Reisen bildet... oder?
Den Horizont erweitern

Reisen bildet... oder?

Editorial
Ausgabe
2018/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2018.10006
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(23):413

Affiliations
Präsident mfe

Publiziert am 05.12.2018

Da begab es sich, dass auch zu früheren Zeiten Menschen unterwegs waren. Sicher nicht der einfache Bauer, der musste sein Land bestellen, und der Tag­löhner war froh, wenn er sich und seine Familie ernähren konnte. Die Reichen und Adligen, die aus Gründen des Handels, der kriegerischen Auseinandersetzung und der Eroberung reisten, bildeten einen kleinen Teil der Bevölkerung. Gut, sie nahmen einige einfache Soldaten mit, aber die Schiffe damals hatten nicht Platz für 5000 Passagiere. Und diejenigen, die nur aus purer Lust reisten, wie beispielsweise Goethe, waren schon damals eine Rarität. Aber gerade sie waren es, die dem Reisen einen so hohen Stellenwert zur Erweiterung des Horizonts beimassen.
Schon zu früheren Zeiten waren diese Reisenden Vektoren: Sie haben Verwüstung und Seuchen mitgebracht, Pest und Masern rafften gar viele Menschen hinweg. Damals dauerte es Jahre, bis diese Krankheiten an einem neuen Ort waren. In späteren Zeiten ­genügte ein Flug, um Kontinente zu überbrücken, wie beispielsweise bei der Vogelgrippe. Aber die Reisenden haben nicht nur Krankheiten verbreitet oder nach Hause gebracht, sondern auch Lebensvorstellungen, Umgangsformen und Gebräuche. Das Fremde, das ­Exotische hatte schon immer seinen Reiz. Immer?
Nicht alle Reisenden sind freiwillig unterwegs. Im Moment sind 68 Millionen Menschen als Flüchtlinge gezwungen, ihre Heimat aufzugeben, sind unterwegs, obwohl sie lieber geblieben wären. Unterwegs oder an einem fremden Ort, weil sie um ihr Leben fürchten müssen, oder in ihrem angestammten Leben keine Perspektiven für sich, ihre Familie, ihre Nächsten sehen. Familien und Clans legen zusammen, um Jugendlichen eine Zukunft zu ermöglichen. Vor 150 Jahren waren es Schweizer, die auswandern mussten, die froh waren, dass sie an einem fremden Ort die Möglichkeit erhalten haben, ein neues Leben zu beginnen. Mein ­Urgrossvater war einer dieser Schweizer.
Es gab auch Zeiten, in denen die Schweiz sich geöffnet hat, und Verfolgten aus ganz Europa Schutz bot. Die Schweiz war damals, 1848, der einzige demokratische Bundesstaat in Europa, in dem politische Freiheit und Meinungsfreiheit galt. Wie auch an anderen Orten, die offen waren und sind für Neuerungen, konnten alle profitieren und prosperieren. Diese unfreiwillig Reisenden haben zu einer Bereicherung unserer Gesellschaft beigetragen, wie später auch die Arbeitskräfte, die doch Menschen waren, wie Max Frisch festgestellt hat [1].
Steven Pinker, der umstrittene Philosoph, deutet die heutige Angst vor Veränderungen als Verlustangst ­einer reich gewordenen Gesellschaft [2]. Sicher, die ­Armut konnte in den letzten Jahrzehnten deutlich ­vermindert werden. Aber was hindert uns daran, uns noch weiter zu entwickeln? Eine Gesellschaft, die sich verschliesst und einkapselt, vergibt die Möglichkeit, Visionen umzusetzen. Das gilt auch für Teile unserer Gesellschaft wie beispielsweise die Ärzteschaft. Aber vielleicht liegt es auch daran, wie die vielen Menschen heute reisen, dass der Horizont sich nicht erweitert: in engen Kreuzfahrtkabinen und Flugzeugrümpfen.
Ich wünsche Euch ein offenes, weites, hoffnungsvolles 2019, mit möglichst bildenden Reisen.
Sandra Hügli-Jost
Kommunikations­beauftragte
mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz
Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
sandra.huegli[at]hausaerzteschweiz.ch
1 «Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.» Max Frisch, Vorwort zu dem Buch «Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz» von Alexander J. Seiler, Zürich: EVZ 1965. «Überfremdung I». Max Frisch: Öffentlichkeit als Partner, edition suhrkamp 209 (1967), S. 100.
2 Steven Pinker: «Die Toilette war eine grossartige Erfindung!» NZZ, 15.11.18. https://www.nzz.ch/feuilleton/steven-pinker-die-toilette-war-eine-grossartige-erfindung-ld.1436540.