch noch den kanadischen Pass. Dies aber nur, da Kanada als ­eines von 190 Ländern Teil des Chicago-Abkommens ist, das den Mitgliederstaaten über ihrem Gebiet die vollständige Lufthoheit gewährt. ­Befindet sich das Flugzeug jedoch über dem Ozean, so kann das Kind unter Umständen die Nationalität des Landes erhalten, in welchem die Fluggesellschaft registriert ist.

Info Box

Registrieren Sie sich unkompliziert und einfach als Ärztin/Arzt bei der SWISS, Lufthansa und Austrian Airlines. So geht’s:
– «Arzt an Bord» Programm → jetzt anmelden
– Sie werden auf die Webseite der Lufthansa weitergeleitet (www.lufthansa.com), auf der Sie auch noch weitere Informationen über das Programm vorfinden.
Fliegerärztliches Institut FAI
Katja Trabold
Wissenschaftliche ­Mitarbeiterin
Bettlistrasse 16
CH-8600 Dübendorf
katja.trabold[at]vtg.admin.ch
1 Graf J, Stüben U, Pump S. In-flight medical emergencies. Dtsch Arztebl Int 2012;109(37):591–602. DOI: 10.3238/arztebl.2012.0591
2 Deutsche Lufthansa AG. Internetseite: https://www.lufthansa.com/de/de/arzt-an-bord. 09.2018. Abgerufen am 3.10.2018.
3 Swiss International Air Lines AG. www.swiss.com. ­Abgerufen am 3.10.2018.
4 Siedenburg J (2010). Kompendium Flug- und Reisemedizin. BOD, Norderstedt.